André Brie, Beitrag zur europäischen Senioren- und Seniorinnenpolitik für die Zeitschrift „Seniorita“, 31. Juli 2003
Eingeschränkter Blickwinkel EU sieht Senioren vor allem als „wirtschaftlichen Problemfall
„Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“, heißt es in Artikel 25 der EU-Grundrechtecharta. Der Passus ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Aber in der politischen Realität der Europäischen Union werden ältere Menschen nach wie vor vor allem als ein demographisches und wirtschaftspolitisches „Problem“ behandelt. Mit der für 2004 geplanten Annahme einer Verfassung für die EU, deren Bestandteil die Grundrechtecharta sein soll, würde die Einbeziehung der Senioren in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens konstitutiven Rang erhalten – ein bislang einzigartiger Vorgang in Europa.
Die EU-Politik für Senioren – wenn man denn überhaupt von einer solchen sprechen kann – ist in sich widersprüchlich und alles andere als kohärent. Seit Jahren weist Brüssel gebetsmühlenartig auf die wachsende Zahl älterer Menschen hin und fordert, sich dieser Entwicklung zu stellen. Bereits heute leben in den EU-Ländern über 70 Millionen Menschen mit einem Alter von 60 und mehr Jahren – etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Schätzungen zufolge wird es im Jahr 2020 allein in Gebiet der bisherigen „EU der 15“ etwa 20 Millionen Menschen über 80 Jahren geben; die Gruppe der über 65jährigen wir um 17 Millionen wachsen. Zugleich nimmt die Altersgruppe der 20 bis 29jährigen um elf Millionen ab. Trotzdem konnten sich die EU-Ländern bisher nicht auf eine gemeinsame, nachhaltige und vor allem umfassende Strategie zugunsten der Senioren einigen. Allerdings wurden auch kaum ernsthafte Versuche dazu unternommen. Und angesichts der jüngsten Entwicklung bei den Sozialsystemen ist dies wohl auch künftig nicht zu erwarten.
Weichenstellung zum Sozialabbau
Ohnehin verfügt Brüssel in Sachen Renten- und Seniorenpolitik nur über eingeschränkte Kompetenzen. Die Gesetze und Regelungen in diesen Bereichen legen die Mitgliedsstaaten auf staatlicher Ebene fest. Subsidiarität heißt das Prinzip im „EU-Sprech“, das hier zur Anwendung kommt und die Entscheidungsfindung auf der jeweils sinnvollsten Ebene gewährleisten soll. Aber obgleich ein direktes „Hineinregieren“ in die nationale Renten- und Seniorenpolitik kaum möglich ist, heißt das noch nicht, dass die EU nicht massiv darauf Einfluss nimmt. Im Gegenteil: Viele der praktischen Schritte, die derzeit gerade zur Aushöhlung staatlicher Rentensysteme unternommen werden, gehen direkt auf politische Vorgaben der EU-Staats- und Regierungschefs zurück.
„Der Europäische Rat fordert die Mitgliedstaaten auf, die Umsetzung weiterer Reformen der Rentensysteme sicherzustellen“, hieß es auf dem EU-Frühjahrsgipfel zur Sozial- und Beschäftigungspolitik erneut. Natürlich war dieser Aufruf mit wohlklingenden Forderungen verbunden: Die Beschäftigungsquote unter Älteren solle erhöht werden, das lebenslange Lernen und die Qualifikation älterer Arbeitnehmer gefördert, die Gesundheitsfürsorge stärker auf die Altersentwicklung der Bevölkerung zugeschnitten und vor allem die Zahlung „angemessener Renten“ sichergestellt werden. Die Realität aber sieht anders aus. Beispiele dafür sind der geplante „Rentenklau“ und die Erhöhung der Lebensarbeitszeit in Österreich und Frankreich. Auch in Deutschland sollen die Rentnerinnen und Rentner mit „Agenda 2010“, mit Steuer- und Gesundheitsreform noch stärker als bislang zur Kasse gebeten werden, während Großverdiener und Unternehmen entlastet werden. Eine Nullrunde bei der Rentenerhöhung 2004, erhöhte Kranken- und Pflegekassenbeiträge würden für einen „Standardrentner“ in Ostdeutschland zu einer Beitragssteigerung von derzeit etwa 83 auf bis zu 149 Euro pro Monat führen, rechnete der Präsident der Volkssolidarität, Prof. Gunnar Winkler, Ende Juni vor.
Falscher Ansatz für Reformen
Ich will nicht falsch verstanden werden: Reformen der Sozial-, und auch der Rentensysteme, sind dringend notwendig. Nicht zuletzt, weil die Altersentwicklung, in erster Linie aber die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, schon sehr bald zum finanziellen Kollaps staatlicher Vorsorge führen könnten. (Nebenbei: Diese Entwicklung kommt ja nicht überraschend und hätte weit früher zum Handeln führen müssen.) Den Rotstift bei Renten und Sozialleistungen anzusetzen, führt aber nicht nur zu weiteren Belastungen der Senioren, zu Armut und Ausgrenzung. Es ist zugleich für die dauerhafte Sicherung der Renten völlig untauglich. Nicht die Beschneidung von Leistungen sichert die Zahlungsfähigkeit der Rentenkassen, sondern die höhere Einzahlungen. Und die leisten bekanntlich die abhängig Beschäftigten.
Die auf dem Lissabonner Gipfeltreffen im März 2000 angenommene EU-Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sieht vor, bis 2010 eine Beschäftigungsquote von 70 Prozent (nach Brüsseler Diktion „Vollbeschäftigung“) in der Gemeinschaft zu erreichen. 20 Millionen neue Arbeitsplätze sollen entstehen, darunter fünf Millionen für ältere Arbeitnehmer. Damit könnte eine Erwerbstätigen von 50 Prozent in dieser Altersgruppe erreicht werden. „Gelingt es, die Ziele von Lissabon zu realisieren und das Beschäftigungswachstum über 2010 hinaus fortzusetzen, dann lässt sich bis 2050 der Anstieg der staatlichen Rentenausgaben (in Prozent des Bruttoinlandsproduktes) um ein Drittel verringern“, konstatierte der EU-Rentenbericht vom März diesen Jahres. Die Fakten jedoch sehen ganz anders aus: Über 14 Millionen Menschen sind derzeit in der Europäischen Union als arbeitslos registriert, die Zahl ändert sich seit Jahren kaum. Und auch bei den älteren Arbeitnehmern liegt die 50-Prozent-Marge in weiter Ferne. Die Beschäftigungsquote beträgt hier gerade einmal 38,5 Prozent. Wen wundert es da, dass die staatlichen Rentenkassen leer sind.
Ebenso blauäugig ist Brüssel auch bei den beiden anderen Säulen der Altersvorsorge. Wenn das Staatsgeld nicht reicht, müssen eben andere Quellen her. Pauschal propagieren die EU-Papiere betriebliche und private Vorsorgeprogramme. Sicher können einige Großunternehmen für ihre Beschäftigten Altersfonds ansparen, was durchaus begrüßenswert ist. Für die vielen kleinen und mittleren Betriebe in wirtschaftlich schwach entwickelten Regionen – und dazu gehören die neuen Bundesländer – ist dies jedoch angesichts der ohnehin dünnen Kapitaldecke illusorisch. Und wer kann schon in wirtschaftlich angespannten Zeiten die Beiträge für private Rentenpolicen aufbringen? Auch die geforderte größere Mobilität von älteren Arbeitnehmern kann sicher nicht erreicht werden, wenn dafür notwendige Voraussetzungen, wie z. B. Sprachkurse, von den öffentlichen Bildungsträgern gestrichen werden.
Mitgestaltung gefragt
Aber so wichtig die sozialen Fragen auch sind – Seniorenpolitik in der EU darf sich nicht allein darauf beschränken. Wenn Europa zusammen wächst, dürfen ältere Menschen davon nicht ausgeschlossen sein, mehr noch, sie müssen und können sich initiativreich einbringen. Mir persönlich sind Beispiele von Vereinen bekannt, in denen Senioren aktiv an Veranstaltungen zu historischen Wurzeln und zur kulturellen Vielfalt Europas mitwirken, die die Nachbarländer im wahrsten Sinne des Wortes erfahren, die sich an Diskussionen über die europäische Zukunft – teilweise sogar mit eigenen Internetseiten – beteiligen. Und hier ist nun einmal Lob für Brüssel angebracht. Schon das „Europäische Jahr der älteren Menschen“ (1993) widmete sich neben den sozialen Aspekten der Begegnung über Ländergrenzen hinweg. Inzwischen hat die EU-Kommission eine Reihe von Programmen und Initiativen ins Leben gerufen, um die Älteren besser in die europäische Integration einzubeziehen und ihnen die Chancen daraus zu erschließen. So wurden erst vor wenigen Wochen Gelder für Projekte zur Verfügung gestellt, die die Mobilität älterer Menschen in Europa fördern. Besondere Unterstützung gibt es dabei für die Entwicklung spezieller Transportmöglichkeiten ebenso wie für die Aneignung von Fremdsprachenkenntnissen. (Einen Überblick über verschiedene EU-Programme bietet der Server der PDS-Gruppe im Europaparlament www.pds-europaservice.de)
Als Seniorin oder Senior aktiv in Europa zu sein heißt, sich einzubringen, für die Rechte der Älteren zu kämpfen. Es heißt aber auch, Europa kennen zu lernen, es sich zu erschließen, auch seine Chancen zu nutzen. Die PDS-Abgeordneten im Europäischen Parlament möchten dabei Partner sein.