Offensive Rüstung? Unmöglich!
Reisenotizen aus dem Irak, 15. bis 20. Januar 2003
15. Januar, auf dem Flug nach Amman
Gemeinsam mit acht anderen Kriegsgegnern aus unterschiedlichen Friedensgruppen fliege ich in den Irak. Morgens war ich noch im Parlament in Strasbourg, kurz nach 14 Uhr starteten wir von Frankfurt nach Amman.
André Brie, Reisenotizen aus dem Irak, 15. bis 20. Januar 2003
15. Januar, auf dem Flug nach Amman
Gemeinsam mit acht anderen Kriegsgegnern aus unterschiedlichen Friedensgruppen fliege ich in den Irak. Morgens war ich noch im Parlament in Strasbourg, kurz nach 14 Uhr starteten wir von Frankfurt nach Amman. Mein Ticket reicht auch nicht weiter bzw. nur von dort zurück nach London und Paris, von wo ich Dienstag Nacht zum Weltsozialforum in Porto Alegre fliegen will. Ich hoffe, dass ich meine Weiterreise in Amman tatsächlich organisieren kann, aber irgendwie schaffe ich das. Mich treibt keine Sympathie mit dem Regime Saddam Husseins. In der neuen Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ (12/02) lese ich gerade in einem Artikel von David Baran „Was also ist die Baath-Partei? Ein riesiges Geflecht aus Überheblichkeit, Heuchelei, Selbstverleugnung und Furcht. Sie hat es geschafft, Millionen von ‚Freiwilligen‘ aufzubieten, um eine Art gekonnte Parodie der Befreiung Palästinas zu inszenieren. Aber es dürfte Mühe haben, unter den 20 Millionen Einwohnern auch nur 10000 Leute zusammenzubringen, die sich der US-Armee wirklich entgegenstellen wollen.“
Lebhaft kann ich mich erinnern, wie 1985 oder 1986, als ich wissenschaftlicher Berater der DDR-Delegation im Genfer Abrüstungsausschuss war, iranische Diplomaten Beweise für irakische Giftgaseinsätze vorlegten. Ich weiß aber auch noch, wie beschämend das Schweigen, die Ignoranz der sowjetischen Delegation, der USA, der DDR, der Bundesrepublik war. Rückblickend und insbesondere im Zusammenhang mit der jetzigen Politik finde ich es noch widerlicher, dass West und Ost den Einsatz der irakischen chemischen Waffen tolerierten, solange es gegen den islamistischen Iran (und später gegen die irakischen Kurdinnen und Kurden) ging. Ich entsinne mich auch noch unserer Diskussionen um das für uns unbegreifliche Schweigen der SED-Führung, als Hussein die Führung der irakischen KP hinrichten ließ, zum Teil im irakischen Fernsehen übertragen. Aber ich hatte schon in den 80er Jahren erfahren, dass die Geschäfte mit dem reichen Irak für die DDR-Führung wichtiger waren. In der Flugzeugwerft Dresden wurden sowohl irakische als auch iranische MIGs überholt. Dass Krupp im Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten verdient hatte, stand in unseren Schulbüchern als Parabel auf das menschenverachtende Wesen der Profitgesellschaft. Dass die DDR genauso agierte, war längst ein offenes Geheimnis. Solange man im Irak gut verdienen konnte und er seine Rolle in der westlichen und östlichen Strategie spielte, hat die Diktatur die Verantwortlichen in Washington und Moskau nicht gestört. Sie haben sie im Gegenteil unterstützt und aufgerüstet. Hussein ist wesentlich ein Produkt westlicher Politik und in nicht weniger Hinsicht ihr getreues Spiegelbild.
Ein Krieg jedoch gegen den Irak (und es wird ja in Wirklichkeit ein Krieg gegen die Menschen sein) ist durch nichts gerechtfertigt. Er muss verhindert werden. Diese Reise wird für Außenstehende ein Ausdruck von Hilflosigkeit sein. Ich kann mich dieses Gefühls selbst nicht ganz erwehren. Ich will etwas tun, ich will authentischer urteilen können. In der gestrigen Ausgabe der „Financial Times Deutschland“ hat mir der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok (CDU), vorgeworfen, meine Reise diene propagandistischen Zwecken. Attacken aus dieser Richtung sind normal und hoffentlich verdient, über die Art und Weise bin ich aber noch immer aufgebracht. Zum einen habe ich im Europäischen Parlament nie ein Hehl aus meiner Ablehnung des irakischen Regimes gemacht, das auch in parlamentarischen Anträgen und Reden ausgedrückt, zum anderen ist es meine dutzendfache Erfahrung, dass eigenes Sehen, Erleben, Hören vor Ort unerlässlich ist, um genauer urteilen zu können. Vor allem aber möchte ich nicht auf die offiziellen Standpunkte angewiesen sein, egal ob aus dem Irak oder aus Washington, auch nicht auf die abstrakten Berichte, ich möchte mit Betroffenen reden, mit Hilfsorganisationen, mit „einfachen“ Menschen. Hans von Sponeck hat mir dabei besonders und auf eine wunderbare, warmherzige Weise geholfen. Ob das aufgeht, weiß ich nicht. Ich habe Gott sei Dank eine Reihe von Namen und Telefonnummern mit, aber anders als (wahrscheinlich) Brok jemals agieren würde, möchte ich mir einen Blick von innen und unten verschaffen. Mein Bild und mein Einschätzungsvermögen werden auch danach noch oberflächlich sein, aber erstens wird mir das dabei auch bewusst werden, zweitens aber werden sie hundertmal genauer und zuverlässiger sein als zuvor. Das habe ich in Israel, Palästina, in Bolivien, in den Slums von Johannesburg, im Kosovo, Bosnien-Herzegowina oder in China immer wieder erlebt. Es ist die Gunst meiner Arbeit im EP, dass ich solche Möglichkeiten habe. Allerdings in einer Hinsicht gebe ich Brok Recht: Propaganda gegen das Embargo und gegen den Krieg, gegen die Verlogenheit der US-Politik und gegen das Versagen der EU will ich gern unterstützen. Die Wahrheit, das Völkerrecht, die UNO, weniger aggressive und offensive Sicherheitskonzepte sind schon lange vor dem ersten Bombenabwurf zerbombt worden.
Bagdad, 17. Januar vor dem Frühstück
Übernachtet haben wir am Mittwoch in Amman. Der Flug nach Bagdad ging gestern erst um 16 Uhr. So blieb Zeit für einen kurzen Trip in die 35 km vom Flugplatz entfernte Stadt. Es regnete zunächst. Ein Segen für dieses karge, meist so trockene Land. Der rotbraune Boden ist steinig. Kiefern, Zypressen, Eukalyptusbäume, einige Palmen in Höfen und Hügel aus Kalkstein prägen die Landschaft entlang der Straße. Immer wieder ist dem Boden ein kleiner Acker abgerungen. Ansonsten ist diese Gegend völlig zersiedelt. Offensichtlich ist es möglich, an jede geeignete Stelle ein Haus zu setzen. Amman ist gesichtslos und hässlich. Daran ändern nun auch die Palmen nichts, auch nicht die Sonne, die inzwischen scheint. Aber es ist schön, am alten römischen Amphitheater in einem Café (bei arabischem Tee – schwarzer Tee mit frischen Pfefferminzblättern) zu sitzen und den grauen deutschen Winter zu vergessen. Auch die Ruinen aus der Römerzeit und aus frühislamischen Reichen geben Amman kein Flair. Aber der Gesichtslosigkeit einer modernen arabischen Stadt stehen die ausdrucksvollen Gesichter der Menschen gegenüber. Viele Männer und Frauen in traditioneller Kleidung, einige Frauen auch völlig verschleiert, so dass nicht einmal ein Sehschlitz erkennbar ist und ich mich frage, wie sie überhaupt etwas erkennen können. Aber die meisten haben das Gesicht frei. Das Marktleben in den Gassen ist lärmend, bunt, betörend in den Farben, Tönen und Gerüchen, so lebendig, dass die triste Umgebung dahinter verschwindet. Übertönt wird alles gelegentlich von den plärrenden Lautsprechern der Moscheen, über die die Geistlichen zum Gebet rufen.
Der Flug nach Bagdad war problemlos, obwohl das Embargo gegen den Irak auch alle Flugverbindungen umfasst. Die Royal Jordanian verschweigt diese Linie allerdings auch in ihrem Bordjournal. Die Abfertigung, die Grenz-, Zoll- und Sicherheitskontrollen sind chaotisch und nervend, aber ebenso oberflächlich. Das Gleiche dann in Bagdad, obwohl auf dem Flughafen seit 1991 kaum noch Maschinen ankommen. Ein Unterschied, auf den ich jedoch vorbereitet war, wirft ein Schlaglicht auf die Situation des Irak. Vertrauend auf meinen Diplomatenpass hatte ich meine Reisetasche für die Medikamente zur Verfügung gestellt, die wir für ein Kinderkrankenhaus in Basra ins Land bringen wollten – am Embargo und am irakischen Zoll gleichermaßen vorbei. Zusätzlich hatte ich einer Ärztin angeboten, auch ihren Koffer voller Medikamente durchzubringen. Es gibt ja nicht nur dieses furchtbare Embargo der UNO, dem auch viele Arzneimittel unterliegen, sondern auch das Regime, das mit der Kontrolle über die verbleibenden Mittel seine Herrschaft organisiert, abgesehen von der Korruptheit der Zöllner und Grenzpolizisten. Genau die bekam ich nun zu spüren. Ich hielt meinen Diplomatenpass demonstrativ in der Hand, hoffend, dass der Zöllner sich davon beeindrucken ließe. Aber das war nicht der Fall. Er kontrollierte flüchtig meine Reisetasche. Die Medikamente entdeckte er nicht, nahm sich dann aber den Koffer vor, in dem nichts anderes als Arzneimittel waren. Ich blieb nach außen so cool, dass mich meine Mitreisenden bewunderten (wie sie mir später erzählten), innerlich sah es anders aus. Zum Schmuggeln bin ich eigentlich nicht geeignet. Ich überlegte schon fieberhaft, was ich sagen sollte. Da stellten sich drei Uniformierte eng um mich, einer flüsterte etwas. Ich verstand nicht sofort, was er wollte. Er wurde drängender: „Backschisch, backschisch money, do you have backschisch money?“ Ja, das hatte ich, das hatte ich sogar griffbereit in der Hosentasche. Ich holte zwanzig Dollar heraus, die drei stellten sich noch dichter an mich, so dass niemand zusehen konnte und griffen zufrieden nach dem Geld. Meine Zufriedenheit, mit dem Koffer unkontrolliert passieren zu können, war mindestens genauso groß. Das Regime ist korrupt, teilweise zwingt es seine schlecht bezahlten Staatsdiener faktisch dazu und lässt sie in den meisten Fällen gewähren. Aber es dürfte auch klar sein, dass eine solche Staatsmacht keinen wirklichen Widerstand leisten wird, wenn der Umsturz von außen oder innen kommt. Innerhalb einer so totalen Organisation der Macht sind es die unübersehbaren Zeichen der Auflösung. Uns kam es zugute.
17. Januar, nachmittags
Wir sitzen im Fanafal-Hotel und warten auf Menschen aus internationalen Hilfsorganisationen, um von ihren Erfahrungen zu hören. Inzwischen unterhalten wir uns mit Karin Leukefeld, einer deutschen Journalistin, die uns einen beträchtlichen Erfahrungsvorsprung voraus hat. Ich bestelle mir „irakischen Tee“, der sich als ein kleines Glas mit sehr starkem schwarzen Tee und einer großen Portion Zucker erweist. Für den nächsten Morgen habe ich mir eine Fahrt „mit“ den UN-Inspektoren organisiert, das heißt die halsbrecherische Jagd mit einem gemieteten Auto und Fahrer, dem Inspektorenteam hinterher. Karin rät mir zu, obwohl es auch sehr langweilig werden könne und niemand vorher wisse, wohin es gehen werde. Ich weiß das aus Fernsehberichten, aber eigenes Erleben, das habe ich auch heute wieder so intensiv erfahren, ist nicht ersetzbar.
Der Tag heute war interessant, obwohl wir von unseren exzessiven Programmwünschen noch nichts realisieren konnten. Der irakische Betreuer ist offenkundig kaum interessiert bzw. angewiesen, uns aktiv zu unterstützen. Aber eigene Organisation ist letztlich selbst hier im Irak, in einem Land, das wir so wenig kennen, möglich. So sind wir in die Altstadt, heute ist Freitag, also Feiertag, aber die Märkte und Basare sind offen und voller Trubel. Kaum vorstellbar, dass es an Werktagen noch mehr sein soll. Ich mag das Gedränge, wenn ich Zeit habe und selbst nichts anderes als sehen und hören will. An diesem wie an jedem Freitag sind hier Hunderte Stände und Auslagen direkt auf der Straße mit Büchern und Zeitschriften und Tausende Menschen gucken, lesen, wühlen, kaufen. Die arabischen Titel kann ich nicht lesen, aber es liegt alles mögliche dazwischen auf Russisch, Tschechisch, Englisch, Französisch, Deutsch. „Der Wirtschaftsraum Düsseldorf“, „Management 1, 2, 3“, technische und andere Literatur. Ein Iraker spricht mich an, stellt sich als Universitätsprofessor vor. Er ist Chemiker und seit 1991 von der internationalen Diskussion und den aktuellen Publikationen abgeschnitten. Hier finde er gelegentlich ein geschmuggeltes Buch, eine Fachzeitschrift oder Kopien davon. Aus Deutschland, wiederholt er meine Antwort auf die Frage, woher ich komme, das ist gut. Deutschland habe eine positive Haltung in der Irakfrage. Mein Anliegen, mit der Reise etwas gegen den Krieg und die Sanktionen zu bewirken, findet er gut, aber illusorisch.
Das war das Schöne, Wichtige an diesen Stunden auf Bagdader Straßen: Gespräche mit Menschen, die neugierig auf den Europäer zukamen, an den Teeständen, in den Imbissstuben, im Al Mutandi Café. Ein Student, 2. Studienjahr, auch Chemie, der bis zu seinem 3. Lebensjahr in Deutschland aufgewachsen war, erzählte in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch , dass er seine Jahresarbeit zweimal an die Universität Bonn geschickt habe. Eine Antwort bekam er nicht; seine Hoffnung, in Deutschland weiter studieren zu können, dürfte unrealisierbar sein. Ein Filmstudent nannte unseren Besuch sympathisch und sinnlos. der Krieg sei schlimm, aber man könne ihn nicht verhindern. Unsere Zuversicht (haben wir die überhaupt?) sei dumm, unser Engagement würde nichts ändern. Karin Leukefeld erzählt Ähnliches. Die meisten Menschen seien durchaus informiert über die Kriegsvorbereitungen. Sie würden sich aber passiv einrichten. Man könne nur in den eigenen Häusern und Wohnungen bleiben und hoffen, dass die Bombardierung keine Wohnviertel treffe.
An einer Straßenecke bot mir ein Händler Tee an. Bezahlen durfte ich nicht. Auf Arabisch fragte er mich nach meinem Land. Alemanya stimmte ihn sichtlich zufrieden. Was er über „Iraq-Alemanya“ sagte, konnte ich nicht verstehen. Ein Mann, den ich kurz darauf fotografierte, sagte mir, er sei selbst Fotograf und Zeichner. Was ich denn tue? Europäisches Parlament. Deutsches Parlament? Nein, europäisches. Das kannte er nicht, welch Wunder…
Egal, wo und wen ich fotografierte, auch Frauen, niemand sträubte sich, sie freuten sich sogar, versuchten zu fragen und zu erzählen, und wenn ich ihnen das digitale Foto auf dem Display zeigte, waren sie begeistert und vor allem stolz. Am meisten die Kinder, die dann sofort ein Dutzend Freunde heranriefen, die ebenfalls fotografiert werden wollten, werden mussten. In der Moschee entrissen mir drei süße, bunt gekleidete Mädchen, vier oder fünf Jahre alt, die Kamera, um das Bild ihren Müttern zu zeigen. Und die waren wohl noch stolzer. Als ich auf dem Markt vor der Moschee einen Jungen mit seinen Schafen ablichtete, musste ich auf Wunsch der ganzen Familie das patriarchale Oberhaupt fotografieren, als er sich betont gelassen in Positur warf und unbedingt auch den größten Hammel seiner Herde mit aufs Bild haben wollte. Glücklicher- (oder digitaler-)weise werde ich ja alle Fotos, die ich nicht benötige oder die nicht gut geworden sind, löschen können.
Mehrfach musste ich an Broks Äußerung in der Financial Times denken (obwohl ich weiß, dass ich die Arroganz dieses Mannes ignorieren sollte). Nichts davon, was ich an diesem Tag bereits erlebt habe, wird er je erleben. Er macht Politik aus dem Sessel eines Diplomaten und Parlamentariers, aus Büros und vorbereitet von Mitarbeiterstäben und Sekretariaten. Irakerinnen und Iraker in schmutzigen, stinkenden, überlaufenen Gassen, Gespräche mit den „Objekten“ der Politik wird er nicht haben, und nicht den Geschmack einer warmen Falafel kennenlernen, die der Wirt einer Imbissstube dem Europäer schenkt, oder eines auf der Straße gereichten Tees, das wunderbar offene Lachen der Jungen und Mädchen, ihre schönen tiefbraunen oder schwarzen Augen. Viele von ihnen betteln, selbstbewusst und gewitzt, wie es das Betteln wohl lehren kann. Andere verkaufen Fladen, Kuchen, Obst. Im Bericht einer anderen Friedensgruppe habe ich gelesen, dass einer der Teilnehmer nach zwei Tagen sechs Bettler gezählt hatte. Ich wurde in meiner ersten Stunde auf Bagdader Straßen von mindestens 15 bettelnden Frauen und Kindern angesprochen. Ich war in den meisten Fällen nicht fähig, Nein zu sagen, und schämte mich, wenn ich so tat, als würde ich die Bitten nicht bemerken. Es tut weh, am meisten die Hilflosigkeit und das Gefühl, auch durch Hilfe und Geld an der Demütigung von Menschen beteiligt zu sein.
Was kann ich über Bagdad festhalten? Der Tigris fließt grau durch die Stadt. Ich habe in Entwicklungsländern schon wesentlich schmutzigere Flüsse gesehen. An einer Brücke angelte ein Mann sogar aus dem Papyrusgras am Ufer heraus. Die Stadt ist in weiten Teilen langweilig, vor allem dort, wo sie von den Repräsentationsbauten der Regierung bestimmt ist. Einzelne Gebäude sind architektonisch aber durchaus bemerkenswert. Viel Schmutz und Unrat liegt in den Straßen. Man sagt uns, dass es aber größere Probleme gebe zur Zeit. Die Gebäude der osmanischen Verwaltung aus dem 19. Jahrhundert sind verfallen.
Schön und beeindruckend ist die alte Al-Qademaiyn-Moschee. An diesem Freitag ist sie voll von Menschen. In den Höfen sitzen die Familien, essen, trinken, spielen mit den Kindern. Händler verkaufen die süßen Kuchen, Fladen und Wasser, aber viele Familien haben sich alles mitgebracht und auf den Tüchern am Boden ausgebreitet. Wir sehen auch eine islamische Universität aus dem 13. Jahrhundert mit einem weiten Innenhof, über den das Minarett einer anderen Moschee ragt, mit wunderschönen Spitzbögen und Ornamenten. Mir fällt auf, dass die Häuser in Jordanien (ebenso wie in Israel und Palästina) aus Kalkstein, hier im Lehmland zwischen Tigris und Euphrat, dem Altertum in der islamischen Frühzeit und ebenso heute aus Ziegeln gebaut sind. Die vielen Palmen machen die Stadt (für meinen sicherlich ungeübten Blick) noch südlicher als sie ohnehin liegt. Die Sonne scheint den ganzen heutigen Tag von einem wolkenlosen Himmel. Morgens war es noch frisch, vielleicht 10 Grad, am frühen Nachmittag frühlingshafte 20. Dann wurde es wieder kühl.
Man sieht der Stadt das Embargo an, obwohl Bagdad – verglichen mit dem Süden des Landes – noch relativ gut dran sein soll. Auch in den Villenvierteln ist 12 Jahre kaum renoviert oder neu gebaut worden. Die Autos auf den Straßen sind zahlreich, aber zum größten Teil in erbärmlichem Zustand. Der Mittelstand wird wohl die größten Verluste haben. Die Armen und Ärmsten jedoch haben vom Wenigen noch weniger. Chlor steht auf der Embargoliste, da es Ausgangspunkt für C-Waffen sein kann. Die Wasseraufbereitung ist ohne Chlor zu einem der schlimmsten Probleme für Millionen Menschen geworden, mit entsetzlichen gesundheitlichen Auswirkungen. Krankheiten und Kindersterblichkeit haben enorm zugenommen. Krebskranken kann nicht geholfen werden und Nitroglycerin-Tabletten, die für die Soforthilfe bei Angina Pectoris notwendig sind, stehen auf der Embargoliste. Nach WHO-Angaben haben die Sanktionen bislang 1,5 Millionen Kindern das Leben gekostet. Bleistifte stehen wegen des Grafits, das man angeblich für die Kernwaffenproduktion benötigt, ebenfalls auf der Verbotsliste. Im Basar sind sie zu haben, alte Bestände oder geschmuggelt, aber viele Familien können sie sich nicht leisten, wie vieles andere nicht. Es gibt fast alles in den Geschäften, die modernsten und luxuriösesten Dinge ausgenommen, die aber auch zu haben sein sollen. Doch die meisten Menschen sind verarmt. Der Irak war einmal relativ wohlhabend, hatte ein vergleichsweise gut entwickeltes und soziales Gesundheits- und Bildungssystem. Davon ist im vergangenen Jahrzehnt viel zerstört worden. Ein schwedischer Mitarbeiter in der Hilfsorganisation sagte mir gestern Abend, es sei eine Schande und ein Verbrechen, was der Westen dem irakischen Volk angetan habe.
In der gestrigen Nacht, wenige Stunden nach unserer Ankunft, wurden wir auch zu einer Demonstration von einigen hundert Menschen zum Jahrestag des Bombardements von 1991 gebeten. Sie begann um Mitternacht, also genau zu Beginn jenes Tages vor 12 Jahren. Neben irakischen Jugendlichen, die von einem Mann mit Megaphon und einem Dutzend Verantwortlichen eher mühevoll zum Demonstrationszug organisiert wurden, gingen Friedensinitiativen aus Belgien, Italien, Japan, den USA und Deutschland mit. Ich hatte dennoch ein unangenehmes Gefühl. Natürlich wurden wir vereinnahmt. Aber das ist ein Problem, jedoch nicht das primäre. Die Ablehnung des Krieges und des Embargos ist mir so wichtig, dass ich das in Kauf nehme. Ich will mich gegen den Krieg, gegen die Sanktionen äußern, ich will, dass Menschen im Irak erfahren, dass viele in Europa und in den USA diese Politik ablehnen. Niemand von uns kann viel tun, aber niemand kann nichts tun. Viele der jungen Demonstranten, es waren ausschließlich Männer, waren viel spontaner als es die Offiziellen tolerieren wollten. Sie wollten zu uns Ausländern kommen, reden, fragen, Zigaretten schlauchen, gemeinsam mit uns singen oder mit uns fotografiert werden. Immer wieder wurden sie barsch zurückbefohlen, aber immer wieder kamen sie zu uns. Als ein Japaner zur Gitarre sang, waren die jungen Iraker kaum noch zu halten. Umso gröber wurden sie in unserer Gegenwart über Megaphon angefahren. Ich verstehe kein Wort Arabisch, doch ich verstand jedes Wort. Die kollektiven Rufe gegen Bush und Sharon waren verbal aggressiv („Bush – Sharon – Mörder!“), soweit ich mitbekam, wurden vor dem UNDP-Quartier auch eine US- und eine Israel-Fahne verbrannt. Aber die Demonstranten waren eher fröhlich oder gleichgültig. Von Hass oder Zorn war wenig zu spüren. Wir Deutschen versuchten, zum Teil von den Demonstranten aufgegriffen, eine kulturvollere Losung entgegenzusetzen: „No war, peace now!“ Später zerrte ein Polizeioffizier einen Jungen aus der Demonstration und zwang ihn brutal in den Polizeiwagen. Eine auf Englisch gestellte Frage, warum, beantwortete er arabisch und ignorierte mich dann. Vor wenigen Wochen hat die Regierung ein Wahlergebnis für Saddam Hussein von 100 Prozent bekannt gegeben. Der Anspruch des Regimes, das Land, die Menschen zu kontrollieren, mag total sein. Die Realität, die ich in den ersten Stunden im Irak erlebe, deutet jedoch darauf hin, dass dieser Anspruch längst nicht mehr durchgesetzt werden kann, außer als Resignation, Gleichgültigkeit, korrumpierte Teilnahme.
17. 1., abends halb zehn
Wieder im Hotel. Der Tag hat mich doch ein wenig geschlaucht. Bagdad wirkt friedlich. Nichts ist vom Militär zu sehen, selbst Uniformen und Polizei habe ich fast überall auf der Welt häufiger erblickt. Das Leben scheint so normal zu sein. Die Menschen haben sich nach 12 Jahren selbst mit den Folgen der Blockade eingerichtet – materiell mit zum Teil furchtbaren Konsequenzen, aber wenig davon ist auf den Straßen sichtbar. Was habe ich gedacht vorher? Ich habe selbst im palästinensischen Jenin im letzten Sommer volle Geschäfte gesehen, unmittelbar nach Abzug der israelischen Armee. Nein, ich hatte mir bewusst vorher nichts ausgemalt von einem Land und einer Situation, die ich gar nicht kennen konnte. Doch das Ausmaß der Friedlichkeit, der Normalität, der Fröhlichkeit, Offenheit der Menschen überrascht und verwirrt mich. Mich treibt – die ohne Frage reale – die Dramatik der politischen Entwicklung, eines nahen und extrem bedrohlichen Krieges, aber die am meisten Betroffenen haben sich damit offensichtlich nicht nur abgefunden, sondern leben damit. Mit Not, mit Gewöhnung, mit Lachen, mit Familienglück. Das ist menschlich, und es ändert nichts daran, diesen Krieg verhindern, das Embargo (außer für Waffen) beenden zu müssen. Im Gegenteil: Einen Tag dieses Straßenleben beobachtet, zwei Dutzend Menschen getroffen und gesprochen, diese zauberhaften Kindergesichter gesehen zu haben in dieser armen Normalität, mich stachelt es noch mehr an. So ist mir heute Abend zumute. Früh will ich den Inspektoren hinterher. Hoffentlich klappt alles.
18. 1., 6.30, Frühstück im Hotel
Es ist noch dunkel und ziemlich kühl. Der Tag kann lang werden. Niemand weiß, wohin die Inspektion heute gehen wird. Ob es sich lohnt, mitzufahren, ist natürlich auch unklar, außer immer wieder in einer Hinsicht: Eigenes Erleben ist unersetzbar.
Kurz nach halb neun
Ab 7 Uhr habe ich mit einer irischen Journalistin vor dem UNMOVIC-Quartier gewartet. Wir sind beide unerfahren in dem Spiel, das uns heute bevorsteht. Wir sind die Ersten und bis halb acht auch die Einzigen. Dann kommt ein ganzer Tross von Kamerateams und Journalisten, kurz vor 8 auch ein Bus mit Anti-UNMOVIC-Demonstranten. Die Inspektoren starten erst kurz vor halb neun. Die Jagd beginnt. Die Inspektoren jagen ihr uns unbekanntes Ziel. Unbekannt, was Ort, Einrichtung, Produktion, Forschung oder Lagerung betrifft, ansonsten durchaus bekannt: Einen Kriegsgrund zu finden oder zu fabrizieren bzw. auch, ihn auszuräumen. UNMOVIC ist Instrument für krass entgegengesetzte Ambitionen. Die Journalisten jagen die Inspektoren, jeder jagt um den besten Platz. Wir mittendrin. Zum ersten Mal erlebe ich ein Autorennen, noch dazu mitten im normalen und ziemlich dichten Fahrzeugverkehr, und zum ersten Mal bin ich selbst Teilnehmer. Unser Fahrer hält gut mit. BBC haben wir schon mehrmals überholt. Aber die sind hartnäckig. Hupen tönen fast unentwegt, Fahrer rasen, lenken, bremsen halsbrecherisch, aber sie haben dabei noch die Fähigkeit, gestikulierend zu fluchen. Viele PKW- und LKW-Fahrer, die wir wild überholen, wissen gar nicht, welches Rennen da läuft. Sie müssen uns für verrückt halten. Die Fahrt geht zurzeit nach Süden. Die Vororte Bagdads sind trist, graubraun, öde, schmutzig. Die Palmen ändern es nicht. Unser Fahrer hat ein vergleichsweise gut erhaltenes Auto. Das macht seinen Job gegen die verrosteten, verbeulten, halb ausgeschlachteten Kisten einiger anderer nicht leicht. Es ist immerhin ein Pulk von vielleicht einem halben hundert Autos, der der UNMOVIC-Kolonne hinterher rast.
Nun geht es westlich über schmale Straßen vorbei an einer Militäreinrichtung, Eukalyptusbäumen, kleinen Gemüsefeldern, ärmlichen, von Lehmmauern umgebenen Bauernhöfen, winzigen Moscheen, Dattelgärten, kleinen Herden von Schafen, Ziegen, gelegentlich ein paar Kühen, dann einer Neubausiedlung zur Linken, rechts eine Herde zottiger brauner Schafe. Der Boden ist fruchtbar, unter Folie wächst das neue Gemüse heran, Kohl steht noch erntebereit. Die Straße ist fünf Meter breit, der Konvoi hat sich etwas beruhigt, überholen ist jetzt fast nicht möglich, wir fahren in zwei Reihen, als ob es eine Einbahnstraße wäre, auf der niemand entgegenkommen könnte. Aber es gibt Gegenverkehr, erstaunlicherweise passiert nichts. Das Land ist flach bis zum Horizont. Bewässerungskanäle ziehen sich schnurgerade durch die Felder. Der Himmel ist bedeckt heute. Es sind Frauen und Kinder, die Kühe auf die Weide treiben.
9.30 Uhr
Nach weiteren 30 Minuten wieder eine militärisch bewachte Einrichtung. Das ist das Ziel. Wir erfahren: Ein Rüstungsunternehmen, das Sprengstoff, Bomben und andere Waffen produziert. Es ist die 13. Inspektion. Ein weitläufiges Gelände. Vom Eingangstor aus ist nicht viel zu sehen, ein paar flache Gebäude, ein halbfertiger Bunker, einige Baracken. Ein Händler ist uns hinterher gerast, er bietet den Journalisten Nüsse, Schokolade, Saft an. Aber sie sind selbst gut gerüstet, haben gleich nach der Ankunft ihre Thermoskannen und Frühstückspakete ausgepackt. Vom Tor aus ist von UNMOVIC nichts zu sehen. Soweit ich es beurteilen kann, könnte hier während der Inspektion jeder passieren, auch LKWs mit Ladung. Nur die irakische Wache kontrolliert die Papiere. Ich will nicht auf uneffektive Kontrollen schließen. Mir scheint eher, dass nach 12 Jahren Embargo, nach den Zerstörungen von 1991 und 1998 und den intensiven Inspektionen die Möglichkeiten des Irak ohnehin gering sind, bedeutsame Rüstungen geheim zu halten oder überhaupt.
Ich gehe zu dem Händler, möchte ihm eine Tüte Erdnüsse abkaufen. Er weigert sich, Geld zu nehmen. Wieder frage ich mich, was diese Geste mir gegenüber, einem Europäer gegenüber bedeutet. Denn eigentlich müsste in diesem armen Land doch jeder froh über einen noch so geringen Verdienst sein. Ich werte es als Geste zugunsten der europäischen Journalisten, in die Hoffnung gesetzt wird, mit ihren Berichten den Krieg abzuwenden. Dann werde ich in die Wache eingeladen, Tee trinken. Ich rede mit dem irakischen Pressebegleiter über das Europäische Parlament und die Haltung Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens zum Krieg. Er ist gut informiert, urteilt genau und differenziert. Er fragt mich, ob ich glaube, dass der Krieg kommen werde. Ich sage, dass die USA ihn unbedingt wollten, aber die Chancen, ihn zu verhindern, gestiegen seien, auch durch die irakische Kooperation mit der UNO und mit UNMOVIC. Er antwortet mir, die Chancen stünden 50 zu 50. Er ist der erste Optimist, den ich getroffen habe.
14 Uhr
Nun warten wir schon mehr als 4 Stunden. Die Inspektoren sind immer noch auf dem Gelände. Dass sie ihre Aufgabe nicht ernst nehmen, wird man – es ist die 13. Inspektion allein hier – wohl nicht behaupten können. Dieses Unternehmen muss wohl besonders wichtig sein. Gern hätte ich etwas von ihrer Arbeit mitbekommen, um die Effektivität und die Art und Weise der Kontrollen besser beurteilen zu können, aber UNMOVIC lehnt jede Begleitung ab. So unterhalte ich mich mit jedem vor dem Tor, der Englisch kann (leider wenige) und leide mit den Kameraleuten und Journalisten, die warten und sich langweilen müssen. Jetzt eben kommt Bewegung unter die Kameraleute, aber die UNMOVIC-Wagenkolonne lässt sich immer noch nicht sehen. Der junge Mann, der mir die Erdnüsse geschenkt hat, versucht mit mir über Fußball und Bernd Stange zu reden, aber wir verstehen uns nicht. Statt dessen bekomme ich noch einen Waffelriegel geschenkt und darf diesmal wenigstens seinem Freund eine Zigarette geben. Einer der Kameraleute, er ist aus Ägypten, trägt ein Schild „No war on Irak“. Zeit gewinnen, sagt er, die einzige Chance. Mit jedem Monat werde es für die USA schwieriger, den Krieg zu rechtfertigen und zu führen. Nun ist es gleich halb drei. Der Schichtwechsel in der Fabrik ist in vollem Gange. Hunderte Frauen und Männer verlassen das Gelände, Hunderte andere kommen. Es ist kühl heute, nur 10 Grad, schätze ich, ganz anders als gestern. Ich bin froh, mich mal in meinem Taxi aufwärmen zu können. Ich frage mich, ob sich der ganze Aufwand dieser Irak-Reise lohnt. Aber ich weiß jetzt schon viel mehr als zuvor, vor allem ich weiß es anders, mit authentischen Bildern und Stimmen, mit größerer Genauigkeit und aus einer ganz anderen Perspektive, nicht der von außen.
14.45 Uhr
UNMOVIC hat das Gelände verlassen. Wir dürfen in das Unternehmen hinein. Ein Verantwortlicher des Konzerns erzählt noch einmal, dass das die 13. Kontrolle war, diesmal mit 32 Inspektoren, 12 Fahrzeugen. Alle Teile des Unternehmens seien kontrolliert worden, alle Lager, die gesamte Produktion, sechs Proben entnommen. Teilweise habe sich UNMOVIC provokativ verhalten, sei mit Tempo 140 über die schmalen und schlechten Straßen des Geländes gejagt. Die Qaqa-Company produziere Sprengstoff und Geschosse. Wir fahren etwa 2 Kilometer. Links und rechts ist salzige Wüste, auf der wenig wächst. Wir sehen eine stinkende Produktionsstätte, aus deren Schornsteinen gelber und schwarzer Rauch steigt. Riesige Flächen sind 1991 und 1998 bombardiert und dem Erdboden gleich gemacht worden. An einem Lager mit leeren Bomben und verschrotteten Raketen halten und fotografieren wir. Hunderte Geschosse, Raketenteile, viele Chemikalien sind hier gelagert. Hauptsächlich für Sprengstoffe und Zünder. Kilometerweit ziehen sich zerstörte und einige intakte Bunker. Ansonsten: Trümmer, Trümmer, Trümmer – so darf Abrüstung nicht aussehen.
Viertel vier, Rückfahrt
Zurück fahren wir gemächlicher. Auf der morgendlichen Jagd hatte ich nur einen flüchtigen Blick für die Landschaft gehabt. Jetzt sehe ich, dass viele Böden salzig und wüst sind, dazwischen aber grüne Felder und Palmen. Wie wir uns Bagdad nähern, werden die Bauernhöfe weniger elend, teilweise sogar etwas wohlhabender, aber dafür liegt auch noch mehr Müll an den Straßen. Vorbei geht es an einem Kraftwerk, zwei der Schornsteine rauchen. 1991 war es ebenfalls zerstört worden. Falls es zum Krieg kommt, wird es wohl sofort wieder bombardiert werden, obwohl keine Armee der Welt, aber jede Zivilbevölkerung auf Kraftwerke angewiesen ist.
17.20 Uhr
Es gibt keine Pause. Ich schließe mich einem Treffen mit care International an. Die Telefonnummer hatte mir Hans von Sponeck gegeben: Margaret Hassan…
19. Januar, 10 Uhr, Basra, Kinderkrankenhaus
Wir sind früh morgens aus dem verregneten Bagdad abgeflogen. Hier in Basra scheint die Sonne warm. Vom Flugplatz ging es durch die Sand- und Salzwüste, vorbei an 50 oder mehr zerschossenen Panzern und SPWs, in der Ferne Ölfelder und eine Raffinerie. Eine zerbombte Brücke hat man wohl demonstrativ in ihrem zerstörten Zustand gelassen, die Autobahn links daran vorbei über eine neue geführt. Basra ist eine ärmliche Stadt. Die meisten Häuser im traditionellen Stil sind von einer Mauer aus Lehm oder aus Ziegeln umgeben, ein, zwei Stock hoch, gelegentlich dreistöckige, primitive und entsetzlich hässliche Plattenbauten, viele Nebenstraßen unbefestigt und voller Unrat. Die zahllosen Saddam Hussein-Bilder, die auch in Bagdad häufiger zu sehen sind als Mao-Bilder im China des Personenkults, sind auch hier der Umgebung anpasst: Saddam trägt das Palästinensertuch auf dem Kopf und eine Sonnenbrille vor den Augen. Ein andermal die Kleidung der Nomaden.
Das Kinderkrankenhaus hat 340 Betten, je zur Hälfte ungefähr für schwer erkrankte Kinder und für Geburtserkrankungen. Es wird auch für die Ausbildung von Schwestern genutzt. Dr. Abd Al Kareem H. Subber, Chefarzt, erzählt uns, dass die Versorgung mit Medikamenten besser geworden sei, aber immer noch knapp, vor allem nicht planbar, so dass oft innerhalb der Behandlung die Medikamentierung geändert werden müsse, zum Beispiel und sehr problematisch bei Antibiotika. Die komplexe Medikamentierung bei Krebsbehandlung sei in fast keinem einzigen Fall möglich. Moderne Arzneien seien ohnehin nicht erhältlich, und die Ergebnisse moderner medizinischer Forschung, einschließlich von Fachzeitschriften und Büchern, unterlägen dem Embargo und seien ihm und seinen Kollegen in den meisten Fällen auch nicht bekannt. Alle Geräte in der Klinik sind veraltet. Nach 1991, als Folge des Einsatzes von abgereicherter Uranmunition und der Umweltkatastrophen des Krieges sind die Krebserkrankungen in Südirak auf das Drei- bis Fünffache gestiegen und treten vor allem im frühen Lebensalter, oft schon bei 25jährigen, auf. Am schlimmsten sei die Zunahme bei Kindern. Strahlenbehandlung bei Krebskranken ist nur noch in Bagdad möglich. Die Mortalität von Babys vor, bei Geburt und in den ersten Tagen ist in diesem Krankenhaus heute dreimal so hoch wie vor 1991. Der Chefarzt zeigt uns auf unsere Bitte hin Fotoalben mit Dutzenden schwersterkrankten und schwerstmissgebildeten Kindern. Der Anblick ist unerträglich, das Ausmaß ist schrecklich. Angelika, die selbst Ärztin ist, meint, dass solche Missbildungen absolut ungewöhnlich seien. Man mag vielleicht Zweifel haben, ob abgereichertes Uran in den Antipanzerwaffen der US-Truppen die Ursache ist, aber dass diese enormen Häufungen nicht untersucht werden, das WHO, UNO, andere internationale Organisationen sich weigern, auch nur zur Kenntnis zu nehmen, ist in meinem Augen ein eigenes Verbrechen. Viele Frauen, so höre ich, in dieser Region wollen nicht mehr schwanger werden, weil sie Angst haben.
Wir besichtigen das Krankenhaus. Es wirkt freundlich und vergleichsweise sauber. Viele Männer und Frauen warten mit ihren Kindern auf die Behandlung. Schwangere kommen mit der ganzen Familie. Dr. Abd Al Kareem weist uns auf ein Mädchen hin, das uns mit ihrer Mutter entgegenkommt. 9 Jahre, Leukämie. Die Blutdaten auf dem Krankenblatt sind erschreckend: 10.000 Blutblättchen statt der üblichen 150.000 bis 200.000. Medikamente und Blutkonserven für die Behandlung sind Mangelware. 5 Meter weiter fragt er auf dem Gang einen Vater, was dessen Tochter fehlte. Leukämie. Die Kleine ist 6 Jahre alt, an diesem Tag diagnostiziert worden. Die Familie wohnt 60 km nördlich von Basra in einem ländlichen Gebiet, in dem es 1991 heftige Bombardierungen und Kämpfe gegeben hat, erzählt der Vater. Überall würden die Reste von Geschossen liegen. Uns sagt er, wir sollten alles tun, damit es keinen neuen Krieg gibt. In einem Krankenzimmer sehen wir zwei Kinder mit Herzmissbildungen in einem Bett. Die notwendigen Herzoperationen sind in Basra nicht möglich, nur in Bagdad. Früher war die Behandlung kostenlos, jetzt müssen die Familien die Medikamente und Operationen bezahlen. In einem anderen Krankenzimmer sprechen wir mit vier Frauen, deren Kinder hier liegen. Sie sagen uns für unseren Besuch „Schükram“, danke. Wir fühlen uns hilflos. Fünf Schwestern kommen herein, erzählen, allein heute seien drei Kinder mit Leukämiediagnose eingeliefert worden. An einem einzigen Tag. Wir fragen nach. Eine Ärztin antwortet, dass sie vor dem Krieg in zwei Jahren einen einzigen Fall erlebt habe. Eine voll verschleierte Frau in einem anderen Zimmer, auch ihre Hände stecken in schwarzen Handschuhen, sagt nach unserer Vorstellung: „Wir sind müde. Wir haben keine Medikamente.“ In diesem Zimmer treffe ich das stille leukämiekranke Mädchen wieder, das ich 20 Minuten zuvor fotografiert und das sich so still über ihr digitales Bild gefreut hatte. Mehr als 10 Prozent der aufgenommenen Kinder in diesem Krankenhaus haben Krebs, 6 davon Leukämie. Das dürfte es in keinem anderen Krankenhaus der Welt geben. Der Chefarzt sagt uns zum Schluss, als wir ihm für die Führung danken: „Danken Sie nicht. Don’t thank, see the problem. Am meisten brauchen wir Ihre ehrlichen Gefühle. Und wir benötigen Medikamente, Geräte, Fachzeitschriften, aktuelle medizinische und pharmazeutische Bücher.“
Wir fahren durchs alte Basra. Die Sonne blendet, die Palmen und die Straßenhändler könnten an Urlaub denken lassen. Wir werden die Erschütterung nicht los. Mir sitzt ein riesiger Kloß tief im Hals. Angelika und Gabriele weinen. Die meisten Kinder in diesem Krankenhaus könnten geheilt werden, die Krebsrate ist beispiellos, nur durch die giftigen Folgen des Krieges erklärbar, vielleicht durch die Radioaktivität, bestimmt durch das komplexe Zusammentreffen der Gifte. Die Mütter sitzen neben ihren sterbenden Kindern und sind so freundlich, so offen zu uns. Man kann es nicht aushalten. Die Kinder freuen sich über ein kleines Plastetier oder das digitale Foto, das sie nicht einmal behalten können. Wieder denke ich an das 9jährige Kind mit der Leukämie. Als wir schon auf dem Korridor standen, flirtete sie durch die Tür. Seine Mutter machte sich darüber freundlich lustig und wies die anderen Frauen lachend auf ihre verlegene Tochter hin. Angelika sagt, jeder normal denkende Mensch würde die Situation in Basra, im Kampfgebiet des Südens untersuchen. Aber Politik denkt nicht normal. Nicht menschlich. Elmar Brok, fahren Sie in dieses Krankenhaus. Nehmen Sie sich Zeit für die Mütter, Kinder, Ärzte, Schwestern. Vielleicht machen Sie dann weniger kalte Politik. Ich nehme mir vor, das letzte Mal an Broks Interview gedacht zu haben.
Halbeins auf der Fahrt an den Shat al arab
Es geht in das Delta des Shat al arab zu einem Wasserwerk. Wir fahren durch Bauern- und Fischerdörfer, überqueren zahlreiche Flussarme und Kanäle. Palmengärten und Höfe mit hohen Lehmmauern huschen vorbei. Gelegentlich kniet ein Betender am Straßenrand oder auf einem Stück Gras.
Die Wasseraufbereitungsanlage liegt direkt am Shat al arab. Sie ist mit Hilfe amerikanischer Organisationen, vor allem „Life“ und „Veterans for peace“ erneuert worden. Das Chlorgas, sehen wir, kommt aus China: „Changzhou Chemical Plant 1000 kg Chlorine Poison Gas“. Viel zu sehen gibt es nicht, bis aus einen Garten zehn neugierige Kinder kommen, sofort mit uns spielen, jedes englische oder deutsche Wort nachplappern: Peace, Frieden, Auf Wiedersehen. Als Marla ihnen eine Kusshand zuwirft, sind sie nicht mehr zu halten, hundert Kusshände kommen zurück. Natürlich muss ich auch zum Fluss. Ein paar hundert Meter entfernt liegen einige Frachter und Tanker und werden entladen. Häfen, Schiffe, ein paar Kräne reichen aus, damit mich die Sehnsucht nach dem Meer packt. Aber der Golf ist noch 20 oder 30 km entfernt.
14.30 Uhr Wir treffen uns mit Eva-Maria Hobiger
Hobiger, eine österreichische Krebsspezialistin, baut in Basra ein Blutzentrum, vor allem für Krebspatienten, auf. Zuvor hatten wir eine Stunde frei und sind mit einem ohrenbetäubend knatternden Boot einige Kilometer den Shat al arab hinauf und wieder hinunter gefahren. Am rechten Ufer, an dem Basra liegt, reihten sich einige kleine Werften und Docks aneinander, jenseits waren nur Palmen zu sehen. Auf dem Fluss warfen Fischer ihre Netze aus, der Wind pfiff uns sehr frisch ins Gesicht, die Sonne versuchte es wieder gut zu machen.
Hobigers Projekt, das vom österreichischen Roten Kreuz und der katholischen Kirche Wien unterstützt und finanziert wird, war lange vom Sanktionsausschuss der UNO blockiert. Nach Monaten erlaubte man ihr endlich, das Meiste ins Land zu bringen, das Meiste (Möbel, Matratzen), nicht das Wichtigste. Die Einfuhr der sieben entscheiden Geräte, darunter zwei Blutzentrifugen, ein Blutplasmagefrierschrank, ein Kühlschrank für Blutkonserven, zwei Seperatoren zur Blutkonservenherstellung, blieb verboten. Im Oktober 2002 erhielt sie die Auskunft, dass auf Forderung der USA keine Genehmigung erteilt wurde. Ein Mitarbeiter der österreichischen Hilfsorganisation reiste extra nach New York und berichtete von der unvorstellbaren Situation, den leukämiekranken Kindern in Basra, der Häufung anderer Krebserkrankungen. Der US-amerikanische Vertreter Andrew Hillmann im Sanktionsausschuss, so Eva-Maria Hobiger, hatte nur eine Antwort: „Ich rede mit Ihnen nicht über leukämiekranke Kinder, sondern nur über Saddam Hussein.“ Hobiger brachte die Geräte daraufhin unter bewusster Verletzung des Embargos selbst ins Land, und sie ließ auch nicht zu, dass der irakische Zoll sie beschlagnahmte. Sechs Stunden saß sie im Zollamt und erklärte den hilflosen Beamten: „Ich gehe hier nicht ohne meine Lieferung weg.“ Während sie erzählt, sind ihre entwaffnende Energie und ihr Durchsetzungsvermögen auch für uns erlebbar. Die Bürokratie und Misstrauen nehmen im Irak immer mehr zu. Niemand sei mehr bereit, ohne die höchsten Vorgesetzten irgend etwas zu entscheiden. Der Direktor eines Krankenhauses nahm ihr die dringend benötigten Medikamente nicht ab, die sie ihm gebracht hatte – das müsse der Minister entscheiden: „Die Angst lähmt die Menschen.“
Neben den Krebserkrankungen sind die vielen Fälle von Kalah Azar am bedrückendsten. 20 neue Erkrankungen seien in der Vorwoche im Kinderkrankenhaus von Basra diagnostiziert worden. Aber die Ärzte können die Kinder nur nach Hause schicken und sterben lassen. 15 Dollar würde die Behandlung kosten. Jede Erkrankung ist tödlich, wenn sie nicht therapiert wird, jede ist heilbar, wenn die Medikamente genommen werden. Kalah Azar ist eine Parasitenkrankheit, die vor 1991 weitgehend unter Kontrolle war, aber mit der Armut zurückgekehrt ist. Das Medikament Pentussan steht auf der Embargoliste. 130 Packungen, mit denen 500 Kinder geheilt werden können, sind bezahlt, würden aber von London nicht ausgeliefert. Österreich hatte eine Exportgenehmigung erteilt, aber die britischen Behörden verweisen auf den Sanktionsausschuss in New York. Begründet werden alle diese Verbote mit der angeblichen doppelten Verwendbarkeit – militärisch und zivil („dual use“). Ich frage Eva-Maria Hobiger, worin die militärische Bedeutung von Pentussan bestehe. „Das dürfen Sie mich nicht fragen.“ Ob sie eine juristische Verfolgung erwarte, nachdem sie sich öffentlich zum Embargobruch bekannt habe? „Ja, es ist ein offener und bewusster Bruch des Embargos. Ich muss durchaus mit einer Anzeige rechnen, aber ich glaube, dass ich vom menschlichen Standpunkt die Verpflichtung gehabt habe, gegen die Sanktionen zu verstoßen. Und dass ich gestern erlebt habe, wie die erste Zentrifuge in Betrieb genommen wurde, hat alle Mühe gelohnt.“
Dem kann ich nichts hinzufügen. Wer immer kann, sollte diesen Bruch eines unmenschlichen, eines verbrecherischen Embargos unterstützen. Ein Spendenkonto für die Behandlung von Kalah Azar und die Finanzierung der verbotenen Medikamente existiert:
Kinder im Irak
Hypovereinsbank AG München
Konto-Nr.: 665821595
BLZ: 700 20 270
20. Januar
In der Nacht zum Montag fliege ich von Bagdad über Amman zurück und gleich weiter zum Weltsozialforum in Porto Alegre. Irak wird auch dort im Mittelpunkt stehen, und ohnehin will ich Anfang Februar schon wieder in Bagdad sein. Am 27.Januar sollen die Inspektoren dem Sicherheitsrat berichten. Und Bush will den Krieg.