Die kleinen EU-Mitglieder werden die großen Verlierer sein

Andreas Wehr

Mit der Vorlage der Vorschläge für die neue Architektur der EU-Institutionen hatte sich der Europäische Konvent unter seinem Vorsitzenden Giscard d´ Estaing viel Zeit gelassen. Als alter Profi wartete der erst einmal die Meinungsbildung in den wichtigsten EU-Hauptstädten ab. Die erste Debatte über die Institutionen fand inzwischen statt, nur einen Monat vor Abgabetermin. Ein alter Verhandlungstrick, umstrittene Fragen erst ganz zum Schluss vorzulegen, damit der Zeitdruck für den nötigen Konsens sorgt.

Anfang des Jahres schon hatten Frankreich und Deutschland ihren Vorschlag lanciert der aus einem Kompromiss bestand: Paris akzeptierte die von Berlin und einer Reihe von kleinen und mittleren EU-Staaten gewünschte Stärkung der Kommission und des Europäischen Parlaments, indem es sich mit der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament einverstanden erklärte. Im Gegenzug wurde die französische Forderung nach einem hauptamtlichen Präsidenten des Rates und der faktischen Abschaffung der halbjährlich unter den Mitgliedstaaten rotierenden Präsidentschaft gebilligt. Dabei hatte die deutsche Europapolitik der Schaffung des Amtes eines ständigen Ratspräsidenten fahrlässigerweise selbst den Weg geebnet. Sie beteiligte sich vollmundig an der Polemik gegen kleine zukünftige Mitgliedstaaten – etwa Estland oder Malta -, denen man die Fähigkeit, eine erfolgreiche halbjährliche Präsidentschaft zu organisieren, schlicht absprach. Da die deutschen Unterhändler jedoch keinen eigenen überzeugenden Vorschlag für eine Alternative zur traditionellen Rotation in der Tasche hatten, lief es auf die hauptamtliche Präsidentschaft hinaus.

Ähnlich war es bei der Frage nach der Anzahl der Kommissionsmitglieder. Derzeit ist jedes Land mit zumindest einem Kommissar vertreten. Nun hieß es plötzlich auch aus Berlin: In einem erweiterten Europa sind 25 Kommissare zu viel! Warum – das blieb unerfindlich. In manchen Ländern gibt es bis zu 30 Minister, und es funktioniert auch. Nach dem Vorschlag des Präsidiums sollen nun höchstens 14 Kommissare bleiben, was bedeutet, die Kleinen werden nur noch zeitweilig oder auch gar nicht mehr dort vertreten sein. Kein Wunder, dass Belgiens Premier Verhofstadt von einem Verrat Deutschlands an den mittleren und kleinen EU-Staaten sprach.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Da Spanien und Großbritannien den nationalen Regierungen mehr Gewicht geben wollen, votierten sie für die Stärkung des Rates. Der französische Kompromissteil bekam so Rückenwind. Mit der von Deutschland vorgeschlagenen Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament zeigten sich Briten und Spanier formal einverstanden, doch forderte Tony Blair zugleich, dass diese Wahl mit einer 80-Prozent-Mehrheit erfolgen müsse. Konsequenz: Eine wirkliche politische Wahl wird damit ausgeschlossen, denn nur eine ewige Große Koalition im Parlament aus Konservativen, Sozialdemokaten, Liberalen und Grüne kann eine solche Mehrheit garantieren. Nun rächte sich auch, dass Berlin das Wahlverfahren nicht hatte festlegen lassen. Giscard d´Estaing verstand es, dieses Versäumnis geschickt auszunutzen, indem er dem Parlament zwar das Recht geben will, den Präsidenten mit einer einfachen Mehrheit wählen zu können, aber nur auf Grundlage eines einzigen Vorschlags des Rates. Mit anderen Worten: Der Rat wählt den Kommissionspräsidenten und das Parlament darf ihn noch bestätigen – wie gehabt.

Sollte es im Konvent dabei bleiben – und dafür spricht viel – so zeichnet sich folgendes ab: Gestärkt wird der Rat und damit der Einfluss der nationalen Regierungen. Das Europäische Parlament gewinnt wenig dazu. Es erhält in vielen Fragen zwar neue Mitspracherechte, da es aber den Kommissionspräsidenten nicht wirklich wählt, kann es auch die Kommission nicht politisch beeinflussen. Es bleibt daher nur ein halbes Parlament. Die Demokratisierung der Union findet nicht statt. Die großen Verlierer sind die kleinen und mittleren Mitgliedstaaten. Sie büßen die Möglichkeit ein, ihre Position mit Hilfe der rotierenden EU-Präsidentschaft darzustellen, nicht mehr alle werden außerdem zukünftig über eine volle Legislaturperiode in der Kommission vertreten sein.

Für die deutsche Europapolitik ist dieses Resultat ein Desaster, wäre da nicht noch das in Erwägung gezogene, von London allerdings schon abgelehnte Amt des europäischen Außenministers, an dessen Besetzung der deutsche Außenminister ja ein besonderes Interesse haben soll.

Der Autor ist Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament.

Quelle:
Freitag Nr.23