André Brie, Beitrag für die Debattenseite der Zeitung „Neues Deutschland“, 23. Oktober 2003
Die UNO stärken, und zwar real!
In aller Kürze: Ich bin nicht bereit, mich mit den Unterstellungen und den übelriechenden Verratsvorwürfen zu befassen, die jenen in der PDS entgegenschlagen, die sich für die Verteidigung der UNO-Charta engagieren. Auch die Befürwortung eines „Gewaltmonopols“ der UNO in eine Abwendung vom Friedenskurs der PDS umzudeuten, wie es 43 Persönlichkeiten in einem Brief an den Parteitag suggerierten, ist nur mit der Unkenntnis der Charta zu erklären, denn die zumindest berechtigt niemanden, auch die UNO nicht, Krieg zu führen. Im Gegenteil! Aber Papier ist so geduldig. Es begehrt nicht einmal auf, wenn ausgerechnet der Autor des in Münster durchgefallenen Parteitagsbeschlusses (Diether Dehm) heute das Gegenteil verkündet und nicht im mindesten bereit ist, seine Wendung um 180 (oder 360?) Grad zu bekennen. Es geht nicht um „Münster“. Es geht vielmehr darum, ob die PDS nicht mit radikalen und schönen Worten, sondern mit realistischen und politisch wirkungsvollen Positionen Widerstand leistet gegen eine immer bedrohlichere Kriegspolitik. Mich hatte in Münster an beiden Anträgen das „Was-Wäre-Wenn?“ gestört. Antikriegspolitik verlangt natürlich Leidenschaft, aber auch politische Konkretheit und Aktualität. Sie verlangt, das ist meine These, eine starke UNO und die Einhaltung des bestehenden Völkerrechts (auch wenn es nicht das ideal wünschbare ist).
Es ist wohl notwendig, sich der Zeit vor fast sechzig Jahren sehr genau zu erinnern, ihrer politischen Gegensätzlichkeit und emotionsgeladenen Atmosphäre, der entsetzlichsten Verwüstungen und wunderbarsten Hoffnungen, wenn man die Bestrebungen, Motive, Möglichkeiten und Beschränkungen würdigen möchte, die sich in der Charta der Vereinten Nationen niederschlugen. Purer Idealismus war es wohl auf keiner Seite, und doch konnte damals, so wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkrieges, angesichts geschichtlich beispielloser, jede Vorstellungskraft übersteigender Vernichtung von Menschen und menschlichen Seelen, Zerstörung von Städten, Betrieben, Landschaften kaum eine Regierung, kaum eine politische Kraft die Ächtung des Krieges nicht wollen. Und wenn sie nur eine elementare, alle politischen Gefühle und Wünsche beherrschende Stimmung der Menschen aufnehmen musste. „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat…“, so beginnt die Charta der Vereinten Nationen, und so ist sie gemeint.
Die Charta verkündete dieses Ziel nicht nur. Sie führte frühere Versuche, den Krieg zu ächten (Briand-Kellog-Pakt von 1928), mit einiger Konsequenz weiter und definierte politisch und völkerrechtlich konkrete (den damaligen Bedingungen, Erfahrungen und Kräfteverhältnissen entsprechende) Verpflichtungen und Wege, um einer friedlicheren Welt näher zu kommen. Sie war (und ist) weit mehr als eine idealistische oder propagandistische Absichtserklärung. In den Artikeln 1 und 2 wurde ein System grundlegender, zivilisatorischer Regeln internationalen staatlichen Zusammenlebens vereinbart, das jeder Staat mit der Ratifikation der Charta anerkannte und das heute als allgemeinverbindliches Völkerrechtsprinzipiensystem gilt.
Mit der Anerkennung der Charta wurde ein Recht aufgehoben, das jahrtausendelang als höchster Ausdruck staatlicher Souveränität galt – das Recht, Krieg zu führen. Aber darauf war die UN-Charta eben nicht beschränkt. Die Antikriegsstimmung jener Zeit ging mit einem realistischen Problembewusstsein über die unverändert reale Möglichkeit des Krieges einher. Die bereits erwähnten Völkerrechtsprinzipien wurden daher als eine Grundlage und Bedingung angesehen, um dieses Ziel verwirklichen zu können. Nach den noch jungen Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges war jedoch auch niemand bereit, sich ausschließlich von dieser friedlichen Vision und dem Glauben an die Stärke des Völkerrechts leiten zu lassen. Die Charta sah nicht nur mit ihrem Prinzipienkatalog, sondern auch mit den Festlegungen zur Rolle des Sicherheitsrates Instrumente zur realen Durchsetzung des Kriegsverbots vor. Selbst für den Fall eines militärischen Angriffes wurde den Staaten nach Artikel 51 nur ein zeitweiliges militärisches Selbstverteidigungsrecht zugestanden, und zwar nur so lange, bis der UN-Sicherheitsrat geeignete Maßnahmen zur Beendigung dieses Angriffs/Krieges ergriff. Das den Staaten entzogene „Recht“ auf Gewalt wurde – strikt beschränkt auf Maßnahmen (auch militärischer Art) gegen den Bruch des Gewaltverbots – ausschließlich dem Sicherheitsrat zugebilligt.
Ob dieses Recht „Monopol“ zu nennen ist, mag dahingestellt sein (es ist aber durchaus dem innerstaatlichen Gewaltmonopol ähnlich); nach allgemein geltendem Völkerrecht jedenfalls ist einzig der Sicherheitsrat zur Anwendung militärischer Gewalt in solchen begrenzten Fällen legitimiert. Auch er muss nach Artikel 40 und 41 zunächst alle geeigneten nichtmilitärischen Maßnahmen ergreifen, um die Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens zu erreichen. Die Charta sah im übrigen sogar vor, dass nicht die Staaten, sondern der Sicherheitsrat selbst über militärische Kontigente verfügen sollte. Auch in dieser Hinsicht war eine Entnationalisierung vorgesehen, die jedoch nie realisiert werden konnte. Das ist ohnehin zu berücksichtigen: Eine Organisation souveräner Staaten, die UNO und ihr Sicherheitsrat können nur so stark sein, wie die Mitgliedsländer es zulassen.
Ja, da ist nichts ideal, aber die harmonische, gewalt- und waffenfreie Welt war damals nicht absehbar, ist es heute noch weniger. Die Charta war eine konkrete Chance, eine vielfach ehrliche und nicht von vornherein unrealistische Chance. Politischer Antikriegswille, Antikriegskräfteverhältnisse, geistiges Antikriegsklima sind durch die besten Verträge nicht zu ersetzen, aber ohne juristische bzw. völkerrechtliche Institutionalisierung auch nicht ausreichend.
Sicher: Die UN-Charta hatte von Anfang an Schwächen; nicht selten ist sie missbraucht oder missachtet worden, in einigen Fällen entgegen ihren eigenen Bestimmungen sogar für die Sanktionierung von Kriegen; die UNO muss ohnehin dringend reformiert, der Sicherheitsrat sollte demokratisiert werden. Aber gegenwärtig gibt es eine ganz andere Gefahr als den Reformstau in der UNO, eine Gefahr von ganz anderem Ausmaß, existenziell geradezu. Es wäre ja wundervoll, aber leider steht die gewaltfreie Welt ebenso wenig in’s Haus wie ein demokratisch kontrolliertes internationales Gewaltmonopol. Was mit Macht und gefährlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist, dass die USA die UN und ihre Charta schleifen. Die Sicherheitsdoktrin der USA, der NATO, im übrigen auch das im Juni veröffentlichte militärische Strategiekonzept der EU, setzen sich mit wahrhaft brachialer Gewalt über das Völkerrecht hinweg. Die kriegerische Praxis der USA und ihrer Partner in Jugoslawien, Afghanistan und im Irak ist zur brennenden Lunte am Pulverfass Erde geworden. Die USA maßen sich das weltweite Gewaltmonopol an. Sie wollen zum jus ad bellum, zum „Recht auf Krieg“ zurück, und auch das als ein Monopol der USA. Nichts an dieser Einschätzung ist übertrieben. Die Tendenz ist eindeutig. Die Verteidigung der UNO und ihrer Charta sind unter diesen Umständen wichtiger als die noch so berechtigte Kritik an den Defiziten. Und die entscheidende Voraussetzung, um einmal weitergehen zu können. Der reaktionäre Angriff der US-Administration auf das Völkerrecht und die UNO sollte meiner Meinung nach nicht von einem linken Angriff auf die UNO begleitet werden. Und das nicht nur, weil jede Barriere gegen den imperialen Militarismus der USA benötigt wird (und die UN-Charta ist eine offensichtlich gar nicht so schwache), sondern, weil in der UN-Charta ein differenziertes und in den Grundzügen immer noch realistisches Völkerrechtssystem einer friedlich(er)en Welt angelegt ist. Und auch, weil sie die immer noch nicht eingelöste Sehnsucht und Hoffnung von Milliarden Menschen nach dem Sieg der Antihitlerkoalition ausgedrückt hatte.