„Neues Deutschland“: Rolle rückwärts in der EU? Ein Wertewandel, der in die Vergangenheit weist, ist nicht ausgeschlossen
leicht gekürzt erschienen in „Neues Deutschland“
Im Zuge der Erweiterung der Union nach Osten ist ein Wertewandel, der in die Vergangenheit weist, nicht ausgeschlossen:
Rolle rückwärts in der EU?
Von Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP *
Die gewendeten osteuropäischen Eliten aus den früheren Warschauer Paktstaaten stehen stramm an der Seite der USA und befürworten den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak. Die NATO scheint sich hier größerer Beliebtheit zu erfreuen als die EU, weil hinter ihr vor allem die USA stehen. Die EU hingegen wird dafür kritisiert, dass sie, wie der frühere Berater des ehemaligen tschechischen Präsidenten Havel, Jiri Pehe, meint, noch kein wirklicher Garant der Sicherheit der Beitrittsländer wäre, da sie „trotz vieler Debatten noch nicht einmal in die Nähe einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gerückt“ – eben noch keine Militärmacht – sei. Nur die USA seien militärisch stark genug, um die mittelosteuropäischen Länder gegen einen potentiellen Aggressor – gemeint ist Russland – zu verteidigen. Atlantische Bündnistreue als Voraussetzung für die politische Integration der Kandidatenländer in die EU, lautet die Strategie. Ganz in diesem Sinne verkündete Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz im Sejm: „Polens besonderes Verhältnis zu den USA ist unser Trumpf in der EU und untermauert unsere Stellung dort.“ Sollte sich dieses Denken verstetigen, würde mit der EU-Osterweiterung Europas Einigung zwar vollzogen. Sicherheitspolitisch aber bliebe der Kontinent geteilt und die amerikanische Führungsrolle in Europa, die sich über die NATO definiert, würde zementiert. EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat bereits vor einem derartigen „zweigleisigen Kurs“ gewarnt. Die Beitrittsländer könnten „nicht die Wirtschaft mit der EU und die Sicherheit mit den USA teilen“.
Die Irak-Krise bot einen günstigen Anlass, um die „amerikanische Karte“ erstmals schwungvoll aus dem Ärmel zu ziehen. So hatte Cimoszewicz bereits vor Kriegsbeginn erklärt, dass Polen die USA in einem Krieg gegen den Irak auch ohne UNO-Resolution unterstützen werde. Gleichzeitig avanciert Polen zu einem wichtigen Geschäftspartner. Anfang Februar orderte Ministerpräsident Leszek Miller beim US-Konzern Lockheed 48 modernste Kampfflugzeuge vom Typ F-16 im Wert von knapp vier Milliarden US-Dollar – die europäische Konkurrenz wurde links liegen gelassen, obwohl das künftige EU-Land erhebliche Subventionen aus Brüssel erhält. Schon wird darüber sinniert, dass George W. Bush Polens Staatspräsident Alexander Kwasniewski Ende 2003 zum neuen NATO-Generalsekretär küren lassen könnte.
Vieles deutet darauf hin, dass die Osterweiterung die Union politisch erheblich schwächen wird, zumal sie institutionell und was ihren gemeinsamen politischen Willen betrifft nur sehr ungenügend darauf vorbereitet ist. Eine größere EU kann durchaus „amerikanischer“ werden, weil die Konsensbildung unter den vielen Mitgliedern schwieriger und dadurch auch eine Einflussnahme der USA eher möglich wird. Von daher verdient Aufmerksamkeit, dass sich die polnische Regierung bereits vor Vollzug des Beitritts ihres Landes zur EU dezidiert zum Fürsprecher einer „neuen“ Ostpolitik der Gemeinschaft macht. Nachdem Polen EU-Mitglied geworden ist, sollte den Nachbarn Weißrussland, Ukraine und Moldawien „die Aussicht, wenn auch nicht das Versprechen“ auf eine künftige EU-Mitgliedschaft gegeben werden, erklärte der polnische Außenminister. Zweifellos spielen bei diesen Überlegungen die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen diesen Ländern und Polen, das Interesse an politischer Stabilität in der Region, aber auch die historische Tatsache eine Rolle, dass große Gebiete Weißrusslands und der Ukraine polnisch waren.
Es liegt auf der Hand, dass Washington alles unternimmt, um die Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu konterkarieren – und die Beitrittsländer machen an der Seite einiger EU-Staaten wie Großbritannien und Spanien fleißig mit, indem sie ihre besonderen Beziehungen zu den USA in die Waagschale werfen. Von daher wird es für EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland außerordentlich schwer sein, eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik für die Union zu entwickeln, die sich US-amerikanischem Unilateralismus widersetzt. Vor diesem Hintergrund rief EU-Konventspräsident Giscard d’Estaing kürzlich dazu auf, ein „europäisches Europa“ zu schaffen. Die EU müsse sich in der zu erarbeitenden Verfassung als „unabhängige politische Einheit“ definieren.
„Zentral- und Osteuropa stehen nicht mehr für den Antiamerikanismus französischer Prägung“, erklärte hingegen der ehemalige estnische Ministerpräsident Mart Laar. Das ist wohl der Grund, weshalb sich die USA den Beitrittsländern als Gegengewicht zur deutsch-französischen Achse anbiedern. Sie seien, so Donald Rumsfeld, das „neue Europa“, das „neue Kraftzentrum“. Die Kandidatenländer nehmen das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in der Tat als kontinentale Übermacht wahr, die im Zweigang Europa ihren Stempel aufdrücken wollten. Gewiss ist das nicht zu bestreiten. Alle französischen Regierungen betrachteten EWG wie EU nie nur als wirtschaftlich determinierten Selbstzweck, sondern immer auch als Sprungbrett, um der „Grande Nation“ eine gewichtigere Rolle in der Weltpolitik zu verschaffen. Der Bundesrepublik ging und geht es vor allem um eine möglichst privilegierte, ihrem wirtschaftlichen Gewicht entsprechende Stellung innerhalb der EU. Verkannt wird dabei aber in Osteuropa, dass in der konsensstrukturierten EU mit ihrem künftig riesigen Binnenmarkt nationales Vormachtstreben auf längere Sicht nur als dessen Zerfallsprodukt denkbar ist. Die deutsch-französischen Beziehungen sind zudem ein aus bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege entstandenes Beziehungsgeflecht früherer Erzfeinde, das zu einem Integrationsmotor wurde, der zwar nicht frei von Widersprüchen ist, aber heute eben auch Ansätze bietet, Europa von den übermächtigen USA zu emanzipieren.
In der existentiellen Frage von Krieg oder Frieden ist Mittelosteuropa tief gespalten. Der Riss verläuft zwischen der Bevölkerung und den neuen Eliten. Ihre proamerikanische Haltung zum Irak-Krieg deckt sich in fast keinem Land mit der öffentlichen Meinung. Es ist aber gerade die neue politische Klasse in Mittelosteuropa, die nicht müde wird zu behaupten, dass sie im Unterschied zu ihren sozialistischen Vorgängern die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung repräsentiere. Gerade Politiker Polens, eine der stärksten Festungen des katholischen Glaubens in Osteuropa, sprechen mit gespaltener Zunge, denn die Christenpflicht zum Frieden wird mit Blick auf den Irak ebenso ignoriert wie das Eintreten des Papstes gegen den Krieg. Das hindert polnische Politiker aber nicht, im Europäischen Konvent inbrünstig für die Aufnahme eines Gottesbezugs in die europäische Verfassung zu plädieren, wodurch die in Europa aus gutem Grund erfolgte Trennung von staatlicher Gewalt und Glauben in Frage gestellt würde. Europa auf religiöse Glaubensformeln zu verpflichten, bedeutet einen Schritt zurück in mittelalterliche Vergangenheit.
Noch schwerwiegender sind die rückwärts gewandten Botschaften aus Mittelosteuropa auf sozialpolitischem Gebiet. Tatsache ist, dass derzeit die wertkonservativen Vorstellungen der herrschenden Eliten in den meisten Beitrittsländern auf die in der EU mehr oder weniger anerkannten sozialen Verhaltensnormen prallen. Befördert durch die neoliberalen Globalisierer in Westeuropa kann es deshalb längerfristig durchaus zu einem sozialen „roll back“ in der EU kommen. Deutlich wird dies bereits im Europäischen Konvent. Er ist mit einer ausgesprochen paradoxen Situation konfrontiert: Während die meisten Konventsmitglieder aus den EU-Mitgliedstaaten quer durch alle Parteien „soziale Gerechtigkeit“ zwar als immer umkämpften, aber dennoch anerkannten Wert mehrheitlich in die Verfassung aufnehmen wollen, stellen ihn viele Vertreter aus den Beitrittsländern zusammen mit einigen westeuropäischen Hardlinern der Sozialdemontage als „illusorisch“ und „unerreichbar“ in Frage. Dies habe sich schon im Realsozialismus erwiesen, wo soziale Gerechtigkeit staatlich verordnet worden sei, und ein Zurück in den Staatssozialismus dürfe es mit der EU nicht geben. Ähnliche Auseinandersetzungen gibt es um den Begriff Vollbeschäftigung als langfristige politische Zielstellung der Union. Massiv unterstützt durch Konventsmitglieder aus den Kandidatenländern laufen Konservative dagegen Sturm, dass dieses Ziel in die EU-Verfassung aufgenommen wird.
*Die Autorin ist Mitglied des Europäischen Verfassungskonvents.