Das Europäische Parlament – nur ein Papiertiger?
Zu den Vorschlägen des „Konvents zur Zukunft Europas“
Am 18. Juli 2003 präsentierte der frühere französische Ministerpräsident Giscard d‘Estaing in seiner Funktion als Präsident des „Konvents zur Zukunft Europas“ die Vorschläge dieses Gremiums zur Reform der Europäischen Union (EU). Erstmals ist damit eine grundlegende Reform der Europäischen Verträge nicht – wie bisher – ausschließlich von einer Regierungskonferenz sondern von einem Konvent, bestehend aus Regierungsvertretern, Mitgliedern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, ausgearbeitet worden. Der ambitionierte Auftrag an den Konvent lautete sogar, einen Verfassungsvertrag für die Europäische Union vorzulegen. Insgesamt 16 Monate hatten die 105 Mitglieder darüber beraten. Die Vorschläge des Konvents werden nun in einer Regierungskonferenz geprüft und möglicherweise noch verändert. Spätestens Anfang Mai 2004 soll dann der Verfassungsvertrag von den Regierungschefs unterzeichnet werden. Ein Vertrag, von dem Giscard d‘Estaing annimmt, dass er „50 Jahre in Kraft bleiben werde“. Man wird sehen.
Eine der dem Konvent gestellten Fragen lautete, auf welchem Wege das Europäische Parlament gestärkt werden kann. Gegenwärtig ist dieses noch längst kein vollwertiges Parlament, und – das kann hier schon gesagt werden – wird es auch nach der Annahme des Konventsvorschlags nicht sein. Legt man zur Definition der Merkmale eines parlamentarischen Regierungssystems die institutionellen und sozialstrukturellen Kriterien zugrunde, wie sie sich in den parlamentarischen Systemen Europas nach 1789 entwickelt haben, fehlt es dem Europäischen Parlament, auch 25 Jahre nach seiner ersten Direktwahl im Jahre 1979, an elementaren Eigenschaften, die für das parlamentarische Regierungssystem nun einmal unentbehrlich sind. Es ist eben nicht so gekommen, wie es Willy Brandt, der selbst Mitglied im ersten direkt gewählten Europäischen Parlament war, glaubte vorhersagen zu können, dass sich nämlich dieses Parlament, wie jedes andere auch zuvor, seine Rechte schon selbst erkämpfen werde. Kritiker sehen in der Einführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament paradoxerweise sogar einen Grund für die Entparlamentarisierung der nationalen Ebene. „Bis 1979 waren die Europaabgeordneten noch an die nationalen Parlamente rückgekoppelt. Seit der Direktwahl geht selbst der europäische parlamentarische Entscheidungsprozess an den nationalen Parlamenten vorbei.“
Versprechen, die damals, 1979, gegeben worden waren, etwa die volle Beteiligung des Parlaments an der Gesetzgebung, wurden bis heute nicht eingelöst. Und auch bei der Gründung der Europäischen Union 1992 blieb der große Durchbruch aus. Der Vertrag von Maastricht hatte wohl die Zahl der Bereiche deutlich erhöht, die dem Einfluss der EU geöffnet wurden, dem entsprach aber nicht gleichfalls auch die Ausweitung der Mitentscheidungsmöglichkeit des Europäischen Parlaments. Ihm steht bis heute nicht das Recht zu, eigene Gesetzesinitiativen einbringen zu können. Es hat auch nur sehr schwache Möglichkeiten, auf die Exekutive durch ihre Wahl, Abwahl und Interpellationen Einfluss zu nehmen. Sieht man Rat und Kommission einmal als eine zusammenwirkende Exekutive an, so hat das Parlament überhaupt nur Einfluss auf die Kommission. Ähnlich schwach ist seine Möglichkeit im Haushaltsrecht ausgebildet, so dass von einem Budgetrecht des Parlaments, dem Lackmustest für jedes echte Parlament, nicht gesprochen werden kann.
Die Bedeutung der Mitentscheidung
Die wichtigste Handlungsebene für das Parlament und zugleich das Instrument, mit dem es gegenwärtig seinen Einfluss am wirksamsten ausüben kann, ist das Verfahren der Mitentscheidung. Dieses zur Zeit in Artikel 251 EG-Vertrag (EGV) und zukünftig, inhaltlich weitgehende unverändert in Artikel II-298 des Konventsentwurfs übernommene Verfahren gibt dem Parlament in einer Reihe von Materien das Recht, als gemeinsamer Gesetzgeber am Rechtsetzungsverfahren teilzunehmen. Das Mitentscheidungsverfahren kam mit dem Vertrag über die Europäische Union 1992 in den EG Vertrag. Durch den Amsterdamer Vertrag wurde es um einige Regelungsinhalte erweitert. Gegenwärtig fallen unter dieses Verfahren vor allem die Bereiche Binnenmarkt, Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Niederlassungsfreiheit, Verkehr, allgemeine und berufliche Bildung und Verbraucherschutz. Die nun vom Konvent vorgeschlagene deutliche Ausweitung des Anwendungsbereichs der Mitentscheidung ist ohne Zweifel ein großer Zugewinn von demokratischen Rechten für das Europäische Parlament. Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Parlament damit bereits auf die gleiche Stufe mit der Kommission, als dem Initiator der Rechtsakte bzw. dem Rat als dem Gesetzgeber, gestellt wird.
Es kann nicht übersehen werden, dass auch weiterhin wichtige Teile der Politik der Europäischen Union außerhalb wirksamer parlamentarischer Kontrolle bleiben. Dies betrifft die gesamte Agrarpolitik und die Außen- und Sicherheitspolitik. Aber auch in der Innen- und Rechtspolitik, wie etwa bei Entscheidungen über die polizeiliche Zusammenarbeit , bei der Steuerpolitik und in wichtigen Fragen der Haushaltspolitik werden dem Europäischen Parlament auch in Zukunft allenfalls Anhörungsrechte zugestanden.
Die Frage der Demokratisierung der Europäischen Union kann daher nicht allein an der bloßen Zahl der künftigen Bereiche festgemacht werden, in denen das Europäische Parlament an der Gesetzgebung beteiligt sein soll. Man würde dabei nämlich ganz aus dem Blick verlieren, wie die Entscheidungen in der Europäischen Union in der Realität zustande kommen, und dass die daran beteiligten Akteure keineswegs über gleiche Ausgangsbedingungen verfügen oder gar auf der gleichen Stufe stehen. Um die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten des Europäischen Parlaments auf die europäische Gesetzgebung erfassen zu können, müssen zwei Umstände mit bedacht werden. Das Parlament besitzt weder ein Initiativrecht noch kann es die Spitze der Exekutive in Form des Präsidenten der Kommission bestimmen.
Die Debatte über die Wahl des Kommissionspräsidenten
Entsprechend dem in Nizza festgelegten Verfahren benennt der Rat nach Artikel 214 EGV den Kommissionspräsidenten und: „diese Benennung bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlaments“. Die anschließend vom Kommissionspräsidenten erstellte Liste der übrigen Kommissionsmitglieder nimmt ebenfalls zunächst der Rat mit qualifizierter Mehrheit an. Der Präsident und die übrigen Kommissionsmitglieder stellen sich schließlich als Gesamtkollegium dem Votum des Europäischen Parlaments. Die Rechte des Parlaments beschränken sich demnach allein darauf, die zuvor vom Rat ausgewählten Kandidaten zu bestätigen.
Die Forderung nach der Wahl der Kommission, zumindest aber ihres Präsidenten, durch das Europäische Parlament stellte eine der wichtigsten Forderungen der europäischen Parlamentarier im Verfassungsprozess dar. Die in Nizza festgelegte Regelung wurde denn auch im Vorfeld des Konvents von ihnen mit breiter Mehrheit scharf kritisiert und als „einer der (dort) ungelösten Punkte angesehen, die für eine demokratischere und effizientere Arbeitsweise der Organe der Union unerlässlich sind und daher auf die Tagesordnung der Reform der Verträge gesetzt werden müssen.“ Von der Seite der Regierungen der Mitgliedstaaten wurde diese Forderung von Beginn an sehr unterschiedlich gesehen. Während sich die Bundesrepublik und auch eine Reihe kleinerer Länder frühzeitig auf eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament festlegten, wurde der Vorschlag von Großbritannien, Spanien und Frankreich von Beginn an abgelehnt.
Die Alternativen in dieser Frage hatte bereits Außenminister Fischer in seiner europapolitischen Grundsatzrede an der Humboldt-Universität deutlich gemacht: „Entweder entscheidet man sich für die Fortentwicklung des Europäischen Rats zu einer europäischen Regierung, das heißt, die europäische Regierung wird aus den nationalen Regierungen heraus gebildet, oder man geht, ausgehend von der heutigen Kommissionsstruktur, zur Direktwahl eines Präsidenten mit weitgehend exekutiven Befugnissen über.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb damals: „Fischer ließ schon damals keinen Zweifel daran, dass er das Modell der Wahl des Kommissionspräsidenten bevorzuge. Offen blieb, ob tatsächlich eine Direktwahl in Frage komme oder nicht vielmehr eine Wahl durch das Europäische Parlament.“ Über die Planungen im deutschen Auswärtigen Amt wurde damals geschrieben: „Dort liebäugelt man mit der Idee, das Europäische Parlament solle nicht nur das Recht zur Präsidentenwahl zugesprochen bekommen, sondern gleich das zu seiner Abwahl dazu. Gedacht wird an ein konstruktives Mißtrauensvotum in Anlehnung an das deutsche Regierungssystem.“ Die deutschen Mitglieder im Konvent unterstützten diese Positionen. Alle schlossen sich einer entsprechenden Initiative des damaligen Konventsmitglieds Peter Glotz an. Er selbst ließ sich in der Auseinandersetzung über diese Frage sogar zu der Bemerkung hinreißen, dass es hier darum gehe, ob „in Europa der Geist Metternichs oder der Geist Monnets herrsche.“ . Am Ende des Verfassungsprozesses muss man allerdings feststellen: Weder das Eine noch das Andere wurde erreicht. Stattdessen wird nun vom Konvent die Schaffung eines Präsidenten des Europäischen Rates vorgeschlagen.
Doch dass es für die deutsche Seite schwierig werden würde, ihre Position im Konvent durchzusetzen, darauf deutete bereits eine Äußerung von Giscard d’Estaing im Spiegel vom Oktober 2002 hin. Auf die an ihn gerichtete Frage, ob der Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt und so demokratisch legitimiert werden solle, hatte er geantwortet: „Es geht nicht unbedingt um die Wahl. Am Ende wird das Parlament ein letztes Wort haben. Wichtiger aber ist der vorausgehende Auswahlprozess im Rat für den besten Mann oder die beste Frau, der oder die am besten das europäische Allgemeinwohl vertreten kann.“ Und in dem Anfang Oktober 2002 vorgelegten Positionspapier der Mitglieder der europäischen Sozialdemokraten im Konvent war erst gar kein Vorschlag für die Wahl des Kommissionspräsidenten enthalten. Angesichts dieser, sich bereits früh abzeichnenden Schwierigkeiten verwundert es nicht, dass die deutschen Unterhändler einen Kompromiss mit ihren französischen Partnern suchten. Im Januar 2003 verständigten sich Schröder und Chirac auf einen gemeinsamen Vorschlag zur institutionellen Architektur. Von ihren beiden Außenministern wurde dieses Kompromisspapier umgehend in den Konvent eingebracht. Darin heißt es u.a. zum Verfahren: “ Die Kommission und ihr Präsident werden im Anschluss an die Europawahlen ernannt. Nach der Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Europäische Parlament mit einer qualifizierten Mehrheit seiner Mitglieder wird dieser durch den Europäischen Rat, der mit qualifizierter Mehrheit beschließt, bestätigt.“ Das in Nizza vereinbarte Verfahren sollte danach umgedreht werden. Fortan sollte das Parlament entscheiden und der Rat seine Entscheidung lediglich bestätigen. Allerdings sollte es nur mit einer qualifizierten Mehrheit wählen können, was unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen nur mit Hilfe einer großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten zu erreichen wäre. Im Gegenzug zu diesem französischen Eingehen auf die Position der Bundesrepublik und einer Reihe weiterer Staaten gab die deutsche Seite bei der französischen Forderung nach Schaffung des Amtes für einen Ratspräsidenten nach. Ein Vorschlag, der im Konvent wohl zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit hatte.
Doch die deutsch-französische Verständigung ließ die generellen Gegner einer Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament nicht ruhen. Ende Februar 2003 verständigten sich die britische und die spanische Regierung bei einem Gipfeltreffen auf eigene Vorschläge. Ihren Standpunkt legten die beiden Außenminister Palacio und Hain in einem gemeinsamen Dokument dem Konvent vor. Danach sollte zunächst der Rat den Kommissionspräsidenten ernennen, anschließend würde ihn das Parlament wählen. Es sollte demnach in etwa bei dem in Nizza vereinbarten Vorgehen bleiben.
Tatsächlich sieht das nun vom Konvent in Artikel I-26 vorgeschlagene Verfahren zur Wahl des Kommissionspräsidenten dem spanisch-britischen Vorschlag sehr ähnlich. Lediglich eine Bezugnahme auf das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament kam hinzu. Der vorgeschlagene Text des Artikels lautet nun in Absatz 1: „Unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament schlägt der Europäische Rat diesem im Anschluss an entsprechende Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats einen neuen Kandidaten vor, wobei dasselbe Verfahren wie zuvor angewandt wird.“
Formal blieb man damit zwar auf der Linie des deutsch-französischen Kompromisses, nach dem das Parlament wählen kann. Hinzugekommen war nur die kleine aber entscheidende Einschränkung, dass diese „Wahl“ lediglich über einen einzigen Vorschlag des Rates stattfinden soll. „Nun rächte sich, dass Berlin das Wahlverfahren nicht hatte festlegen lassen. Giscard d’Estaing hat dieses Versäumnis listig ausgenutzt (…).“ Es war jetzt auch klar geworden, was er gemeint hatte, als er im Spiegel-Interview davon sprach, das wichtiger als die Wahl „der vorausgehende Auswahlprozess im Rat für den besten Mann oder die beste Frau (sei), der oder die am besten das europäische Allgemeinwohl vertreten kann.“
Die Bedeutung der Wahl des Kommissionspräsidenten
Den großen Raum, den die Behandlung des Wahlverfahrens allein in der Konventsberatung erhalten hatte verweist darauf, dass es sich keineswegs um eine untergeordnete technische Frage handelte. Es war womöglich die entscheidende Frage der Gestaltung der institutionellen Architektur der Union und des künftigen Verhältnisses zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament. Diese Entscheidung ist auch wichtiger als jene, in wieviel Angelegenheiten das Parlament zukünftig Mitentscheidungsrechte erhalten soll und wichtiger als ein mögliches Initiativrecht des Parlaments.
Die Bedeutung der Wahl der Exekutive durch das Parlament ergibt sich aus der Analyse des Gesetzgebungsverfahrens, wie es sich in den repräsentativen Demokratien entwickelt hat. Denn obwohl die Parlamente generell das Recht besitzen, von sich aus eigene Gesetzesinitiativen einzubringen, und dies z.B. im Bundestag regelmäßig durch Vorlagen von allen Parteien zu den wichtigen Gesetzesvorhaben auch tun, geht dieses Recht tatsächlich immer stärker auf die Exekutive über. Grund dafür ist „die starke Position der Verwaltung, die aus der Vollzugspraxis die notwendigen Änderungen und Anpassungen benennt und im Vorfeld der Initiative Alternativen materiell prüft und abklärt. Dem vorgelegten Entwurf geht in aller Regel eine Vielfalt verwaltungsinterner Konsultations- und Koordinierungsprozesse voraus. Das parlamentarische Verfahren setzt nicht auf unbestelltem Feld an. Hier deutet sich bereits an, dass die Initiative heute weitgehend auf die Regierungen übergegangen ist – selbst dort, wo sie formell kein Recht dazu hat: In den USA entstehen 50% der Entwürfe in der Exekutive; von denen, die erfolgreich sind, initiiert sie 80%. Noch stärker hat im parlamentarischen Regierungssystem Großbritanniens die Regierung die Klinke in die Hand genommen.“ Auch im Deutschen Bundestag bringt die Regierung regelmäßig etwa die Hälfte aller Gesetzesentwürfe ein, unter den verabschiedeten stammen hingegen mehr als 2/3 Drittel von ihr.
Auf den ersten Blick spricht so manches dafür, dass das auf der europäischen Ebene praktizierte Verfahren, wo die Kommission alle Gesetzesvorhaben initiiert, demnach gar nicht so ungewöhnlich ist, zumal auf europäischer Ebene die mehr als 15.000 Beamten der Kommission ein klares Übergewicht gegenüber den nur ca. 2.500 des Europäischen Parlaments besitzen. Nur die Kommission hat einen ausreichenden Überblick über die Entwicklung in den Mitgliedsländern, nur sie kann engen Kontakt mit Initiativen, Nichtregierungsorganisationen und den verschiedensten Lobbygruppen halten. Allein sie hat die Mittel und auch das Personal, um Konsultationen durchzuführen und um Anhörungen abzuhalten. Wo sie auch für speziellste Fragen eigene Referate unterhält, müssen nur ein bis zwei Mitarbeiter der jeweiligen Parlamentsfraktionen ganze Politikbereiche abdecken. So kommt es dann auch bei den Beratungen im Parlamentsausschuss und im Plenum über die Kommissionsvorschläge, selbst in den Bereichen, wo das Parlament ein Mitentscheidungsrecht besitzt, meist nur zu einigen Verbesserungen und Abänderungen der Vorlagen. Die faktische Übermacht der Kommission ist schlicht erdrückend.
Doch für den Bundestag kann aus einer vergleichbaren Situation keineswegs auf seine Entmachtung geschlossen werden. Denn hier gilt, „die enge Verschmelzung von Regierung und Parlamentsmehrheit zur politischen Funktionseinheit (…). Die Statistik sagt kaum etwas anderes, als dass sich eine parlamentarische Parteiregierung bei der gesetzgeberischen Umformung ihrer und ihrer Mehrheit Ordnungsvorstellungen des Exekutivapparats bedient, also dessen Kompetenz bei der Rechtskonkretisierung in Anspruch nimmt. (…) Die Statistik sagt nichts aus über die konkrete politische Herkunft einer Initiative. Zum Beispiel ist es durchaus nicht selten, dass eine Regierungsvorlage auf entsprechende Anforderungen der Mehrheit zurückgeht, die Regelungsbedarf in einer gewissen Richtung anmeldet, ohne zugleich selbst eine Formulierung im Detail erarbeiten zu wollen, sich gleichsam auf politische Führung beschränkend. Jedenfalls deckt das parlamentarische Regierungssystem einen Wandel des Parlamentsverständnisses, nach welchem die Abgeordneten zwar Gesetze beraten und verabschieden, aber nicht notwendigerweise die Vorlagen selbst ausarbeiten müssen, nachdem die Formulierungshilfe leistende Ministerialbürokratie der politischen Führung der Mehrheit untersteht. (…) Stärker als früher werden z. B. Referentenentwürfe heute von vornherein durch partei- und koalitionspolitische Vorgaben auf der ministeriellen Führungsebene vorgeprägt. Zusätzlich bestehen entsprechende Einflussmöglichkeiten auch in jenem Stadium, in dem Referenten- zu Kabinettsentwürfen umgeformt werden.“ Diese Situation trifft grundsätzlich auf alle repräsentativen Parlamentssysteme Europas zu, selbst auf die Nationalversammlung Frankreichs, deren gesetzgeberische Position erheblich beschnitten ist und daher der Situation des Europäischen Parlaments gar nicht so unähnlich ist. „Andererseits bleibt (in Frankreich, A.W.) die kontinentaleuropäische Tradition, in den Ausschüssen gründlich zu beraten und Änderungen zu bewirken, unangetastet. Das legislatorische Selbstverständnis scheint insoweit – für Italien gilt ähnliches – mit jenem im Deutschen Bundestag vergleichbar.“ Die Wahrnehmung dieser Rolle ist aber an institutionelle Voraussetzungen gebunden: „Hochdifferenzierte Arbeitsteilung durch das Ausschusssystem, fast mehr noch durch die fraktionsinterne Organisation der Willensbildung in Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen, entsprechende Spezialisierung der Abgeordneten und eine inzwischen durchaus ansehnliche Infrastruktur gewähren ihm (dem Bundestag, A.W.) die Möglichkeit dazu. (…) Die entscheidungsprägende Wirkung der Beschlussempfehlung der Ausschüsse geht von der Übereinstimmung zwischen Ministerialbürokratie und den Ausschussexperten der regierenden Mehrheit aus. Diese Übereinstimmung wird aber nicht erst hergestellt, wenn ein Gesetzentwurf das formale parlamentarische Verfahren erreicht hat, sondern bereits vorher in informellen Kontakten.“
Und hier zeigen sich erhebliche Unterschiede bei der Arbeitsweise zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament. Zwar haben sich auch dort die Abgeordneten spezialisiert, und auch sie arbeiten aktiv in den Ausschüssen mit, es existieren aber hier keine festen und differenzierten Fraktionsstrukturen, denn die politischen Fraktionen im Europäischen Parlament sind nur sehr lose zusammengehaltene Zusammenschlüsse nationaler Delegationen. Und so lange es keine echten, die Mitgliedstaaten wirklich übergreifenden europäischen Parteien gibt, wird sich auch diese Schwäche des Parlaments nicht beheben lassen.
Die Angst vor der Politisierung der Kommission
Vor dem hier dargestellten Hintergrund des konkreten Ablaufs des Gesetzgebungsverfahrens auf europäischer Ebene wird gut erkennbar, was eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament bedeuten würde. Es wäre der Beginn einer Politisierung der Gesetzgebung und zwar bereits in der Phase ihrer Konzipierung. Eine solche Politisierung sollte aber aus der Sicht der Regierungen der Mitgliedsländer, die dabei von einflussreichen Medien und Verbänden, ja selbst von einer Reihe von Europaparlamentariern im Konvent unterstützt wurden, unbedingt verhindert werden. So stellte bereits das in der deutsch-französischen Initiative vorgeschlagene Wahlverfahren des Kommissionspräsidenten, in dem eine absolute Mehrheit verlangt wurde, eine klare Absage an eine Politisierung der Kommission dar. In einer Analyse der Vorschläge heißt es: „Weder im deutsch-französischen Vorschlag, noch im Memorandum der Benelux-Staaten noch im gemeinsamen Papier der 16 kleineren Staaten wird die Wahl des Kommissionspräsidenten mit einfacher Mehrheit gefordert. Vorgeschlagen wird vielmehr eine qualifizierte Mehrheit bei der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament. Dies läuft zwar der ursprünglichen Idee zuwider und mindert ganz erheblich das attraktivitätsfördernde Element einer echten Wahl zwischen den Spitzenkandidaten der europäischen Parteienbünde. (…)Ein entsprechendes Quorum ließe sich in der Regel nur durch eine größere Koalition erreichen, was das Argument erheblich schwächt, der Kommissionspräsident könnte durch einen Wahlvorgang in Abhängigkeit bestimmter einseitiger parlamentarischer Mehrheiten geraten.“
Es geht also bei der Kontroverse um das Wahlverfahren des Kommissionspräsidenten im Kern um die Verhinderung einer „Politisierung der Kommission“, die noch dazu abschätzig als „einseitige Politisierung“ bezeichnet wird, wobei nebenbei zugleich das gesamte demokratische Mehrheitsverfahren der repräsentativen Demokratie denunziert wird. Aber dieses Mehrheitsverfahren soll ja eben nur auf europäischer Ebene nicht gelten, obgleich dort inzwischen wichtigere Entscheidungen hinsichtlich des Schicksals der europäischen Bürgerinnen und Bürger gefällt werden als in so manchem nationalen Parlament. Die Kommission soll mitsamt ihrer beeindruckend großen Bürokratie aus politischer Einflussnahme herausgehalten werden, was im Ergebnis nichts anderes bedeutet, dass die über Wahlen ausgeübte Souveränität der europäischen Völker sich nicht auf diese zentrale Institution erstrecken soll. Dieses Ansinnen ist es, das sich hinter dem ganzen Gerede von der Kommission als der „Hüterin der Verträge“ oder von einer nur „dem Gesamtinteresse verpflichteten Kommission“ versteckt . Diese Formeln dienen alle nur dazu, einen Vorhang vor das tatsächliche Wirken der Kommission zu ziehen, denn natürlich ist die Kommission alles andere als politisch neutral und unabhängig. In zahlreichen Studien wurde detailliert dargelegt, wie eng etwa die personellen Beziehungen zwischen führenden Beamten der Kommission und den Interessensvertretern der großen Industrie sind, wie zugänglich sich der Brüsseler Apparat gegenüber ihren Wünschen zeigt und wie eindeutig neoliberal ausgerichtet die Initiative der Kommission etwa für eine europäische Beschäftigungs- und Sozialpolitik oder auch bei der Kommerzialisierung der öffentlichen Dienste zur Daseinvorsorge regelmäßig ausfallen.
Dass sich durch die Wahl des Kommissionspräsidenten mit einfacher Mehrheit durch das Europäische Parlament langfristig der gesamte Charakter der Union verändern könnte, darauf wurde von interessierter Seite bereits in einer sehr frühen Phase der Konventsarbeit warnend verwiesen. „Auf der Suche nach einem ausgewogenen, demokratischen Vorstellungen folgenden Kräfteverhältnis zwischen der EU-Kommission, dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament könnte der Konvent auch bald auf Abwege geraten. Ein Beispiel ist die fast zum Dogma herangereifte Forderung, dass der Kommissionspräsident künftig durch die Straßburger Versammlung gewählt werden solle. Das könnte zur Politisierung der EU-Exekutive mit Absprachen und Paketlösungen der Parteien führen und damit die Unabhängigkeit der Kommission einschränken oder gar beseitigen. Wer die Brüsseler Behörde als Vorläufer einer europäischen Regierung sieht, die schon heute dem politisch jeweils vorherrschenden Farbenmuster zögernd folgt, wird diesen Weg mit einigen Einschränkungen mitgehen wollen. Eine noch mehr von den politischen Parteien abhängige Kommission könnte aber nur noch bedingt ‚Hüterin der Verträge‘ sein und leicht an das kurze Gängelband der EU-Regierungen geraten.“
Am Ende der Konventsarbeit hat sich gezeigt, dass die hier beschriebene „Gefahr der Politisierung“ – und dies wohl nicht ganz zufällig – schnell gebannt war. Die Entscheidung des Konvents gegen die freie Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament ist damit auch eine Richtungsentscheidung. Dies wiegt um so schwerer, als der Konventsvorschlag vorsieht, dass die Kommission ab 2009 nur noch aus dem Präsidenten, dem Außenminister und aus dreizehn Kommissaren besteht, die nach einem System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten ausgewählt werden können, was nichts anderes heißt, als dass die vielbeschworene europäische Regierung Wirklichkeit wird. Damit wird auch das Prinzip aufgegeben, dass jedes Mitgliedsland mindestens einen Kommissar stellt. Bisher wurde mit dem Hinweis auf diesen Charakter der Kommission, zugleich auch Vertretungsorgan der Mitgliedsländer zu sein, jede Möglichkeit einer stärkeren Einflussnahme des Parlaments auf die Auswahl seiner Mitglieder zurückgewiesen. Dieses Argument fällt nun ab 2009 weg. Doch auch dann soll es dabei bleiben, dass das Europäische Parlament mit seiner „Wahl“ nur eine Vorauswahl bestätigen darf, die bereits im Kreis des Rates getroffen wurde. Wenn man nach einer Bestimmung sucht, die für das Demokratiedefizit der Union schlechthin steht, dann ist es dieses Verfahren.
Noch am Anfang des Jahres 2003 hatte Bundesaußenminister Fischer vollmundig erklärt: „Mit der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament gewinnen beide Organe: das Parlament an politischem Einfluss, die Kommission an Legitimität. Am meisten aber gewinnt der Unionsbürger, der erstmals mit seiner Stimme bei der Europawahl Einfluss nehmen kann. Dies wird die Sicht der Bürger auf die Europäische Union positiv beeinflussen und den politischen Willensbildungsprozess in Europa von Grund auf neu gestalten.“ An diese großen Worte möchte der noch deutsche Außenminister vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 sicher nicht mehr erinnert werden.
Der Artikel erschien in der Ausgabe 55 von September 2003 der Zeitschrift marxistische Erneuerung-Z.