Lebensmittel müssen gesund und sicher sein

Christel Fiebiger

Artikel im Europabrief 15 (Oktober 2003), Herausgeber Staatskanzlei Sachsen-Anhalt

Meine erste Rede als Europaabgeordnete hielt ich am 5.10.1999 im Plenum des Europäischen Parlaments zum Thema „Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit“. In ihr kritisierte ich, dass durch den verschärften Wettbewerb „um möglichst billige Agrarprodukte der Lebensmittelproduktion schwerer Schaden zugefügt wurde und viele aktive Landwirte, die nach guter bäuerlicher Praxis arbeiteten, die Produktion aufgeben (mussten)“. Ich wandte mich gegen Vorkommnisse einer „massiven industriellen Kontaminierung von Futtermitteln durch Zusatzstoffe, die ohne Beachtung einer zulässigen Höchstgrenze eingesetzt wurden“. Schlussfolgernd verlangte ich, die Lebens- und Futtermittelsicherheit ordnungspolitisch höher anzusiedeln und vor allem „die Rückverfolgbarkeit des Viehfutters“ zu spezifizieren und schnell die Voraussetzungen zur Bestrafung „krimineller Praktiken“ zu schaffen. Dieser Rede folgten bis zum heutigen Tag weitere zwölf 12 Reden zur Lebens- und Futtermittelsicherheit – das ist immerhin ein Viertel meiner bisher 49 Plenarreden.

Allein hieran wird deutlich, dass Fragen der Lebensmittelsicherheit ein „Dauerbrenner“ im Europaparlament sind und einen nie da gewesenen Stellenwert einnehmen. Zugleich zeigt die anhaltende parlamentarische Beschäftigung mit dieser Problematik, dass es hierbei um sehr komplizierte und komplexe Fragestellungen geht und dass noch viel zu tun bleibt.

Verbraucherschutz durch Markttransparenz

Die Lebensmittelbranche gehört zu den Bereichen, in denen Rohstoffe und veredelte Endprodukte nicht nur weltweit gehandelt werden, sondern auch einer Vielzahl von Standards, Normen und Kontrollen unterliegen. Gleichzeitig ist die Ernährungskette sehr störanfällig. Ob Pflanzenschutzmittel oder Zusatzstoffe wie Aromen, Süßstoffe und Emulgatoren – sie werden auf gesundheitliche Unbedenklichkeit geprüft; Rückstands-Höchstmengen werden festgelegt; Frischwaren werden auf die Belastung mit chemischen Rückständen oder Erregern kontrolliert; Tierseuchen und Lebensmittelinfektionen muss vorgebeugt werden; usw. All dies wird vor allem auf EU-Ebene im Lebensmittelrecht durch Vorschriften und Verordnungen geregelt. Aber auch die Mitgliedstaaten stellen z. T. unterschiedliche Normen auf.

Und dennoch machen Lebensmittel- oder Futtermittelskandale immer wieder die Runde. Dioxin, Nitrofen, Salmonellen, Antibiotika, Gen-Food-Verunreinigungen – die Liste wird immer schneller immer länger. Tatsächlich wissen die Verbraucher nicht, was wirklich in den Lebensmitteln steckt. Trotz oder gerade wegen der auf weit über 1.000 angestiegenen Zahl der Lebensmittel-Gütesiegel, Herkunftszeichen und Firmenlogos, die am deutschen Markt um die Gunst der Verbraucher konkurrieren, ist es oft schwierig, hier die Spreu vom Weizen zu trennen.
Trotzdem muss hervorgehoben werden, dass vom Europaparlament bereits einiges auf den Weg gebracht bzw. eingefordert wurde. Das betrifft die Etablierung einer klaren Deklarationspflicht der Inhalts-, Zusatz- und Konservierungsstoffe sowie der Produktionshilfsmittel auf nationaler und europäischer Ebene, aber auch das Eintreten für globale Regelungen bei den WTO-Verhandlungen.

Rechte der Verbraucher stärken

Eine eigens zur Risikobewertung und Überwachung von Lebensmitteln eingerichtete „Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit“ (EBLS) wird nun die wissenschaftliche und analytische Arbeit bei Rohstoffen und Lebensmitteln in der EU zusammenführen. Damit wird die Verantwortung für Sicherheit, Qualität und Kontrollen der Nahrungsmittel auf eine zentrale Behörde übertragen. Die Unternehmen sind zwar belangbar, wenn sie unsichere Lebens- oder Futtermittel auf den Markt bringen. Das schützt jedoch nicht vor weiteren Vorkommnissen und Fehltritten in der Branche. Auch dürfen Bund und Länder die ihnen obliegenden Inspektionen bei derzeit 30.000 verschiedenen Lebensmittelartikeln in Deutschland nicht dem Sparprinzip opfern. Selbstkontrolle und Selbstverpflichtungen der Hersteller, bestimmte Standards einzuhalten, sind keinesfalls ausreichend. Die einzig erfolgversprechende Lösung besteht in einer verstärkten, unabhängigen staatlichen Kontrolle, an der sich die Unternehmen finanziell beteiligen. Es kann nicht sein, dass immense Gewinne in der Lebensmittelbranche privatisiert werden und letztlich nur die Steuerzahler für die Kontrollaufgaben aufkommen.

Verbraucherrechte sind in vielen Gesetzen bis hin zum Grundgesetz verankert. Dennoch gehört der Missbrauch wirtschaftlicher Macht, insbesondere der wenigen global agierenden Verarbeitungsunternehmen und Einzelhandelsketten, zum System. In Deutschland beherrschen zehn große Ladenketten 80 Prozent des Lebensmittelmarktes. Sie diktieren dem Verbraucher wie auch den Herstellern von Lebensmitteln bis zum Bauern Preis, Qualität und Herkunft. Der Verbraucher spürt gar nicht, wie er zunehmend Lebensmittel – trotz unterschiedlicher Marken und Preisvariationen – vom Discounter bis zur Gourmet-Klasse nur noch von ein und denselben Lebensmittelkonzernen kauft. Problematisch hieran ist auch, dass Lebensmittelsicherheit und nicht sichtbare Qualitätsparameter oft nur Vertrauenssache sind.
Gesetzliche Regelungen und demokratische Kontrolle sind die eine Seite. Andererseits müssen sich die Verbraucher selbst auf ihre Nachfragemacht besinnen. Sie können der Wirtschaft deutliche Grenzen setzen. Kauft „König Kunde“ qualitativ nachhaltige, regionale und ethisch hochwertige Produkte, kann er umwelt-, tier- und menschenverachtenden Profitinteressen die „rote Karte“ zeigen. Eben hierzu bedarf es einer verbraucherorientierten Markttransparenz, d. h. verständlicher und ehrlicher Angaben über Inhaltsstoffe, Produktionsweisen, Herkunft.

Der Schutz der Verbraucher vor gesundheitlichen Risiken sowie rechtlichen und wirtschaftlichen Nachteilen muss Vorrang vor Kapitalinteressen haben. Für das Lebensmittelrecht heißt das:
● Anerkennung des Verbraucherschutzes als durchgängiges Leitprinzip im EU-geregelten Lebensmittelrecht, einschließlich des Schutzes vor Täuschung und unzureichender Kennzeichnung,
● Ausschluss gesundheitlicher Risiken sowie Berücksichtigung der Umweltbelange und ethischer Wertvorstellungen bei der Lebensmittelproduktion und –hygiene,
● Demokratische Erarbeitung eines Verbraucherleitbildes für alle EU-Mitgliedstaaten, in dem die Verbraucherrechte EU-weit nach demokratischer Mitgestaltung, Transparenz, Verbraucherinformation, Wahlfreiheit und Vorsorge zu Gesetzeszwecken erklärt werden,
● Festschreibung von Verbraucherschutzstandards bei den WTO-Verhandlungen und der Erweiterung der EU,
● Stärkung der gesellschaftlichen und politischen Autorität von Gewerkschaften, Verbraucherschutzorganisationen und Bürgerinitiativen sowohl bei der weiteren EU-rechtlichen Rahmengesetzgebung als auch bei den WTO-Verhandlungen.

Aber auch bei bester Lebensmittelsicherheit steht als Problem, dass zahlreiche Zivilisationskrankheiten in direktem Zusammenhang mit der heutigen Ernährung stehen. So betragen die Kosten der ernährungsbedingten Krankheiten allein in Deutschland 65 Mrd. Euro pro Jahr. Die Hinwendung zu einer qualitativ vielseitigen Nahrung scheint geboten; sie könnte eine Synergie zwischen Gesundheitsvorsorge und nachhaltiger Landwirtschaft bewirken. Es sollte klar sein, dass eine solche Nahrung nicht zu „Ramschpreisen“ zu haben ist, trotzdem aber bezahlbar bleiben muss.

Christel Fiebiger, MdEP