Die „erste Verteidigungslinie“ wird im Ausland errichtet – Europäische Union nimmt Kurs auf militärisch-strategische Selbstbestimmung, erschienen in „Neues Deutschland“, am 01. November 2003
Mit bald 25 Staaten, 450 Millionen Menschen und einem Viertel der Weltwirtschaftsleistung wird die EU globaler Akteur, aber ihre politischen Instrumentarien und militärischen „Fähigkeiten“ sind im Vergleich zu den USA sehr begrenzt. Bereits 1986 vereinbarten die damals 12 EG-Staaten, eine „gemeinsame Außenpolitik“ zu verwirklichen. Aber kein Staat war (und ist) bereit, hier nationale Souveränität an „Brüssel“ abzugeben, weshalb nur eine brüchige zwischenstaatliche Zusammenarbeit zustande kam. Alle Entscheidungen müssen einstimmig getroffen werden. Mit dem Maastrichter EU-Vertrag wurde 1993 ein neuer Rahmen – die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) – eingeführt (dem künftig auch die Bereiche Handel, Entwicklungshilfe, Zusammenarbeit mit Drittstaaten und humanitäre Hilfe als Gemeinschaftsaufgaben zugeordnet werden). Erstmals erhielt die Union mit Maastricht sicherheitspolitische Verantwortung, die sich jedoch wie die Außenpolitik auf die zwischenstaatliche Zusammenarbeit beschränkt. Als vage Option wurde beschlossen, auch eine „gemeinsame Verteidigung“ zu entwickeln, die bis heute aber nicht umgesetzt wurde.
Interventionen im Visier
„Verteidigungskomponente“ der Union und Instrument zur Stärkung des »europäischen Pfeilers« der NATO sollte zunächst das Militärbündnis WEU werden, das seit seiner Gründung 1948 ein Schattendasein fristete. 1992 verständigte sich der WEU-Ministerrat auf die Petersberg-Aufgaben – ein subtiles Gemisch ziviler und militärischer „Missionen“, benannt nach dem Tagungsort bei Bonn. Es beinhaltet „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen«. Rechtlich verankert wurden diese Aufgaben 1997 im Rahmen der GASP in Artikel 17 des Amsterdamer EU-Vertrags, und die WEU wurde zum „integralen Bestandteil“ der Union erklärt. Während die Frage der Verteidigung – die kollektive Verteidigung der Mitgliedstaaten – völlig außen vor blieb, rückte die militärinterventionistische Krisenbewältigung ins Zentrum der EU-Politik. Anlässlich ihres Treffens 1998 in St. Malo gaben Frankreichs Staatspräsident Chirac und der britische Premier Blair die Marschrichtung vor: Die EU müsse »in der Lage sein, ihre Rolle auf der internationalen Bühne voll und ganz zu spielen.« Dazu gehöre, dass »die Union über eine autonome Handlungsfähigkeit verfügen (muss), die sich auf glaubwürdige militärische Kräfte stützt, mit der Möglichkeit, sie einzusetzen, und mit der Bereitschaft, dies zu tun, um auf internationale Krisen zu reagieren.« Allerdings liegen dieser Gemeinsamkeit unterschiedliche Motive zugrunde. Während Frankreich – zunehmend unterstützt von Deutschland und anderen EU-Mitgliedern – die sicherheitspolitische Emanzipation Europas anstrebt, zielt Großbritannien (mit Spanien und nunmehr auch den meisten osteuropäischen Beitrittsländern) vorrangig auf einen größeren Beitrag in der US-Hegemonialstrategie und vollzieht seitdem einen Dauerspagat zwischen Washington und Brüssel.
Den entscheidenden Schritt zur Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) vollzogen die Staats- und Regierungschefs Ende 1999 in Helsinki. Der Kern ihrer Vereinbarungen findet sich in Umsetzung von Artikel 17 Amsterdamer Vertrag in Punkt 27, wo es heißt: „Die EU muss in der Lage sein, autonom Beschlüsse zu fassen und in den Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht einbezogen ist, (…) EU-geleitete militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen.“ Die Beschlussfassung dazu liegt beim EU-Ministerrat; das Europaparlament hat keine Mitwirkungsrechte, woran sich bis heute nichts geändert hat. Die Militärkooperation blieb damit in der Regierungszusammenarbeit und wird auch weiterhin nicht als Gemeinschaftsaufgabe wahrgenommen. In Punkt 27 heißt es ausdrücklich, der Aufbau von EU-geführten Krisenstreitkräften impliziere »nicht die Schaffung einer europäischen Armee«, was die Preisgabe der diesbezüglichen Souveränitätsrechte erfordern würde. »Parallel« zur militärischen wurde ein Mechanismus zur nichtmilitärischen Krisenbewältigung geschaffen (eigene Polizeikräfte eingeschlossen), tatsächlich trat aber die präventive zivile Konfliktbewältigung in den Hintergrund.
Weichen für den Konvent waren gestellt
In Umsetzung der Helsinki-Beschlüsse ist eine hochmobile, der EU zugeordnete Eingreiftruppe mit 60 000 Mann geplant, die jedoch aufgrund leerer Kassen nur zögerlich voranschreitet. Aufgebaut werden eine gemeinsame Streitkräfteführung und strategische Aufklärung rund um das Satelliten- und Radarsystem Galileo. Mit dem Airbus Truppentransporter A 400M soll ein eigenes Lufttransportkommando entstehen. Harmonisiert werden die Rüstungsplanung und -beschaffung. Inzwischen haben innerhalb des Ministerrats drei neue Gremien – ein Militärausschuss und ein Militärischer Stab sowie ein Ständiger Ausschuss für Politische und Sicherheitsfragen, dem strategische Planungsaufgaben und das operative Krisenmanagement übertragen wurden – ihre Tätigkeit aufgenommen. Obwohl die für autonome Militäroperationen notwendigen Kapazitäten bei weitem noch nicht vorhanden waren, konstatierten die Staats- und Regierungschefs Ende 2000 in Nizza: „Die EU ist nunmehr in der Lage, einige Operationen zur Krisenbewältigung durchzuführen.“ Damit waren wichtige Weichen gestellt, bevor der Verfassungskonvent im Februar 2002 seine Arbeit aufnahm. Die Machtverhältnisse in diesem Gremium und ein seit dem Irak-Krieg wachsendes Interesse an mehr Selbständigkeit gegenüber den USA sind wohl dafür verantwortlich, dass einerseits das militärische Arsenal der ESVP (im Verfassungsentwurf jetzt GSVP genannt) deutlich verstärkt, die EU aber andererseits ausdrücklich zur Förderung des Friedens, zur strikten Einhaltung des Völkerrechts und zur Wahrung der Grundsätze der UNO-Charta verpflichtet wurde. Terrorismusbekämpfung sowie Abrüstungs- und militärische Unterstützungsmaßnahmen in Drittstaaten (Artikel III-210) ergänzen jetzt die Petersberg-Aufgaben. Damit können EU-Kräfte – wie bei der Concordia-Mission in Mazedonien oder der geplanten Ablösung der NATO in Bosnien – verstärkt die »nachsorgende Friedenssicherung« übernehmen. Artikel I-40 (5) erlaubt einer „Gruppe“ von EU-Staaten, „Missionen“ zu übernehmen, was wie die „strukturierte Zusammenarbeit“ williger und militärisch befähigter Mitgliedstaaten gemäß Artikel I-40 (6) die Interventionsschwelle für die EU absenken kann. Allerdings erfordern Beschlüsse zur Durchführung von „Missionen“ entsprechend Artikel I-40 (4) Einstimmigkeit im Ministerrat. Schließlich sollen die Mitgliedstaaten nach Artikel I-40 (3) „ihre militärischen Fähigkeiten verbessern“, was durch die neue Rüstungsagentur, die keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt, beschleunigt sowie effizienter und kostengünstiger gestaltet werden soll.
USA wollen Kontrolle behalten
An diesen Ergebnissen hatte der von Außenminister Fischer und seinem französischen Kollegen de Villepin im November 2002 dem Konvent unterbreitete Vorschlag über die Fortentwicklung der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ zur „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion“ erheblichen Anteil. Beiden ging es darum, die europäische Integration auch im Sicherheits-, Rüstungs- und Verteidigungsbereich voranzubringen. Ihrer Meinung nach soll die EU künftig als „Verteidigungsunion“ auch „die Sicherheit ihres Gebiets und ihrer Bevölkerung gewährleisten“. Obwohl NATO-Generalsekretär Robertson dem Konvent beschied, die Verteidigung Europas müsse ausschließlich Sache der NATO bleiben, erhielt die EU erstmals mit Artikel I-40 (7) eine Klausel für eine „engere Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen Verteidigung“ für den Fall eines bewaffneten Angriffs von außen entsprechend dem Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UNO-Charta. Aber nicht nur diese Klausel, die gesamte GSVP ist den USA suspekt, weil sie befürchten, die Kontrolle über Europa zu verlieren, deren Hauptstütze die NATO ist. Genau dahin zielt der im April von Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg unterbreitete Vorschlag, die Planungs- und Kommandoeinheit für EU-Militäroperationen nicht im NATO-Hauptquartier anzusiedeln, sondern dafür eigene Strukturen zu schaffen. Die im Verfassungsentwurf aufgenommene „strukturierte Zusammenarbeit“ und die Rüstungsagentur sind Washington ebenfalls nicht geheuer. Im Gegenzug interpretiert nun die Bush-Administration das Berlin-plus-Abkommen (das die militärische Zusammenarbeit zwischen NATO und EU regelt) dahingehend, dass die NATO (ergo die USA) vorab zu entscheiden hätten, ob die EU ein „Krisenmanagement“ übernehmen darf, selbst dann, wenn Europa das Operationsgebiet ist und militärische Mittel der Allianz nicht beansprucht werden.
Keine gemeinsame Außenpolitik der EU
Der Irak-Krieg spaltete die EU. Dies offenbarte, dass es im Grunde noch keine „europäische Außenpolitik“ gibt. Auch der Konvent vermochte es nicht, die Tür für eine gemeinsame Außenpolitik der EU weiter zu öffnen, denn das hätte vor allem eine Abkehr von einstimmigen Beschlüssen im Ministerrat hin zu Mehrheitsentscheidungen erfordert. Politisch richten soll dies nun das Strategiekonzept „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“, das der EU-Außenbeauftragte Solana im Juni vorlegte und das im Dezember verabschiedet werden soll. Es versucht, die unverändert nationalstaatlichen und zum Teil konträren Außenpolitiken der Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame, von den USA übernommene Bedrohungsanalyse (Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, instabile Staaten) und auf gemeinsame Ziele (Stabilität in unmittelbarer Nachbarschaft der EU) unter dem Dach der Union einzuschwören. Die „erste Verteidigungslinie“ soll außerhalb der EU aufgebaut werden, womit ein Gürtel „stabiler Staaten“ von Belorussland über den Kaukasus bis zum südlichen Mittelmeerraum gemeint ist, und wozu auch die Lösung des Nahostkonflikts gehöre.
Darüber hinaus bezeichnet Solana die durch die halbkoloniale Ausbeutung des Südens verursachte weltweite Instabilität, Unterentwicklung, Armut, Hunger und Krankheiten als „Gefahren“ für Europas Sicherheit. Keine der Bedrohungen sei nur militärischer Natur, folglich könne keiner von ihnen nur militärisch begegnet werden, wie es im Papier heißt. Die EU soll möglichst vor Ausbruch einer Krise agieren und müsse zur „frühen, schnellen und falls notwendig robusten Intervention“ bereit sein. Dabei soll Europa aber nicht den Präventivkriegspfad à la Bush, sondern eigene Wege beschreiten. So heißt es in der Begründung einer Resolution des Europaparlaments: „Eine europäische Sicherheitsstrategie muss dem auf das Militärische verengten Sicherheitsdenken der amerikanischen Administration einen umfassenden Sicherheitsbegriff gegenüberstellen, der politische, wirtschaftliche, soziale und interkulturelle Anstrengungen zur Milderung und Lösung von Konflikten einschließt.“ Europas „Wohlstand“ – sprich der Zugang seiner Multis zu Rohstoffen und Absatzmärkten – hinge laut Solana von einem stabilen „multilateralen System“ ab, weshalb der UNO-Charta „fundamentale Bedeutung“ zukomme und WTO, Internationaler Strafgerichtshof, OSZE und Europarat gestärkt werden müssten. Europas „Druckmittel“ seien vor allem die Handels- und Entwicklungspolitik. EU-Militärinterventionen sollen demzufolge als „letztes Mittel“ stattfinden – „völkerrechtsgemäß“ mit Zustimmung des Weltsicherheitsrats und so mit den Weihen der UNO versehen. Exakt nach diesem Raster verlief in diesem Jahr die von Frankreich geführte EU-Militärmission „Artemis“ in Kongo, an der auch Deutschland beteiligt war.