Ein neues europäisches Sozialmodell?
Die Europäische Union und der Umbau der sozialen Sicherung
Ein neues europäisches Sozialmodell?
Die Europäische Union und
der Umbau der sozialen Sicherung
Wenn es um das »Europäische Sozialmodell« geht, so finden die Amts- und Würdenträger der Europäischen Union stets feierliche Worte: der Grundwert der »Solidarität« müsse gegenüber dem US-Modell mit allen Mitteln verteidigt werden. Der Sozialstaat europäischer Prägung sei schließlich auch eine Quelle vitaler wirtschaftlicher Produktivität, und die kaum entwickelte Sozialstaatlichkeit in den USA für diese ein Handicap. Angesichts der Globalisierung sei es allerdings unerlässlich, die Sozialschutzsysteme zu modernisieren. Die Europäische Kommission spricht davon, dass die Sozialsysteme veränderten gesellschaftlichen Realitäten und Bedürfnissen angepasst werden müssten. Das ist nicht falsch, denkt man etwa an die soziale Absicherung von Kindererziehungszeiten und sonstigen Karriereunterbrechungen in der Rentenversicherung, oder denkt man an den Zugang bisher nicht versicherungspflichtiger Jugendlicher, Hausfrauen und anderer zu Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen oder weiteren Angeboten der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die Frage ist nur: will die Politik die gebeutelten Sozialsysteme dabei solidarisch erneuern und den Schutz umfassender ausbauen – oder will sie ihnen eine Schrumpfkur auferlegen, so dass die Einzelnen die sozialen Risiken in Eigenvorsorge zunehmend selbst schultern müssen?
Viele Menschen fragen sich zudem, was »Europa« eigentlich mit den sozialen Sicherungssystemen zu schaffen hat, wird doch allseits beteuert, dass für Arbeitslosenversicherung, für Kranken- und Pflegeversicherung und das Rentensystem die nationalen Mitgliedstaaten zuständig sind. Dies ist laut geltendem EU-Vertrag auch tatsächlich der Fall. Die Europäische Union wird in der Regel »ergänzend« tätig, so bei der Formulierung sozialer Mindeststandards im europäischen Binnenmarkt oder bei Arbeitsschutzrichtlinien. Ratsentscheidungen im Bereich des sozialen Schutzes und der sozialen Sicherheit müssen nach wie vor einstimmig gefällt werden. Allerdings haben die Mitgliedstaaten auch beschlossen, ihre nationalen Politiken im Bereich der Beschäftigungspolitik und in Teilen der Sozialpolitik zu koordinieren. So sind im Amsterdamer EU-Vertrag von 1997 ein Kapitel zur Beschäftigungspolitik und das Ziel einer Koordination beim Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung aufgenommen worden. Bei dieser Zusammenarbeit vergleichen sie die jeweiligen nationalstaatlichen Praktiken, um etwa »bewährte und positive« Modelle aus anderen Mitgliedstaaten bei sich einzuführen. Und sie setzen sich auf europäischer Ebene bisweilen gemeinsame Ziele, wie etwa bei den EU-Leitlinien zur Beschäftigungspolitik.
Abbau von Rechten durch Koordination?
Jenseits dieser vertraglichen Bestimmungen hat der EU-Gipfel von Lissabon im März 2000 eine sogenannte »neue Methode der offenen Koordination« eingeführt. Dies ist ein Verfahren der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten, das ebenfalls »bewährte Praktiken« auffinden soll und gegebenenfalls zu EU-weiten Zielen und Leitlinien führen kann. Betroffene zivilgesellschaftliche Verbände und die Tarifparteien sollen zu den Zielen dieser »offenen Koordinationsverfahren« angehört werden. Seit Lissabon hat der Europäische Rat eine solche Koordination zur Rentenpolitik beschlossen und eine weitere für das Gesundheitswesen und die Altenpflege geplant. So weit, so ehrenwert, möchte man sagen. Doch welche Ziele verfolgen diese unterschiedlichen Koordinationsprozesse konkret?
Auf europäische Ziele bei der Arbeitslosenversicherung, der Rente und in Gesundheitswesen und Altenpflege ließe sich detailliert nur mit jeweils eigenen Beiträgen eingehen. Deshalb sei an dieser Stelle nur Folgendes knapp umrissen:
1. Der EU-Gipfel in Barcelona beschloss im März 2002 eine Überprüfung der Anreize der Arbeitsmarktpolitik. Anspruchsberechtigung, Leistungsdauer, Lohnersatzquote und -ergänzungsleistungen in der Arbeitslosenversicherung werden an verschärfte Auflagen gebunden. Weiterhin sollen »die Kosten in Zusammenhang mit der Formulierung und Beendigung von Arbeitsverträgen« überprüft werden. Damit sind eine »Flexibilisierung des Arbeitsvertragsrechts« und zum Beispiel die Lockerung des Kündigungsschutzes gefordert. Ebenfalls soll die faktische Lebensarbeitszeit im EU-Durchschnitt um fünf Jahre verlängert werden. Mit dem Ausstieg aus Frühverrentungsprogrammen und »Anreizen« fürs Arbeiten bis zur Rentenaltersgrenze will die EU verhindern, dass viele Menschen aus dem Berufsleben ausscheiden, bevor sie das gesetzliche Rentenalter erreicht haben.
2. Der EU-Gipfel in Laeken hat im Dezember 2001 die »offene Koordination« in der Rentenpolitik eröffnet. Inzwischen liegen Berichte der Mitgliedstaaten zu ihren nationalen Rentenpolitiken vor. Die europäischen Vorgaben lauten ganz allgemein, die sozialen Ziele und die Finanzierbarkeit der Rentensysteme zu sichern sowie sie an veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse anzupassen. Dabei geht man inzwischen von einem dreigliedrigen Rentensystem aus. Eine erste Säule der solidarischen Rentenversicherung soll eine Basisversorgung zur Verhinderung von Altersarmut gewährleisten. Die zweite Säule kapitalgedeckter privater Betriebsrentensysteme und die dritte Säule kapitalgedeckter privater Eigenvorsorge (Pensionsfonds) sollen dazu beitragen, darüber hinaus den erreichten Lebensstandard auch im Alter zu sichern. Die beiden letzten Säulen kennen in der Regel keine umverteilenden Ausgleichmechanismen, so dass sich die Alterseinkommen künftig stärker auseinander entwickeln. Einkommensrisiken im Alter werden so zunehmend auf die Einzelnen verlagert. Die Mitgliedstaaten werden zu weiteren »Reformen« aufgefordert, weil man befürchtet, dass wachsende Rentenausgaben zu höherer öffentlicher Verschuldung führen könnten. Der Druck auf weitere Kürzungen nimmt somit zu.
3. Das gleiche Motiv der Kostendämpfung treibt die geplante »offene Koordination« in Gesundheitswesen und Altenpflege an. Offiziell geht es auch um die Gewährleistung von Qualität und Zugang zu den Systemen, aber insbesondere um ihre Finanzierbarkeit. Die konservativ-liberale Mehrheit im Europäischen Parlament setzt auf mehr Wahlleistungen für die Patienten und einen europäischen Binnenmarkt für Gesundheitsdienste und -produkte.
Welche praktische Folgen haben diese europäischen Koordinationsprozesse für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger? Nun, das ist eine komplexe Angelegenheit.
Steter Tropfen höhlt den Stein
Die Koordinationsverfahren beinhalten in der Regel keine eigenständige europäische Gesetzgebung (EU-Richtlinien und -Verordnungen) in ihren jeweiligen Bereichen. Die EU kann den Mitgliedstaaten z. B. nicht vorschreiben, dass sie etwa die Arbeitslosenunterstützung auf 60 Prozent des vorherigen Monatsentgelts festzulegen haben. Dazu ist sie nicht befugt. Europäische Ziele und Leitlinien geben recht ohne harte Verbindlichkeit nur die grobe Richtung an, wohin die Mitgliedstaaten ihre Sozialsysteme „reformieren“ sollen – die Wahl der Mittel und Instrumente ist ihre eigene Angelegenheit und Zuständigkeit. Wenn ein Mitgliedstaat die EU-Ziele auf nationaler Ebene nicht verfolgt, muss er auch nicht etwa eine Strafe bezahlen, wozu er z. B. bei einem dauerhaften Haushaltsdefizit von mehr als 3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verpflichtet werden kann.
Die Koordinationsprozesse funktionieren eher über einen subtilen, aber stetigen Druck. Eine Regierung, die den EU-Zielen nicht folgt, muss sich gegenüber den anderen rechtfertigen. Sie wird in der Öffentlichkeit madig gemacht, wenn sie den „Umbau der Sozialsysteme“ nicht in der vom Europäischen Rat vereinbarten Richtung betreibt. Andere hingegen benutzen die EU-Ziele als verstärkendes Argument, um den Abbau des Sozialstaats fortzusetzen. Die deutsche Bundesregierung etwa hat die Riester-Rentenreform und das Hartz-Konzept zur Arbeitsmarktreform ganz von alleine auf den Weg gebracht. Doch sie nutzt die Koordinationsverfahren auf EU-Ebene, um sie mit Verweis auf die gemeinsamen Ziele in Europa zu vertiefen.
Die Koordinationsverfahren haben damit die Funktion, den Mitgliedstaaten ein Leitbild und einen Kompass für ihre „Reformen“ auf nationalstaatlicher Ebene an die Hand zu geben. Das so Gestalt annehmende »neue europäische Sozialmodell« zielt in erster Linie auf Kostensenkung, Leistungsabbau und Privatisierung sozialer Risiken, um die EU-Wirtschaft »wettbewerbsfähiger« zu machen. Im Gegensatz zu den hehren Beteuerungen der EU-Amts- und Würdenträger würde es damit dem anglo-amerikanischen Modell des »schwachen Sozialstaats« immer ähnlicher.
Wirksame Massenproteste
Solcherlei »Modernisierung der Sozialsysteme« ist weiter unten, bei breiten Schichten der Bevölkerung, nicht sonderlich beliebt. In Griechenland etwa kam es schon im Frühjahr 2001 zu zwei machtvollen Generalstreiks gegen die geplante Rentenreform der sozialdemokratischen Regierung von Kostas Simitis. Die Regierung wollte das allgemeine Rentenniveau von 80 Prozent auf 60 Prozent absenken und die gesetzliche Mindestrente deutlich kürzen. Die Gewerkschaften verweigerten Verhandlungen über dieses Vorhaben. Nach den Generalstreiks hat die Regierung ihre Pläne bislang auf Eis gelegt.
In Spanien richtete sich im Juni 2002 ein von den Gewerkschaften UGT und CCOO organisierter Generalstreik gegen Pläne der konservativen Regierung von José Maria Aznar, die Arbeitslosenversicherung auszudünnen. Die Zahlung von Arbeitslosengeld sollte an verschärfte Auflagen geknüpft und insbesondere für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und im Tourismus sollten Schutzrechte massiv abgebaut werden. Der Widerstand der Gewerkschaften war in der öffentlichen Meinung so populär, dass Aznar seinen Arbeitsminister auswechseln musste. Der neue Arbeitsminister hat anschließend den größten Teil der angekündigten Verschärfungen zurückgenommen.
Italien wurde im Herbst 2002 von einem breiten Generalstreik der Gewerkschaft CGIL gegen den »Pakt für Italien« durchgeschüttelt, den die rechtspopulistische Regierung Silvio Berlusconis mit den konservativen Gewerkschaften CISL und UIL ausgehandelt hatte. Der »Pakt« beinhaltete eine Schwächung des Kündigungsschutzes, eine Reform der Arbeitslosenversicherung nach dem Modell des »Förderns und Forderns« wie in Großbritannien und Deutschland, sowie unzureichende Hilfen für die Entwicklung Süditaliens.
In Portugal organisierte die Gewerkschaft CGTP im Dezember 2002 einen äußerst populären Generalstreik gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts der konservativ-rechtspopulistischen Regierung von José Manuel Barroso. Diese will unter anderem den Kündigungsschutz aufweichen und Regelungen zu Arbeitszeit und Überstunden verschlechtern. Und auch im Großbritannien Tony Blairs machten die Gewerkschaften mit Massenaktionen gegen die Pläne zur Teilprivatisierung öffentlicher Dienste mobil.
Auch wenn es sich zunächst »nur« um Abwehrkämpfe handelt, so waren sie doch zu einem guten Teil recht erfolgreich. Mit einer Beteiligung, die weit über die betroffenen Gewerkschaften hinausreichte, brachten die Aktionen eine verbreitete Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage und dem unsozialen »Modernisierungskurs« der jeweiligen Regierungen zum Ausdruck. Die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken (GUE/NGL) im Europäischen Parlament hat vor diesem Hintergrund ihre schon in 2002 begonnene Zusammenarbeit mit dem Forum Soziales Europa ausgebaut, einem Netzwerk linker Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus mehreren EU-Staaten. Gemeinsam will man sowohl die Veränderungen hin zu einem wettbewerbsorientierten neuen Europäischen Sozialmodell vertieft analysieren als auch Konzepte zu einer grundlegenden, egalitären und emanzipatorischen Erneuerung der Sozialsysteme erarbeiten.
Die Linke muss Alternativen entwickeln
Aus einem anderen Blickwinkel, aber mit durchaus ähnlicher Stoßrichtung wird auch im Europäischen Sozialforum und im Netzwerk europäischer alternativer Wirtschaftswissenschaftler (Euromemo) an Alternativen gearbeitet. Euromemo hat Vorschläge für einen alternativen Kurs bei den Rentenreformen vorgestellt und wird 2003 schwerpunktmäßig an einer Konzeption zum Schutz öffentlicher Güter und zur Erneuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge arbeiten. In beiden Zusammenhängen wirkt die GUE/NGL aktiv mit.
Das Projekt einer alternativen europäischen Linken, die sich nach einer Serie von Niederlagen bei den letzten nationalen Wahlen in Europa wieder stärker mit einem populären Widerstand gegen Sozialabbau und neoliberale Globalisierung verbindet, steht offenbar auf der Tagesordnung. Hier sind neben politischen Parteien auch Bewegungen, Verbände und soziale Organisationen gefordert, damit einerseits die Vielfalt der Betrachtungsweisen und Befindlichkeiten eingebracht und andererseits eine Aufgabenteilung ermöglicht wird. «Wir wissen auch, dass Selbstbestimmung die einzige Möglichkeit ist, die diese Kräfte haben, um gemeinsam zu leben und wirksam zu sein. (…) Für alle, die eine alternative Linke aufbauen möchten, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich zu verabreden, um über sich selbst und die eigene Zukunft zu diskutieren, um eine Grundlage für eine neue und vielfältige politische Subjektivität zu schaffen«, schrieb unlängst Italiens linker Frontmann Fausto Bertinotti. Ob die europäische Linke für die Europawahl 2004 einen tragfähigen Bogen zustande bringt von den angestrebten »systemischen« Reformen für das soziale Europa hin zur Unzufriedenheit wachsender Bevölkerungsteile mit der herrschenden Politik und zu einer plausiblen Umsetzungsstrategie, hängt von ihr selbst ab.
Der Artikel ist abgedruckt in der Zeitschrift disput, Ausgabe März 2003
Klaus Dräger ist Mitarbeiter der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Beschäftigungs- und Sozialausschuss des Europäischen Parlaments.
Quelle:
disput März 2003