Gesundheitssysteme: Solidarisch erneuern statt kaputt sparen!
Zum Mantovani-Bericht zur `Zukunft des Gesundheitswesens und der Altenpflege´ erklärt der sozialpolitische Sprecher der PDS-Gruppe im Europäischen Parlament, André Brie:
Wir kritisieren, dass bei der geplanten EU-weiten „offenen Koordinationsmethode“ im Gesundheitswesen und der Alterpflege rein finanzpolitische Motive vorherrschen. Ähnlich wie bei der bereits laufenden offenen Koordination zu den „Rentenreformen“ geht es dem Rat in erster Linie darum, eine befürchtete „Kostenexplosion“ in Gesundheitswesen und Altenpflege einzudämmen, um so weiter wachsende Defizite der öffentlichen Haushalte zu vermeiden.
Angeblich sollen der Überalterungsprozess der Gesellschaft und hohe Kosten des medizinischen Fortschritts diese „Kostenexplosion“ antreiben. Diese Prognose ist jedoch nicht tragfähig. Ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung für das bundesdeutsche Wirtschaftsministerium vom Oktober 2001 zeigte im Gegenteil, dass der demografische Wandel nur relativ geringe Auswirkungen auf die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen haben wird. Entscheidend für die Kosten ist zudem nicht das Lebensalter, sondern die Nähe zum Tod: im letzten Lebensjahr fallen ca. 1/3 der lebenslangen Versorgungskosten an, bei jünger Versterbenden sind sie noch wesentlich höher als bei älteren Menschen.
Prognosen über die Kosten des medizinischen Fortschritts hängen laut diesem Gutachten derart von den gewählten Ausgangsannahmen ab, dass keine verlässlichen Aussagen auf mittlere bis lange Sicht getroffen werden können. Weiterhin stellte das DIW fest, dass auch der medizintechnische Fortschritt in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten beitragssatzneutral verarbeitet werden konnte.
In der Bundesrepublik sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen in den letzten 20 Jahren nicht schneller als das Wirtschaftswachstum gestiegen. Das ist bemerkenswert, weil die Krankenversorgung im Vergleich zu anderen Branchen außerordentlich dienstleistungs- und personalintensiv und damit ein unterdurchschnittlich rationalisierungsfähiger Wirtschaftsbereich ist.
Was tatsächlich steigt, sind die Beitragssätze, von ca. 12,5% zu Beginn der achtziger Jahre auf heute durchschnittlich 14%. Die Beitragssätze steigen aber nicht wegen explodierender Kosten, sondern vor allem wegen sinkender Einnahmen aufgrund der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit, der Ausdehnung geringfügiger und prekärer Arbeitsverhältnisse und verteilungspolitischer Verwerfungen.
Weil der Rat so eine überwiegend betriebswirtschaftlich und finanzpolitisch verengte Sichtweise auf die Probleme des Gesundheitswesens vorgibt, die zudem noch von der fragwürdigen Annahme einer „Kostenexplosion“ ausgeht, beherrscht der Ruf nach mehr Markt, mehr Wettbewerb und einer Deregulierung des Gesundheitswesens die Diskussion. Wie das Beispiel der USA zeigt, wird ein überwiegend marktwirtschaftlich und wettbewerbsförmig organisiertes Gesundheitssystem aber erst recht zu einer noch teueren und äußerst unsozialen Veranstaltung. Wir fordern daher die Europäische Kommission und den Rat auf, sich der Initiative der USA zur Liberalisierung der Gesundheitsdienste im Rahmen der laufenden GATS-Verhandlungsrunde entgegenzustellen.
Es ist mehr als befremdlich, dass der Rat keinerlei Verbindung zwischen der geplanten offenen Koordinierung in Gesundheitswesen und Altenpflege und dem jüngst verabschiedeten EU-Aktionsprogramm zur öffentlichen Gesundheit (2003 – 2008) herstellt. Dieses Aktionsprogramm formuliert eine integrierte gesundheitspolitische Strategie, die in allen Politikbereichen der EU (von der Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik bis hin zur Aussenpolitik) verankert werden soll. Sie setzt auf Gesundheitsförderung, den Ausbau von Prävention und Vorsorge, die Verbesserung der Qualität der Leistungen des Gesundheitswesens und die Bekämpfung sozialer Ungleichheit als Ursache gesundheitlicher Problemlagen. Sie folgt damit den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Wir begrüßen, dass der Mantovani-Bericht auf Initiative der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke darauf drängt, die EU-Strategie zur öffentlichen Gesundheit zum zentralen Angelpunkt der offenen Koordination im Gesundheitswesen und der Altenpflege zu machen. Statt bloßer Einsparungen in den bisher existierenden, überwiegend kurativen Gesundheitssystemen der Mitgliedstaaten gerät damit eine umfassende Erneuerung der Gesundheitspolitik in den Blick. Dies beinhaltet sowohl eine neue Sichtweise auf Gesundheitspolitik als ressortübergreifende Querschnittspolitik als auch den Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention. Letztere haben zudem ein hohes Potenzial zur Kosteneinsparung. Ein verbesserter Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz könnte Einspareffekte von bis zu 25 Prozent bei den Gesundheitskosten erzielen.
Wir kritisieren allerdings, dass der Mantovani-Bericht im Widerspruch zu dieser Logik die „Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Gesundheitsdienste und -produkte“ und „mehr Wahlleistungen für die Patienten“ fordert. Letzteres läuft darauf hinaus, die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Grund- und Wahlleistungen aufzuteilen. Damit würde der allgemeine Zugang zu einer hochwertigen Versorgung für alle abgeschafft, weil einkommensschwache Gruppen die Beiträge für kostenintensivere „Wahlleistungen“ nicht aufbringen können. Der Europäische Gewerkschaftsbund verweist zu Recht darauf, dass ein EU-Binnenmarkt für Gesundheitsdienste und -produkte durch die ihm zugrunde liegende Logik der Konkurrenz unweigerlich Spannungen erzeugt, die zu einer Trennung in „gute und schlechte Risiken“ innerhalb der Bevölkerung führen und damit den gleichen Zugang aller zu einer hohen Qualität des Versorgungsniveaus untergraben. „Binnenmarkt“ und „Wahlleistungen“ vertragen sich nicht mit dem Ziel der EU-Strategie zur öffentlichen Gesundheit, soziale Ungleichheiten abzubauen. Wir fordern hingegen, die umverteilenden und solidarischen Elemente der Versicherungs- und Finanzierungssysteme im Gesundheitswesen zu stärken. Dies könnte erreicht werden, indem alle Einkommensarten entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in die Finanzierung des Gesundheitswesens und der Altenpflege einbezogen werden.
Wir unterstützen deshalb die Forderungen von ATTAC und der Gewerkschaften zur solidarischen Erneuerung der Gesundheitssysteme gegen eine blinde finanzpolitische Strategie des Kapputtsparens und der marktorientierten Liberalisierung.
Büro Dr. André Brie
Brüssel/Berlin, 12. Januar 2003
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