Verfassungsentwurf ist ein historischer Kompromiss – jetzt die öffentliche Debatte über die Europas Zukunft führen
Zum Abschluss der Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Mitglied des Europäischen Konvents:
Heute hat der Konvent seine Arbeit offiziell beendet und einen Verfassungsentwurf für die Europäische Union vorgelegt, der ab Oktober von einer Regierungskonferenz abschließend geprüft wird. Es ist von historischer Bedeutung, dass damit erstmals in der Geschichte der EU eine Verfassung entstehen kann.
Der vorliegende Verfassungsentwurf trägt Kompromisscharakter. In ihn sind die unterschiedlichen Interessenlagen und Vorstellungen der Regierungen der Mitgliedstaaten und Beitrittsländer, der verschiedenen politischen Kräfte und der Zivilgesellschaft eingeflossen. Auch in meiner Fraktion im Europäischen Parlament gibt es sehr unterschiedliche Meinungen zur europäischen Integration, zur Europäischen Union und zum europäischen Verfassungsprozess.
Der heute verabschiedete Entwurf enthält im Vergleich zur derzeitigen EU zahlreiche Fortschritte. Er wird die Europäische Union auf jeden Fall demokratischer machen und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger stärken. Im Teil I des Vertragstextes wurde die Möglichkeit dafür eröffnet, dass die EU sozialer werden kann. Das ist insgesamt positiv zu bewerten und für mich als Mitglied des Konvents ausschlaggebend dafür, den Verfassungsprozess zu unterstützen.
Allerdings ist der nunmehr vorliegende Text im Hinblick auf die soziale Ausrichtung der Union nach wie vor in sich nicht stimmig im Hinblick auf die Werte und Ziele auf der einen und einzelnen Politikbereichen auf der anderen Seite. So wird in Teil I Vollbeschäftigung als Ziel europäischer Politik formuliert, während in Teil III – wie im jetzigen EG-Vertrag – lediglich von einem anzustrebenden hohen Beschäftigungsniveau die Rede ist. Es ist ferner für Bürgerinnen und Bürger kaum nachvollziehbar, wenn einerseits von „sozialer Marktwirtschaft“ und an anderer Stelle im neoliberalen Verständnis von „offener Marktwirtschaft“ gesprochen wird. Die Regierungskonferenz muss diese Widersprüche entsprechend der in Teil I fixierten Werte und Ziele korrigieren. Meiner festen Überzeugung nach muss künftig auch der Sozialbindung des Eigentums ein höherer Stellenwert als der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit eingeräumt werden.
Absolut inakzeptabel sind all jene Bestimmungen, die die weitere Entwicklung der EU hin zu einer Militärmacht befördern. Es ist ein gefährlicher Irrweg zu glauben, die EU müsse aufrüsten, um in der Welt eine anerkannte Rolle spielen zu können. Ich bin fest davon überzeugt: Internationales Ansehen wird die Europäischen Union dann erlangen, wenn ihre Wirtschaft nachhaltig prosperiert, eine beispielhafte Sozialpolitik Arbeitslosigkeit sowie Armut entschlossen bekämpft und eine gemeinsame Friedenspolitik nach außen entwickelt wird, die auf zivile Prävention und Konfliktlösungen setzt und mit den Menschen der südlichen Hemisphäre aktiv Solidarität übt.
Europa braucht endlich eine breite öffentliche Diskussion über seine Zukunft. Deshalb müssen die Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort über die Verfassung haben. Ich plädiere dafür, dass auch in Deutschland ein Referendum über den endgültigen Verfassungstext durchgeführt wird.
Brüssel, den 10. Juli 2003