Stoiber stellt sich gegen Demokratie und sozialen Fortschritt in Europa
Zum Interview „Brüssel macht uns zu Verwaltungsprovinzen“ von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber in der Zeitung „Die Welt“ vom 14. Juni erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Mitglied im Europäischen Verfassungskonvent:
Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef lehnt den soeben vom Konvent im Konsens verabschiedeten EU-Verfassungsvertragsentwurf mit der Begründung ab, die Europäische Union bewege sich in „Richtung Zentralisierung“, die den EU-Mitgliedstaaten die politischen Gestaltungsspielräume nehme und zu „Verwaltungsprovinzen“ degradiere. Das alles ist grober Unfug und der europapolitisch erfahrene Stoiber weiß das auch. So wird es einen europäischen „Zentralstaat“ schon deshalb nicht geben, weil die verfassungsgebende Gewalt auch weiterhin bei den EU-Mitgliedstaaten verbleibt. Bayerns Ministerpräsident hat bereits die Landtagswahlen am 21. September im Visier – und setzt populistisch auf die gerade unter CSU-Anhängern weit verbreitete Europa-Skepsis, die offenbar kräftig angeheizt werden soll.
In Wirklichkeit geht es Stoiber aber um noch viel mehr. Er lehnt den EU-Verfassungsentwurf vor allem deshalb ab, weil damit in Hinblick auf die künftige Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik der Europäischen Union ein politischer Paradigmenwechsel verbunden sein könnte. Seinen Niederschlag findet dies darin, dass die bisherige Vertragsdefinition der EU als „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ geändert wurde. Der diesbezügliche Passus lautet jetzt: „Die Union strebt ein Europa der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft an, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität abzielt“. Erstmals wird es damit in der EU möglich, Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik miteinander zu koordinieren, womit eine zentrale Forderung linker Wirtschafts- und Sozialpolitik erfolgreich durchgesetzt werden konnte. Weitreichend gestärkt wurden ferner die Demokratie in der EU sowie die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. So wurde die EU-Grundrechtecharta Bestandteil der Verfassung, und erstmals wird es in der EU das Instrument des Bürgerbegehrens geben. Auch die Kompetenzen zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten wurden klarer abgegrenzt, weshalb nunmehr Bürgerinnen und Bürger besser erkennen können, wer wofür zuständig und verantwortlich ist. Die regionale und kommunale Selbstverwaltung wird ausdrücklich anerkannt.
Ende diesen Jahres entscheiden die EU-Staats- und Regierungschefs endgültig über den Verfassungsentwurf. Deshalb muss die Zivilgesellschaft jetzt Druck machen. Verhindert werden muss, dass Stoiber und andere rückwärts gewandte Kräfte mit ihren europafeindlichen Positionen den deutlichen Fortschritt für Europa nicht rückgängig machen können.
Brüssel, 16. Juni 2003