Ein schöner Moment – aber eine Neuorientierung der EU ist notwendig!

Christel Fiebiger

Zur Abstimmung über die EU-Aufnahme der aktuellen Beitrittsländer im Europäischen Parlament erklärt die Europaabgeordnete Christel Fiebiger:

Gestern haben die Mitglieder des Europäischen Parlaments der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten in die Europäische Union mit großer Mehrheit zugestimmt. Sie machten damit den Weg frei für die größte Erweiterung in der Geschichte der Union.
Das war ein „schöner“ und auch historischer Augenblick. Doch es geht weder um Schönheit noch um Geschichtsträchtigkeit, sondern um Fortschritt, um Zukunft, um ein Europa in Frieden.

Auch ich habe mich stets für die Erweiterung ausgesprochen, weil ich der festen Überzeugung bin, dass dieser integrative Prozess dazu beiträgt, bisherige Trenn- und Konfliktlinien zu überwinden und die Zusammenarbeit der Völker in den Mittelpunkt zu rücken. Noch ist die EU jedoch eine Hochburg von wirtschaftlichen Eliten, die aus der europäischen Integration auf Basis der Liberalisierung und der forcierten Globalisierung der Märkte und des Geldes profitieren, während die Bürgerinnen und Bürger die Zahlmeister sind. Hier gegen ist Widerstand nötig. Es bedarf eines breiten Engagements der Menschen von unten, damit das größere „Europa“ tatsächlich mehr Wohlstand für alle, soziale Gerechtigkeit und reale Demokratie bringt, damit die Ideen von Gewaltfreiheit, Chancengleichheit und Schutz der Menschenrechte Wirklichkeit werden.

Mehr als ein „Wermutstropfen“ war, dass wegen der angeblich unzureichenden Distanzierung Prags von den so genannten Benes-Dekreten 39 Abgeordnete gegen die EU-Aufnahme Tschechiens stimmten, darunter zehn CSU-Abgeordnete. Davon distanziere ich mich in aller Schärfe. Wer die Konflikte des kalten Krieges und den Geist des Revanchismus in die künftig größere EU trägt, hat nichts aus der leidvollen europäischen Geschichte gelernt, belastet die Gemeinschaft und ist weit davon entfernt, ein überzeugter Europäer zu sein.

Ob aus der Erweiterung eine Erfolgsgeschichte wird – dass ist auch davon abhängig, wie die träge gewordene EU-Administration überfällige Reformen anpackt anstatt diese weiter auszusitzen. Unabdingbar ist eine wirkliche und keine kosmetische Neuorientierung der Europäischen Politik, vor allem in den Bereichen der Agrar- und Strukturpolitik sowie bei der künftigen Finanzierung der Union. Dazu gehört auch die Erhöhung der Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments. Die seit Jahren praktizierten Ankündigungen und Versprechungen, die Europäischen Verträge zu vereinfachen und die Defizite bei der demokratischen Kontrolle über die Verwendung öffentlicher Mittel zu beseitigen, müssen endlich umgesetzt werden. Die Korruption und die Verschwendung öffentlicher Gelder hat auch in der EU zu viele Verwandte und Bekannte.
Das EU-Dickicht an Richtlinien und Verordnungen muss durchforstet und gelichtet werden. Die breit gestreuten Fördermittel sind mit einem hohen Effekt für Beschäftigung einzusetzen und zur Bekämpfung der wachsenden regionalen Probleme zu verwenden.

Am 1. Mai 2004 werden Tschechien, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und die Slowakei Mitglied der Europäischen Union sein. Das letzte Wort haben jedoch die Bürgerinnen und die Bürger in den Volksbefragungen der Beitrittsländer (außer in Zypern).
Die Unsicherheit und Ängste in den Mitglieds- und Beitrittsländern sind groß, auch durch Fehlinformation. Deshalb wird es notwendig, mit den Bürgerinnen und Bürgern zu reden. Allerdings bezweifele ich, ob es gelingt, zu den Europawahlen 2004 die Osterweiterung und deren politischen Ziele mit Nachdruck zu thematisieren. Denn der Vorwahlkampf hat bereits begonnen. Und die Europaabgeordneten werden in den Ländern gewählt.

Das Europa mit 25 Mitgliedstaaten und 450 Millionen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Traditionen sowie einem erheblichen Produktivitäts- und Wohlstandsgefälle braucht ein Zukunftskonzept, das zusammenbindet und nicht trennt.