Konvent muss jetzt Hüter des Verfassungsentwurfs werden

Zu den Ergebnissen des Gipfels bei Thessaloniki im Hinblick auf den EU-Verfassungsentwurf erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Mitglied des Europäischen Konvents:

Die Nachrichten vom Gipfel des Europäischen Rats bei Thessaloniki zum Verfassungsentwurf sind ambivalent. Kaum hat der Konvent nach monatelangen kontroversen Debatten den Entwurf einer Europäischen Verfassung vorgelegt, wird der Text auch schon von einigen Staats- und Regierungschefs in Frage gestellt. Die einen bestehen darauf, doch noch einen Gottesbezug aufzunehmen und die EU deutlicher auf die NATO einzuschwören (Polen), andere stellen den fragilen Kompromiss zur Neuordnung der EU-Institutionen oder die Neubestimmung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in Frage (Spanien, Luxemburg, Österreich) und der Bundeskanzler will zwar kein „Aufschnüren des Pakets“, knüpft aber eine Zustimmung zu Mehrheitsentscheidungen in der Asyl- und Einwanderungspolitik an Bedingungen. Auch die salomonische Formel im Gipfelkommuniqué, der Verfassungstext stelle lediglich eine „gute Ausgangsbasis“ für die im Herbst beginnende Regierungskonferenz dar, macht misstrauisch.

Die Regierungen waren und sind direkt an der Konventsarbeit beteiligt, zum Teil höchstpersönlich durch ihre Außenminister. Der bislang vorliegende Verfassungstext wurde von ihnen miterarbeitet und ist im Konsens auch von den Regierungsvertretern mitverabschiedet worden. Die Konventsmethode erwies sich als erfolgreich, sie darf weder durch die Abschlussarbeiten an den Teilen III und IV der Verfassung bis Mitte Juli gefährdet noch durch die im Oktober beginnende Regierungskonferenz ausgehebelt werden. Daraus folgt: Der Konvent muss jetzt als Hüter des Vertragstextes fungieren und als mögliches Korrektiv zur Regierungskonferenz tätig werden können. Er sollte deshalb als eigenständiges Gremium weiterbestehen und die Regierungskonferenz kritisch begleiten.

Für den Fall, dass die Regierungen die im Konvent erarbeiteten Vorschläge in Kungelrunden hinter verschlossenen Türen in relevanten Bereichen in Frage stellen oder korrigieren, muss der Konvent – wenn dies durch eine signifikante Zahl von Konventsmitgliedern gefordert wird – erneut einberufen werden, um sich damit öffentlich zu beschäftigen und Stellung zu nehmen. Dies würde dazu beitragen, den gesamten Verfassungsprozess bis zu seinem Abschluss für die Bürgerinnen und Bürger transparent und nachvollziehbar zu gestalten.

Brüssel/Berlin, 22. Juni 2003