Soziale Reform des Stabilitätspakts hat höchste Priorität

Zur erneuten Verletzung des Stabilitätspakts durch Deutschland und Frankreich und der dazu erhobenen Forderung von EU-Kommissionspräsident Prodi, strukturelle Reformen bei den Sozialsystemen durchzuführen, erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann:

‚Alle Jahre wieder‘, möchte man meinen: Erwartungsgemäß meldeten Berlin und Paris nach Brüssel, dass in ihren Ländern auch in 2003 das Haushaltsdefizit die Maastrichter Drei-Prozent-Grenze voraussichtlich um mindestens 0,8 bzw. 0,9 Prozent überschreiten wird. Auch die gesamtstaatliche Verschuldung wird in der Bundesrepublik auf 63 Prozent steigen – erlaubt sind lediglich 60 Prozent. Als Gründe für die Nichteinhaltung der Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes werden, wie bereits im Vorjahr, die lahmende Wirtschaft, niedrigere Steuereinnahmen, die Finanzlücke bei der Arbeitslosenversicherung und Defizite der Sozialkassen angegeben.

Deutschland und Frankreich müssen im nächsten Jahr mit Bußgeldern in Milliardenhöhe rechnen. Um dies zu umgehen, fordert Frankreich schon seit längerem eine „flexible Auslegung“ des Stabilitätspakts. Dazu erklärte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, Flexibilität sei nur bei „Gegenleistungen“ möglich. Sie bestünden in einem glaubwürdigen Ansatz von grundlegenden strukturellen Reformen bei den Sozialsystemen. Mit anderen Worten: Der Sozialabbau soll noch rigider als ohnehin vorgesehen vorangetrieben werden.

Die Erfüllung dieser Forderung würde unweigerlich weiter in die Sackgasse führen: Sie würde in erster Linie die sozial Schwachen und Armen treffen, die Binnennachfrage weiter schwächen und so dazu führen, dass die Wirtschaft überhaupt nicht mehr aus der Talsohle herausfindet. Es müsste sich doch mittlerweile herumgesprochen haben, dass der Pakt, so wie er angelegt ist, Stabilität nicht fördert, sondern gefährdet, weil die starre Begrenzung der Neuverschuldung prozyklisch wirkt, also in einer Wirtschaftsflaute den konjunkturellen Abschwung noch verschärft.

Die einzig gangbare Alternative besteht somit nicht in einer sozial ungerechten Flexibilisierung des Stabilitätspakts, sondern in seiner sozial vertretbaren Reformierung. Und hier ist die EU-Kommission gefordert. Ich appelliere an die Kommission, umgehend eine Berechnungsgrundlage für das Drei-Prozent-Defizit-Kriterium auf den Weg zu bringen, die öffentliche Investitionen ausklammert. Dies würde nicht nur den Euro-Staaten, sondern allen EU-Mitgliedsländern ermöglichen, durch eine öffentliche Investitionsoffensive die Binnennachfrage wirksam anzukurbeln. Mit weiteren Kürzungen der Sozialabgaben wird genau das Gegenteil erreicht. Darüber hinaus sollte festgelegt werden, dass Defizite nur bei guter Konjunktur abzubauen sind.

Straßburg, den 2. September 2003