Menschen wollen Klarheit statt Planspiele um Ziel-1-Förderung
Zu den deutschen Reaktionen auf den vom EU-Kommissar Michel Barnier am 30.01.03 vorgelegten zweiten Zwischenbericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (Kohäsionsbericht) erklärt die Europaabgeordnete Christel Fiebiger:
Das Echo der in Deutschland Regierenden auf die Brüsseler Kunde, dass der größte Teil Ostdeutschlands mit der EU-Osterweiterung bei unveränderter Weiterführung der jetzigen Regional- und Strukturpolitik aus der europäischen Höchstförderung herausfällt, ist für die Menschen zwischen Rügen und Erzgebirge enttäuschend.
Der Bundeskanzler, der einst Ostdeutschland zur „Chefsache“ erklärte, hat sich noch nicht geäußert. Ostdeutsche Politiker mimen Betroffenheit. Die Rede ist „von einem schweren Schlag für die gesamten ostdeutschen Länder“. Dabei ist seit Jahren bekannt, dass die Erweiterung kommt. Auch dass die Beitrittsländer mit ihrer geringeren Wertschöpfung den Gemeinschaftsdurchschnitt des Pro-Kopf-Inlandprodukts nach unten und den der heutigen Ziel-1-Gebiete nach oben ziehen. Das ist einfache Mathematik.
Besonders dürftig ist die Stellungnahme von Brandenburgs Finanzministerin Dagmar Ziegler, die darauf hofft, dass aufgrund der „Strategie im Jahre 2002, das Land in zwei Regionen (auf der NUTS 2 Ebene ) zu unterteilen“, zumindest eine Brandenburger Region auch nach 2006 weiterhin die Höchstförderung von der EU erhalten kann.
Dagegen sind die Planspiele von Stoiber und Co, die europäische Regionalförderung durch direkte Transferzahlungen an die schwächsten Mitgliedstaaten zu ersetzen und die EU-Zuwendungen an die relativ wohlhabenden Mitgliedstaaten einzustellen, höchst gefährlich. Das gilt ebenso für die Vorstellung des Bundesfinanzministeriums, dass künftig nicht mehr einzelne Regionen, sondern nur noch der Mitgliedsstaat Adressat der EU-Strukturförderung sein soll. Faktisch liefe beides auf die Renationalisierung der EU-Strukturpolitik hinaus. Das hieße, dass der Bund und die reichen Bundesländer die in Ostdeutschland wegfallenden EU-Beihilfen zahlen müssten. Hierfür sehe ich kaum ausreichende Voraussetzungen und Garantien.
Die unterschiedlichen Reaktionen offenbaren, dass Deutschland weder ein schlüssiges Konzept für die EU-weite Diskussion um die künftige Strukturpolitik hat noch mit einer Stimme spricht. Das ist schlimm. Zumal die Schere zwischen West und Ost noch weit geöffnet ist, in den neuen Bundesländern Stagnation herrscht, sich keine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung abzeichnet und aktuell 1.725.000 Ostdeutsche ohne Arbeit sind. Mit 19,8 % liegt die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch als in Westdeutschland (8,8 %).
Im Osten klammert man sich daher an die Offerte der Brüsseler Kommissare Barnier und Schreyer, allen vom „statistischen Effekt“ der Erweiterung getroffenen Regionen Übergangshilfen gewähren zu wollen. Hier bin ich skeptisch, denn die Nettozahler – insbesondere Deutschland – drängen auf die „Deckelung“ der Strukturfonds auf niedrigem Niveau. Bekanntlich wurde bereits Agrarkommissar Fischler von den Staats- und Regierungschefs ausgebremst. Vom Brüsseler Gipfel wurden die Agrarausgaben festgeschrieben.
Die verantwortlichen Politiker sollten bei ihren Planspielen nicht vergessen, dass das Projekt der EU-Erweiterung von den Menschen nur dann getragen wird, wenn ihr Leben sich dadurch verbessert – und zwar in den bisherigen wie künftigen Mitgliedsstaaten. Deshalb warne ich gleichermaßen vor Versuchen einer Entsolidarisierung zum Nachteil der Menschen der Beitrittsstaaten wie der Menschen in den unterentwickelten Regionen der „Alt-EU“.
Nach meiner Auffassung verlangt verantwortungsvolles Handeln die Akzeptanz folgender Eckpunkte:
– Keine Renationalisierung der gemeinschaftlichen Strukturpolitik. Die Förderwürdigkeit strukturschwacher Gebiete ist weiter aus regionaler und nicht aus nationaler Sicht zu beurteilen.
– Kompensation der aufgrund des „statistischen Effekts“ wegfallenden Beihilfen bis eine tatsächliche Angleichung der bisherigen Förderregionen an den Einkommensdurchschnitt auf Basis der EU-15 erreicht ist.
– Gleichberechtigte Einbeziehung der Regionen der neuen Mitgliedsstaaten in die Regional- und Strukturförderung.
Die finanzielle Voraussetzung dafür ist die Beibehaltung der derzeitigen Obergrenze des EU-Haushalts von 1,27 % des BSP einschließlich des Strukturfondsanteils von 0,45 % und dessen tatsächliche Ausschöpfung (derzeit belaufen sich die Strukturausgaben auf nur 0,32 %).
Niemand soll es nach der Erweiterung schlechter gehen. Wenn dieser Grundsatz stimmt, dann muss verantwortungsvolle Politik auf alle Planspiele verzichten und die Auseinandersetzung in eigenem Land führen.