Nicht „Lead Nation“ – Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ist das Gebot der Stunde
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, PDS-Europaabgeordnete und Mitglied des Europäischen Konvents, erklärt zur deutsch-niederländischen Übernahme des Führungskommandos über die internationalen Truppen (ISAF) in Kabul am 10. Februar:
Die Bundesrepublik wird für die nunmehr beginnende dritte ISAF-Phase mit bis zu 2300 Soldaten den größten Teil der Einsatzkräfte der rund 5000 Mann umfassenden ISAF-Truppe stellen, an der 30 Staaten beteiligt sind. Kein anderes Land war und ist bisher bereit, die Nachfolge als „Lead Nation“ in Afghanistan zu übernehmen. Zur Wachablösung reist Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) nach Kabul, um sich vor Ort davon zu überzeugen, wie „deutsche Interessen“ am Hindukusch durch die neue Führungsnation Deutschland (Lead Nation) „verteidigt“ werden. Struck sollte besser Vernunft an den Tag legen und umgehend zum Rückzug blasen, solange das noch ohne größere Verluste an Menschenleben möglich ist.
Tatsche ist, dass sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan rapide verschlechtert – und sie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Beginn des US-Krieges gegen den Irak weiter eskalieren. Tagtäglich erreichen uns Meldungen über Kampfhandlungen, Raketenangriffe und andere Anschläge auf die ISAF-Truppe, ausländische Hilfskräfte und afghanische Funktionäre selbst in Kabul. Aufgrund der allgemeinen Nachrichtensperre sind diese Meldungen vermutlich nur die Spitze eines Eisbergs. Vieles erinnert an die Zeit unmittelbar nach dem sowjetischen Truppeneinmarsch, als die Lage noch unter Kontrolle schien, während sich gleichzeitig die kriegerischen Attacken gegen die Sowjets und ihren afghanischen Verbündeten allmählich über das ganze Land ausbreiteten. Wie damals, so wird auch heute versucht, darüber einen Mantel des Schweigens zu legen. Der heftige Widerstand afghanischer Warlords, wie des paschtunischen Milizenführers Hekmatyar, auch er ein Ziehkind des Westens, wird verharmlost bzw. es wird der Anschein erweckt, es handle sich nur um Aktionen von versprengten Al Qaida- und Taliban-Kämpfern.
Der de facto US-geführte Militäreinsatz in Afghanistan beschleunigt die innerafghanische Solidarisierung. Die von den USA eingesetzte Regierung übt in den Provinzen keinerlei Macht aus und hat nicht einmal die Hauptstadt völlig unter Kontrolle. Westliche Demokratievorstellungen lassen sich in Afghanistan nicht per Befehlslinie verwirklichen, schon gar nicht von außen aufzwingen, das zeigt sich auch an der fast unverändert miserablen Lage der Frauen in Afghanistan.
Der Jahrzehnte lang geführte Bürgerkrieg in Afghanistan war in erster Linie eine Folge der Einmischung von außen, wo es ausschließlich um Vormacht, Ölpipelines und Erdgas ging und geht. Afghanistan hat erst dann eine Chance zur Ruhe zu kommen, wenn diese Einmischung ein Ende findet. Die Bundesregierung sollte daraus umgehend die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen und die deutschen Truppen abziehen.
Brüssel, 9. Februar 2002