Halbzeit im Europäischen Verfassungskonvent
Seit Februar arbeitet der Europäische Konvent in Brüssel an einem Verfassungsvertrag für die EU. Vorgesehen ist, dass er Mitte nächsten Jahres zum Abschluss kommt und seine Arbeitsergebnisse dem Rat der Staats- und Regierungschefs im Juni 2003 in Thessaloniki zur Bestätigung vorlegt…
Seit Februar arbeitet der Europäische Konvent in Brüssel an einem Verfassungsvertrag für die EU. Vorgesehen ist, dass er Mitte nächsten Jahres zum Abschluss kommt und seine Arbeitsergebnisse dem Rat der Staats- und Regierungschefs im Juni 2003 in Thessaloniki zur Bestätigung vorlegt.
Im Mittelpunkt der ersten Konventsphase standen Debatten über die grundsätzlichen Aufgaben der Union. Es wurden zehn Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Themenstellungen gebildet, die ihre Ergebnisse bis Ende des Jahres dem Konventsplenum unterbreiten sollen. Daneben wurden Vertreter der Zivilgesellschaft sowie von europäischen Jugendorganisationen in die Arbeiten des Konvents einbezogen.
Die Suche nach einem Konsens im Konvent ist außerordentlich schwierig, vertreten doch die einzelnen Konventsmitglieder die sehr verschiedenen, teils konträren europapolitischen Positionen ihrer Parteien bzw. Regierungen. Immerhin zeichnet sich eine deutliche Mehrheit dahingehend ab, die EU-Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag aufzunehmen und die darin verankerten Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der EU individuell einklagbar zu machen. Der längst überfällige Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention wird ebenfalls mehrheitlich unterstützt. Viele Konventsmitglieder wollen mehr Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, um die EU im Zuge der Erweiterung handlungsfähig zu machen. Der Rat soll nicht mehr geheim tagen, damit die Bürgerinnen und Bürger erkennen können, wer für welche Entscheidungen verantwortlich ist. Nach dieser Maßgabe sollen auch die Gesetzgebungsverfahren vereinfacht werden. Es zeichnet sich allerdings ebenso ein Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ab, was die Militarisierung der Europäischen Union beschleunigen dürfte. Diese Bestrebungen, das habe ich in den Beratungen der Arbeitsgruppe „Verteidigung“ kritisch zum Ausdruck gebracht, laufen dem bisher weitgehend zivilen Charakter der europäischen Integration zuwider.
Ende Oktober legte Konventspräsident Giscard d’Estaing einen ersten Vorentwurf für den Verfassungsvertrag vor. Neben Zustimmung rief das Papier auch heftige Kritik im Konvent hervor: So sucht man in dem Entwurf vergeblich die bislang in Artikel 2 des EG-Vertrages verankerten Ziele Gleichstellung von Mann und Frau, Hebung von Lebenshaltung und Lebensqualität, Verbesserung der Umwelt, nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Völlig inakzeptabel ist zudem, dass dem Entwurf zufolge das Diskriminierungsverbot nur noch gegenüber Unionsbürgerinnen und -bürgern und nicht mehr, wie bisher, gegenüber jedermann gelten soll.
Im Sommer wurde das Bemühen des Konventspräsidiums erkennbar, die soziale Dimension der EU aus den Arbeiten des Konvents auszuklammern. Dies, obwohl Umfragen zufolge die Mehrzahl der Menschen in Europa gerade auf diesem Gebiet zukunftsweisende Lösungsvorschläge erwartet. Daher initiierten drei Konventsmitglieder – die belgische Sozialistin Anne van Lancker, der österreichische Grüne Johannes Voggenhuber und ich – einen Antrag, das „Soziale Europa“ auf die Tagesordnung des Konvents zu setzen und eine eigene Arbeitsgruppe zu diesem Thema einzurichten.
Wir wiesen darauf hin, dass der Konvent seinen Auftrag verfehlen würde, wenn er sich ausschließlich mit institutionellen Fragen befasst und nicht die drängendsten gesellschaftspolitischen Probleme in der EU aufgreift. Aufgrund der breiten Unterstützung durch namhafte Konventsmitglieder und Europaabgeordnete sowie durch Gewerkschafter und zahlreiche europäische Organisationen und Verbände wurde unserem Antrag Anfang November schließlich stattgegeben, was als ein erster, wichtiger Erfolg gewertet werden kann.
Im Kern geht es uns darum, das europäische Sozialmodell unter Beachtung der unterschiedlich ausgeprägten Sozialstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu bewahren und weiter zu entwickeln. Die Wirtschafts- und Währungsunion muss durch eine Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltunion ergänzt und korrigiert werden. Das im deutschen Grundgesetz ebenso wie in anderen Verfassungen enthaltene Sozialstaatsprinzip gehört neben dem Ziel der Vollbeschäftigung in die künftige EU-Verfassung. Es wäre ein Durchbruch in der europäischen Politik, wenn auch diese Ziele endlich gleichberechtigten Verfassungsrang erhielten.
Informationen, Stellungnahmen und Beiträge von Sylvia-Yvonne Kaufmann zu den laufenden Arbeiten des Konvents sind im Internet unter www. sylvia-yvonnekaufmann.de/konvent.html abrufbar.