EU-Osterweiterung: Massenhafte Arbeitslosigkeit und Landflucht verhindern!

Christel Fiebiger

Die Integration der Landwirtschaften der 10 beitrittswilligen mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) in die EU-Agrarwirtschaft gilt zu
Recht als besonders schwierig.

Einerseits ist das ökonomische und gesellschaftliche Gewicht der Landwirtschaft im Gesamtgefüge der Volkswirtschaften der MOEL
weitaus höher als in der EU. Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt im Durchschnitt etwa 6%; in der EU liegt er unter 2%. In den
MOEL sind im Mittel 22% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig; im EU-Durchschnitt dagegen nur 4,7%, in Deutschland sogar
bloß 2,8%.

Anderseits ist die Wertschöpfung der Landwirtschaft in den MOEL insgesamt mit rund 12 % des Wertes der EU (bei 44% der
EU-Anbaufläche!) sehr niedrig.1 Die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit der MOEL liegt nur bei einem Zehntel des EU-Wertes.

Rationalisierung contra Arbeitsplätze

Die Konsequenz hieraus wird sein, dass der verstärkte Wettbewerbsdruck, den die Landwirtschaften der MOEL mit ihrer Einbeziehung
in den europäischen Binnenmarkt zwangsläufig ausgesetzt sind, zu einem bedeutenden Rationalisierungsschub und einer großen
Zunahme der Produktivität führen wird, wodurch Millionen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften frei gesetzt werden. Schon ein Anstieg
auf 50 % der Produktivität der EU würde eine Verringerung der Beschäftigten von 10 auf 6 Millionen voraussetzen. Um allein diese 4
Millionen wieder in Arbeit zu bringen, wäre die gigantische Summe von etwa 400 Mrd. Euro – bei unterstellten lnvestitionen von nur
100.000 Euro je neu zu schaffenden Arbeitsplatz – vonnöten. Zumal ihre Eingliederung in andere Bereiche, die ja auch rationalisieren
müssen, nur begrenzt möglich sein wird.

Was hier droht, schwant auch EU-Erweiterungskommissar Verheugen, der in Bezug auf Polen formulierte: „Einig sind wir uns schon
jetzt, dass wir keine Politik betreiben dürfen, die einen dramatischen Strukturwandel in ganz wenigen Jahren verfolgt. Das würde zu
hoher Arbeitslosigkeit in Polen führen und das soziale Netz in den ländlichen Räumen zerstören.“2 Richtig, nur schade, dass er nicht
sagte, wie die Politik aussehen soll, die dieses Problem lösen kann. Immerhin waren alle bisherigen Reformschritte der
Gemeinsamen Agrarpolitik Schritte der Liberalisierung, die den landwirtschaftlichen Strukturwandel und Verlust von Arbeitsplätzen nicht
bremsten, sondern weiter beschleunigten.

Einheit von GAP-Reform und Osterweiterung

Im gemeinsamen Interesse der alten und neuen EU-Mitglieder bedarf es deshalb einer wirklichen Reform der Gemeinsamen
Agrarpolitik der EU (GAP), die das von allen gepriesene europäische Agrarmodell der Multifunktionalität mit Leben erfüllt. Gerade unter
Bedingungen, in denen die globale Konkurrenz den globalen Markt nach einseitig ökonomischen Kriterien reguliert, hat die Politik für
eine Balance zwischen Globalisierung und Regionalisierung zu sorgen, damit die Lösung anderer, „nicht-handelsbezogener“
gesellschaftlicher Anliegen an die Landwirtschaft nicht auf der Strecke bleibt, wie ihre Beiträge für Beschäftigung, Umwelterhaltung und
Pflege traditioneller Kulturlandschaften. Die bevorstehende Halbzeitbewertung der Agenda 2000 ist hierfür eine Chance. Mit ihr sollten
die Weichen für einen agrarpolitischen Neuanfang – und zwar in einem vernünftigen, von den Betrieben auch verkraftbaren Schrittmaß –
gestellt werden.

Alle Gemeinschaftspolitiken sind gefordert

Zugleich bedingt die EU-Erweiterung eine Reform der gemeinsamen Struktur- und Kohäsionspolitik, denn allein mit dem
agrarpolitischen Instrumentarium wird der Gefahr massenhafter Arbeitslosigkeit und einer Landflucht großen Ausmaßes in den MOEL
nicht zu begegnen sein. Zumal die Situation in den ländlichen Regionen bereits jetzt, im Ergebnis der transformationsbedingten
Umstrukturierung und Privatisierung der Landwirtschaft alles andere als normal ist. Fehlende Erwerbsalternativen im
außerlandwirtschaftlichen Bereich, hohe Arbeitslosigkeit und sinkende Realeinkommen der Landbevölkerung sind längst zu den
wichtigsten sozialen Problemen geworden. Hinzu kommt, dass sich ein relativ großer Sektor der Subsistenzwirtschaft gebildet hat.
Allein in Polen wird mehr als die Hälfte der Landwirtschaft nicht von der gemeinsamen Agrarpolitik erfasst werden und damit nicht in
den Genuss von Geld aus dem Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds kommen, weil viele Kleinstbetriebe nicht für den Markt,
sondern nur zur Selbstversorgung produzieren. Das erfordert spezifische Maßnahmen im Rahmen der Sozial- und
Beschäftigungspolitik.

Finanzielle Solidarität und Effizienz

Der Erhaltung und dem Aufbau sinnvoller Strukturen in den ländlichen Räumen kommt besondere Priorität zu. Bitter notwendig
erscheint die Mobilisierung finanzieller Mittel sowohl für Infrastrukturmaßnahmen wie auch für Unternehmer, die bereit sind, in
ländlichen Regionen zur Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze in Handwerk, Kleinindustrie, Tourismus und Dienstleistungen zu
investieren. Allerdings geht die Formel „je mehr Fördermittel, desto mehr Investitionen“ in der Praxis nicht eins zu eins auf. Es müssen
auch die Bedingungen für die Aufnahmefähigkeit von Fördermitteln gegeben sein, um Fehlallokationen von Investitionsmitteln zu
vermeiden. Das zeigen sowohl die Erfahrungen aus ländlichen Regionen der neuen Bundesländer wie auch des EU-Beitrittes von
Spanien, Portugal und Griechenland. Wobei das nicht von Vornherein zum Vorwand für eine Beschränkung der Transferkosten im Zuge
der EU-Osterweiterung werden darf. Auf jedem Fall rechtfertigt die Situation in den MOEL nunmehr die Frage zu stellen, was die Zusage
der Mitgliedstaaten, einen maximalen Beitrag zur Finanzierung der Gemeinschaft in Höhe von 1,27 % des Bruttosozialproduktes (BSP)
zu leisten, eigentlich Wert ist. Immerhin lässt die derzeitige finanzielle Vorausschau eine beträchtliche Marge offen, die im Interesse
eines guten Gelingens der EU-Integration der MOEL auch ausgeschöpft werden sollte.

1 Werden die Kaufkraftstandards zugrunde gelegt, d. h. die niedrigeren Lebenshaltungskosten in den MOEL, errechnet sich ein Anteil
von über 30% am Bruttoinlandprodukt. Damit fällt der Rückstand im Einkommensniveau der Landwirtschaft zur EU geringer aus.
2 Wirtschaft & Markt, Januar 2002, S. 15