EU-Gipfel von Laeken beruft Verfassungskonvent ein – Europa steht am Scheideweg
Mit der „Erklärung von Laeken“ und der Einberufung eines Konvents, der unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing am 28. Februar dieses Jahres seine Arbeit aufnehmen wird, haben die Staats- und Regierungschefs einen Beschluss von historischer Tragweite für die Zukunft der Europäischen Union gefasst. „Europa steht am Scheideweg“ – mit dieser dramatischen Feststellung beginnt der mehrseitige Text der Erklärung, der Dutzende ungeklärter Fragen der europäischen Politik offen anspricht. Von besonderer Bedeutung ist, dass keines der aufgeworfenen Probleme für die Zukunft der Europäischen Union zum Tabu erklärt wurde. Mit dem Mandat des Konvents ist zugleich die Einleitung eines europäischen Verfassungsprozesses verbunden.
Verfassungskonvent könnte Türen aufstoßen
Die Einberufung des Konvents knüpft an die Erfahrungen an, die mit der erfolgreichen Arbeit des ersten Konvents gemacht wurden, der im Jahr 2000 die EU-Grundrechtecharta formulierte. Der neue Konvent, der von vielen bereits Verfassungskonvent genannt wird, könnte ein Meilenstein in der europäischen Politik werden. Mit ihm soll die Politik der Geheimdiplomatie hinter verschlossenen Türen beendet werden. Undurchsichtige Entscheidungsfindungen und ein Feilschen im Sitzungsmarathon langer Nächte – wie zuletzt im Dezember 2000 auf dem EU-Gipfel von Nizza geschehen – sollen ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.
Breites Spektrum an Mitwirkenden
Es kann nicht hoch genug bewertet werden, dass sich der Konvent mehrheitlich aus demokratisch gewählten Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments zusammensetzt, öffentlich tagen und den Dialog mit den verschiedensten Organisationen der Zivilgesellschaft führen wird. Die Beitrittskandidatenstaaten sind an der Erarbeitung von Vorschlägen für die bislang tiefgreifendste Reform der Europäischen Union beteiligt. Dies ist in der Tat unverzichtbar, denn schließlich sollen der Europäischen Union schon im Jahr 2004 nicht mehr nur 15, sondern bis zu 25 Mitgliedstaaten angehören.
Chance für Debatte über Zukunft Europas
Mit dem Verfassungskonvent ist die große Chance verbunden, endlich europaweit eine breite öffentliche Debatte über die Zukunft Europas führen zu können. Tragfähige Lösungen für ein geeintes Europa von 25 oder mehr Staaten müssen gefunden werden, sei es zum Problem der Vereinfachung der sehr komplizierten und kaum verständlichen Verträge, auf die sich die Europäische Union gründet, oder sei es zur Frage der präziseren Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedsländern. Zu hoffen ist, dass der aus 105 Personen bestehende Konvent im Laufe seiner Beratungen eine eigene politische Dynamik entfalten wird und Mitte 2003 tatsächlich in der Lage ist, überzeugende Reformvorschläge vorzulegen, über die sich die Regierungen auf ihrer nächsten Regierungskonferenz nicht einfach hinwegsetzen können.
Europawahlen könnten mit Entscheidung über Verfassung verbunden sein
Die Fraktionen im Europäischen Parlament haben Anfang Januar entschieden, wen sie für den Konvent nominieren, dem insgesamt 16 Europaabgeordnete angehören. Die GUE/NGL-Fraktion hat mich als Mitglied benannt, und ich freue mich auf diese große persönliche und politische Herausforderung. Ich bin davon überzeugt, dass für den Erfolg des Konvents und damit letztlich für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union entscheidend ist, ob es gelingt, die EU umfassend zu demokratisieren, d.h. vor allem die Rechte des Europäischen Parlaments im europäischen Gesetzgebungsprozess deutlich zu stärken. Ebenso unverzichtbar ist, Transparenz und Bürgernähe herzustellen. Dazu gehört vor allem, die individuellen Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Die EU-Grundrechtecharta, die auf dem EU-Gipfel in Nizza vor gut einem Jahr lediglich eine „feierliche Erklärung“ blieb, muss in den EU-Vertrag aufgenommen und damit rechtsverbindlich und individuell einklagbar werden.
Wenn der Konvent es im Ergebnis seiner Arbeit schafft, eine Verfassung für Europa vorzulegen, dann müssten die Europawahlen 2004 aus meiner Sicht zugleich damit verbunden sein, dass die Bürgerinnen und Bürger über diese Verfassung mitentscheiden können.
Weitere Informationen unter:
http://www.ue.2002.es (Webseite der spanischen Ratspräsidentschaft, leider nur auf spanisch, englisch und französisch)
http://europa.eu.int/futurum/documents/offtext/doc151201_de.htm(Die Zukunft der Europäischen Union – Erklärung von Laeken)
http://europa.eu.int/futurum/index.de.htm (Debattenseite der Europäischen Kommission zur Zukunft der EU)