Auftragsvergabe im ÖPNV – Europäische Union für Entscheidung der Regionen
Das Europäische Parlament hat sich dafür ausgesprochen, die Entscheidung über die Auftragsvergabe im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) den Regionen zu überlassen. Dies war das wichtigste Ergebnis der ersten Lesung zu dem Vorschlag für eine „Verordnung über Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Anforderungen des öffentlichen Dienstes und der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge für den Personenverkehr auf der Schiene, der Straße und auf Binnenschifffahrtswegen“. Berichterstatter war der niederländische Abgeordnete Erik Meijer aus der GUE/NGL-Fraktion. Der mit 317 Ja- zu 220 Nein-Stimmen mit klarer Mehrheit angenommene Bericht veränderte wesentliche Aspekte des Vorschlags der Europäischen Kommission für die Einführung eines kontrollierten Wettbewerbs im ÖPNV. Vor allem eine Grundfrage beherrschte die Debatten: Sollen künftig alle Städte und Kreise verpflichtet werden, Aufträge zur Durchführung des öffentlichen Personennahverkehrs ausschreiben zu müssen oder können kommunale und Eigenbetriebe derartige Aufträge auch direkt erhalten?
Regionale Kompetenz nutzen
Berichterstatter Erik Meijer (GUE/NGL) plädierte vehement dafür, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip die Aufgabe der Bestellung und Organisation dieser Verkehre dort entscheiden zu lassen, wo das am kompetentesten getan werden könne, von den zuständigen gewählten Vertretern der Kommunen und Kreise. Dieses Herangehen überzeugte die Mehrheit der Abgeordneten. So wurde die Pflicht zur Ausschreibung aufgehoben. Damit folgt das Parlament dem in Deutschland, dem größten Nahverkehrsmarkt der EU, üblichen und durch das Grundgesetz geschützten Recht auf Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden. So ist es nicht verwunderlich, dass der Deutsche Städtetag, der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), und zahlreiche Verkehrsbetriebe, so z.B. aus Berlin, München, Stuttgart, Bremen, Bonn und Münster, in einer gemeinsamen Erklärung diese vorläufige Beschlusslage ausdrücklich begrüßen und unterstützen.
Ausschreibungspflicht birgt Gefahren
Bereits der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hatte auf erhebliche Gefahren eines reinen Ausschreibungsverfahrens hingewiesen:
– Gigantischer Verdrängungswettbewerb zugunsten weniger großer multinationaler Unternehmen
– Ausschlaggebendes Zuschlagskriterium wäre der geringste Preis, nicht die beste Qualität
– Lohndumping auf dem Rücken der Arbeitnehmer
– Hohe Kosten für Ausschreibungsverfahren bei den Behörden, die zusätzliches qualifiziertes Personal benötigen, und bei den Verkehrsunternehmen.
Zusammenfassend wird dann geschlussfolgert, dass bei Einberechnung aller externen Zusatzkosten in einem Vergleich zu dem durch den Wettbewerb erzielbaren geringeren ÖPNV-Zuschussbedarf praktisch keine Einsparungen festgestellt werden können.
Geteilten ÖPNV-Markt in allen Mitgliedsstaaten schaffen
In Anerkennung der komplizierten Situation schlug das Parlament vor, dass Unternehmen, die Aufträge ohne Ausschreibung erhalten haben, sich in anderen Regionen oder Ländern am Wettbewerb nicht beteiligen dürfen; es soll praktisch ein geteilter ÖPNV – Markt geschaffen werden (Art.6a neu). Ein derartiges Herangehen wird übrigens gegenwärtig bereits erfolgreich in Dänemark, Frankreich und Deutschland praktiziert. Da die zu vergebenden Aufträge immer zeitlich befristet sind, kann es für die Unternehmen keine totale Sicherheit oder Gewissheit geben, vom Wettbewerbsdruck befreit zu sein. Der reservierte Bereich kann jederzeit in einen geöffneten umgewandelt werden, wenn die Auftraggeber das so entscheiden.
Hier erhebt die Kommission Einwände und argumentiert, dass die Verordnung eine klare Vorgabe machen muss, die den Wettbewerb entweder ausschließt oder zulässt. Eine Zwischenregelung in der vorgeschlagenen Art sei rechtlich nicht durchsetzbar.
Bedingungen gefordert
Die Abgeordneten formulierten in Artikel 6a-neu eine Reihe von Bedingungen für die ausschreibungsfreie Vergabe von Dienstleistungsaufträgen wie: Maximaler Einzugsbereich von 50 km für den Personennahverkehr; der Wert der Beihilfe darf den Wert der Verkehrsleistung nicht übersteigen; die Verkehrsleistung soll sich ausschließlich auf den Wirkungskreis der zuständigen Behörde erstrecken, und bei der Verkehrsleistung muss es sich um eine Betätigung ohne Gewinnerzielungsabsicht der zuständigen Behörde handeln. Darüber hinaus können als Einzelfallentscheidung Dienstleistungsaufträge für Metro- und Stadtbahnverkehrsdienste ebenfalls von der Pflicht zur Ausschreibung ausgenommen werden, wenn sie dies aus Gründen der Effizienz oder der Sicherheit für erforderlich halten. (Art. 7.1)
Widerspruch zu Wettbewerbsregeln wird geprüft
Die Eigenproduktion von ÖPNV ohne Ausschreibung steht jedoch in Widerspruch zu den Wettbewerbsregeln der EU, die nach Art. 86(2) EG-Vertrag nur in Ausnahmefällen eine Befreiung von der Ausschreibungspflicht vorsehen. Da es sich beim öffentlichen Personennahverkehr jedoch um eine Aufgabe der Daseinsvorsorge handelt, könne nach Art.73 EG-Vertrag kein Zwang zur Ausschreibung zur Anwendung kommen. Dort heißt es: „Mit diesem Vertrag vereinbar sind Beihilfen, die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängenden Leistungen entsprechen.“
Diese Auffassung wird auch in einem eigens angefertigten Rechtsgutachten von Prof. Ronellenfitsch unterstützt.
Zu beachten ist weiterhin, dass gegenwärtig vor dem Europäischen Gerichtshof ein Verfahren gegen die Stadt Magdeburg behandelt wird, in welchem gerade die Frage der Vergabe von öffentlichen Aufträgen für den Personenverkehr ohne Ausschreibung zur Entscheidung bei den obersten Richtern der EU ansteht. Nach Berichten von Verfahrensgutachtern sind die Aussichten für eine Bestätigung der Rechtsauffassung des Gutachtens zu einer möglichen Befreiung von der Ausschreibungspflicht gut.
Ausnahmeregeln für Öffentliche Daseinsvorsorge angestrebt
In Artikel 2 wird der Vorrang der vorliegenden Verordnung vor den Richtlinien zur Vergabe von Dienstleistungsaufträgen vorgesehen, um juristisch Klarheit zu schaffen. Von Seiten der Europäischen Kommission wird hier allerdings auf ein nicht unwesentliches Hindernis verwiesen. Gemeint sind die internationalen Verpflichtungen der Europäischen Union, und zwar die Regeln für das öffentliche Auftragswesen, die insbesondere im Rahmen der Welthandelsorganisation gelten. Sie würden einer derartigen Regelung entgegenstehen. In diesem Zusammenhang sollte aber die Frage erlaubt sein, ob die Europäische Union gemäß ihrem eigenen Gewicht in der Welt und unter Berücksichtigung der spezifischen, historisch gewachsenen Regelungen für Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht ihrerseits auf Ausnahmeregeln gegenüber den internationalen Partnern bestehen kann.
Garantie der sozialen Rechte gefordert
Den Abgeordneten der linken Fraktion lagen die arbeits- und sozialrechtlichen Fragen und insbesondere die Vermeidung von Sozialdumping im Wettbewerb besonders am Herzen. Dank der Unterstützung von Sozialdemokraten, Grünen und einzelnen MdEP mit besonders ausgeprägtem sozialen Gewissen aus anderen Fraktionen wurde eine Reihe von Verpflichtungen zur Garantie der sozialen Rechte im Falle eines Betreiberwechsels, zur Respektierung der vor Ort gültigen Tarifverträge und anderer arbeits- und sozialrechtlicher Bedingungen in Artikel 4 der Verordnung aufgenommen. Hinzu kommt die Möglichkeit für den Besteller der Verkehrsleistungen, d.h. den kommunalen Auftraggeber, von den künftigen Betreibern die Einhaltung dieser Auflagen zu fordern, sie als Ausschreibungskriterium mit aufzunehmen und zu kontrollieren, ob sie tatsächlich eingehalten werden. Sollte eine Verletzung festgestellt werden, so wird das Recht eingeräumt, vorzeitig bestehende Verträge mit den betreffenden Unternehmen kündigen zu können.
Von Seiten der Verkehrsunternehmen und der Kommission wird allerdings bezweifelt, dass derartig weitgehende Regelungen, die über bisher bestehende Vereinbarungen hinausgehen, das parlamentarische Prozedere überstehen werden.
Laufzeit von Verträgen im Blick
Eine Reihe weiterer Änderungen zum Verordnungsentwurf der Kommission betreffen mehr oder weniger technische Fragen wie die Laufzeit von abzuschließenden Verträgen – Verlängerung von ursprünglich 5 Jahren auf 8 Jahre für Busdienstleistungen bzw. 15 Jahre bei Schienenverkehrsdienstleistungen -, die Schwellenwerte für die ausschreibungsfreie Direktvergabe von Aufträgen (trotz des Vorschlags zur Aufhebung der Ausschreibungspflicht werden einzelne Regelungen getroffen, die auf dem ursprünglichen Vorschlag beruhen), die von 400.000 Euro auf 1 Mio. Euro und bei Bündelung aller Anforderungen in einem einzigen Auftrag von 800.000 Euro auf 3 Mio. Euro heraufgesetzt wurden; die Anwendung der Verordnung lediglich auf neue Verträge und der Bestandsschutz für bereits bestehende; geringere Obergrenzen für Tarifreduzierungen und andere. Bei den meisten dieser Abänderungen hat die Kommission wenig Probleme diese zu akzeptieren. Sie wendet sich allerdings kategorisch gegen einen Bestandsschutz von Verträgen mit langer Laufzeit, z.B. 99 Jahre o.ä., den sie nicht hinnehmen könne.
Das billigste Angebot ist nicht immer das beste
In der Diskussion um den Zwang zum Wettbewerb mittels Ausschreibungspflicht wird zu Recht auf die ständig wachsenden finanziellen Engpässe und Zwänge der Kommunen, Städte und Kreise verwiesen, die de facto den Druck auf die Auftraggeber zur Suche nach kostengünstigen Wegen für den Personennahverkehr beständig erhöhen. Die Einführung des Wettbewerbs wird dabei als wichtiges Mittel zur Verbesserung der Leistungen bei geringeren Kosten gesehen. Es ist jedoch in der Praxis eindeutig festzustellen, dass private Betreiber geringere Kosten vor allem über geringere Entlohnung und schlechtere soziale Bedingungen erzielen. Das heißt nicht, dass die Augen vor effektiverem Management oder anderen partiellen Verbesserungen verschlossen werden sollen. Letzteres ist jedoch auch mit öffentlichen Betrieben zu erreichen.
Eine Reduzierung der Kosten auf dem Rücken der Beschäftigten mag zwar betriebswirtschaftlich denk- und machbar sein, führt aber volkswirtschaftlich zur Verringerung von Einkommen und schwächt damit die Konsummöglichkeiten der Bürger und verstärkt rezessive Elemente in der Binnennachfrage.
Harte Auseinandersetzungen stehen an
Der Europäische Rat von Laeken beauftragte letzten Dezember die Europäische Kommission zu prüfen, wie in einer Rahmenrichtlinie die Vereinbarkeit von staatlichen Beihilfen an Erbringer von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse mit den europäischen Wettbewerbsregeln gewährleistet werden kann. Damit wird auch dem Beschluss des Lissaboner Gipfels vom Frühjahr 2000 nachgekommen, der eine Beschleunigung der Liberalisierung der Bereiche, in denen Dienste der öffentlichen Daseinsvorsorge angeboten werden (Verkehr Telekommunikation, Post, Elektrizität) gefasst hatte. Nun ist es zu Beginn des Jahres 2002 an der spanischen Präsidentschaft, die Position des Europäischen Rates zu den Ergebnissen der ersten Lesung des Europäischen Parlaments zu bestimmen. Den ersten Erklärungen nach will sie die Dossiers zur Liberalisierung der Märkte in den Bereichen Energie und Verkehr beschleunigen.
Für die nächsten Schritte des parlamentarischen Verfahrens stehen also noch harte Auseinandersetzungen an.