Erpresserische Forderung nach Annullierung der Benes-Dekrete
Stoiber rollte Stolpersteine in Tschechiens Weg in die EU
Laut biblischer Überlieferung soll Pfingsten eine Taube auf die Erde nieder kommen, als Zeichen für Frieden, Weisheit und Eintracht
unter den Menschen. Es war indessen keine Taube, sondern ein Falke, der vom Dach der Nürnberger Frankenhalle auf die rund 20.000
Frauen und Männer, viele in malerischen Trachten, nieder stieß. Der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der CDU/CSU,
Edmund Stoiber, nutzte das 53. Treffen der Sudetendeutschen Landsmannschaften zu einem der bisher schärfsten Angriffe auf einen
der Grundpfeiler der europäischen Nachkriegsordnung, indem er offen und provokant Entscheidungen der alliierten Siegermächte in
Frage stellte. Als Kanzler, kündigte er an, werde er sich der Anliegen der Sudetendeutschen auf Rückkehr, Eigentum oder
Wiedergutmachung annehmen.
Stoibers Ausfälle gegenüber Tschechien lassen sich nicht einfach als Wahlkampfgetöse und Stimmenfang abtun, dafür ist die Sache
zu ernst.
Anlass waren die sogenannten Benes-Dekrete, benannt nach dem damaligen bürgerlichen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard
Benes. Die Dekrete wurden von der Londoner Exilregierung in der Zeit der Besetzung des Landes durch Nazideutschland und im ersten
Jahr nach der Befreiung von der faschistischen Barbarei herausgegeben. Sie regelten sowohl die Führung des Widerstandes gegen
die Okkupation an der Seite der Verbündeten als auch die Wiederherstellung des tschechoslowakischen Staates und sind somit
integraler Teil der tschechoslowakischen Rechtsordnung und ein Element der europäischen Nachkriegsarchitektur, wie sie von den
Alliierten in Jalta entworfen und in Potsdam besiegelt worden war. Wenn deutsche Politiker – wie Stoiber in Nürnberg – oder
CDU/CSU-Abgeordnete im Europäischen Parlament behaupten, die Aussiedlung von rund drei Millionen „Sudetendeutschen“ erfolgte
auf Grundlage der Dekrete, so ist das eine bewusste Lüge. Tatsache ist, dass die Umsiedlung in den Potsdamer Beschlüssen (Art. XIII)
entschieden wurde, auf denen die Dekrete fußten. Diese Rechtslage ist auch mehrfach durch die USA als einen der Signatarstaaten
von Potsdam klar gestellt worden. Bei seinem jüngsten Besuch in Washington hätte Stoiber diesbezüglich Nachhilfeunterricht nehmen
können. Niemand stellt in Abrede, dass mit der Umsiedlung Not, Leid und auch Unrecht verbunden waren, dennoch und gerade
deswegen darf man Ursache und Wirkung nicht vertauschen: Der Boden durch die drakonischen Maßnahmen, die bedauerlicherweise
auch Unschuldige trafen, ist durch die Genozidpläne und Taten der Nazis bereitet worden. Die Namen Theresienstadt – heute Terezin –
und Lidice stehen für die Absicht der Faschisten und ihrer Helfershelfer, die Tschechen als Nation innerhalb von 30 Jahren zu
liquidieren.
Sowohl unter dem völkerrechtlichen Aspekt als auch unter dem geschichtlichen und moralischen Gesichtspunkt scheint die Sache klar
zu sein. Die unter konkreten Bedingungen und Zwängen erlassenen Dekrete und Gesetze haben keine aktuelle Bedeutung mehr, sie
sind laut Urteil des tschechoslowakischen Verfassungsgerichts erloschen und entfalten für heute und für die Zukunft keine Rechtskraft.
Auf dieser Basis verständigten sich die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechische Republik 1997 auf eine
„Versöhnungserklärung“, in der beide Seiten die Nichtigkeit der gegenseitigen Ansprüche anerkennen. Diese Erklärung entspricht dem
Geist des 2-plus-4-Vertrages, der die BRD verpflichtet, internationale Verträge der DDR zu achten, die nie Ansprüche an die CSR
gestellt hat. Bis vor kurzem hatte man den Eindruck, dass sich die deutsche Regierung an das Versprechen hält, doch es mehren sich
die Zeichen dafür, dass die Schröder/Fischer-Mannschaft dem revanchistischen Druck nachgibt. Nachdem der Kanzler unter
fadenscheinigen Gründen im Frühjahr seinen Besuch in Prag absagte, hat auf dem Vertriebenentag in Nürnberg sein Innenminister
Schily die Aufhebung der Benes-Dekrete gefordert, wenngleich er (noch) Reparationsansprüche ausschloss.
Damit befindet sich Schily auf einer Wellenlänge mit Stoiber und jenen konservativen Abgeordneten aus Deutschland und Österreich im
Europäischen Parlament, die mit Hinweis auf die Dekrete die EU-Tauglichkeit Tschechiens in Frage stellen. Obgleich von Seiten der
Europäischen Kommission und ausdrücklich vom zuständigen Kommissar Verheugen immer wieder betont wird, dass die Dekrete
kein Gegenstand der Beitrittsverhandlungen sind und auch keine Hürde für die Aufnahme des Landes in die Union darstellen, nimmt
der Druck zu. Auf die Erpressungsversuche – anders kann man es nicht bezeichnen – reagieren maßgebliche Prager Politiker in
unbedachter Weise, während die Zustimmung im Lande zum EU-Beitritt stetig sinkt. Viele Tschechen fürchten – das Beispiel der
ehemaligen DDR vor Augen – nicht zu Unrecht, Opfer von massenhaften Reparationsforderungen zu werden. Denn darum geht es im
Kern: Wenn die Dekrete aufgehoben und die Nationalisierung von Eigentum zu Unrecht erklärt werden, wird der Forderung nach
Rückgabe und/oder Entschädigung Tür und Tor geöffnet, eine neue Art der Vertreibung wäre die Folge. Tschechien müsste für seinen
Beitritt zur EU doppelt bezahlen, einmal durch die Vorleistungen, die es bisher schon erbracht hat, zum anderen durch
Eigentumsrückübertragungen großen Stils.
Mit den jüngsten Angriffen, die man nicht einfach als Wahlkampfgetöse abtun kann, werden nicht nur die deutsch-tschechischen
Beziehungen vergiftet, sondern Sprengsätze am Fundament der europäische Nachkriegsordnung angebracht. Gegen diesen Kurs des
verkappten Revanchismus ist entschiedener Widerstand von links auf allen Ebenen angesagt.
Der Autor ist Mitglied der Verhandlungsdelegation des EP für den EU-Beitritt Tschechiens