Terrorismusbekämpfung in Europa

Andreas Wehr

Artikel von Andreas Wehr, erschienen in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 7/2002

Wer erinnert sich nicht an die dramatischen Auseinandersetzungen, die seinerzeit mit der Schaffung spezieller Gesetze zur Bekämpfung des Terrorismus einhergingen? Unter dem Begriff „deutscher Herbst“ sind diese Ereignisse in die jüngste bundesdeutsche Geschichte eingegangen, werden bis heute in Romanen und Filmen thematisiert. Mit jenen Entscheidungen wurde die Kluft zwischen der damaligen sozialliberalen Koalition und ihren linken Kritikern tiefer, die in jenen neuen Gesetzen eine Überreaktion des Staates und eine Gefährdung der demokratischen Rechte sahen und sehen. Der liberale Flügel in der FDP verlor in diesen Jahren entscheidenden Einfluss. Der daraus folgende Rückritt des Innenministers Baum bereitete den Boden für die dann 1981 erfolgte Wende der FDP hin zur CDU/CSU. Außerhalb des Parlaments begünstigte der „deutsche Herbst“ den Prozess des Zusammenschlusses alternativer und grüner Gruppen und Wählerverbindungen zur der Partei der Grünen die auf Bundesebene im Jahre 1980 auch als Antwort auf diese staatliche Reaktion gegründet wurden.

Doch damals konnten sich kritische Stimmen zumindest Gehör zu verschaffen, ob innerhalb oder außerhalb des Parlaments. In den liberalen Medien wurde eine kritische Debatte zugelassen, auch wenn sich die Warner vor irreparablen Schäden am Gebäude des Rechtsstaats bekanntlich am Ende doch nicht durchsetzen konnten. Die politische Landschaft veränderte sich, womöglich gerade aufgrund der Erfolglosigkeit des Protestes. Doch nichts dergleichen ereignet sich im heutigen Europa, obgleich hier in den letzten Monaten weitreichende Entscheidungen zur Terrorismusbekämpfung getroffen wurden, die gleich für eine ganze Reihe von Mitgliedsländern tiefgreifende Veränderungen ihrer politischen Kultur zur Folge haben werden. Eine kontroverse Debatte blieb fast vollständig aus. Die Rahmenbeschlüsse zur Terrorismusbekämpfung und über einen damit in den Zusammenhang stehenden über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten wurden nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit verabschiedet. Einwände, soweit sie überhaupt erhoben wurden, beschränkten sich auf von kleinen Expertengruppen formulierte, die von den Medien nicht wahrgenommen wurden. Nur einmal gab es eine kurze Aufmerksamkeit für das Treiben auf europäischer Ebene, als der italienische Ministerpräsident Berlusconi kurz vor dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates im Brüsseler Laeken Mitte Dezember 2001 aus offensichtlich persönlichen Ängsten vor Strafverfolgung aus dem Ausland die Beschlussfassung über den Europäischen Haftbefehl kurzfristig blockierte. Doch stand bei der süffisanten Kommentierung dieses Ereignisses durch die Medien nicht der rechtsstaatlich durchaus problematische Inhalt des vorgelegten Rahmenschlusses selbst im Mittelpunkt des Interesses, sondern die innenpolitischen Verhältnisse Italiens, auf die dieses Vorgehen ein bezeichnendes Licht warf.

Der Verweis auf die Defensive und die überall anzutreffende politische Lähmung kritischer Stimmen, als unmittelbare Folge der Ereignisse des 11. September, greift zur Erklärung für diese Reibungs- und Geräuschlosigkeit des Prozesses, in dem die Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen wurden, zu kurz. Denn in den Mitgliedstaaten, in denen im vergangenen Herbst ebenfalls im Eilverfahren Gesetze zur Terrorismusbekämpfung bzw. zur Verschärfung bestehender Bestimmungen auf den Weg gebracht wurden, gab es sehr wohl kontroverse Diskussionen mit einer gewissen öffentlichen Aufmerksamkeit. Nur so war es möglich, dass nicht alles, was von den Regierungen geplant worden war, auch durchgesetzt werden konnte.

Die Gründe für die auf europäischer Ebene ausgebliebene Auseinandersetzung müssen vielmehr in den spezifischen Strukturen der hier agierenden Institutionen gesucht werden. Dort liegt auch die Erklärung für die bemerkenswerte und nach landläufiger Ansicht so gar nicht zu Europa passende Geschwindigkeit der Entscheidungsprozesse, denn immerhin lagen zwischen der Vorlage der Entwürfe durch die Kommission am 19. September und der Verabschiedung im Rat auf dem Gipfel von Laeken am 15. /16. Dezember 2001 noch nicht einmal drei Monate. Damit wurde die Vorgabe des vor dem Hintergrund der Anschläge kurzfristig am 21. September einberufenen Europäischen Rats erfüllt, der gegenüber dem Rat der Justiz- und Innenminister gefordert hatte, „dieses Einvernehmen (über die Terrorismusbekämpfung, A.W.) zu präzisieren und dringend – spätestens auf seiner Tagung am 6. und 7. Dezember 2001- die diesbezüglichen Modalitäten festzulegen.“ Auf wessen Kosten diese Eile letztlich ging, soll noch gezeigt werden.

Die Frage der Terrorismusbekämpfung in der Europäischen Union vor dem 11. September

Wer sich nur ein wenig mit den Mühlen der europäischen Institutionen auskennt, musste stutzig werden, als am Abend des 21. September 2001 der belgische Premierminister Guy Verhofstadt, der seinerzeitige Ratspräsident, mit umfangreichen Texten der Europäischen Kommission zur Terrorismusbekämpfung im Fernsehen wedelte. Woher hatten sie bloß die bereits fertigen Entwürfe? Da ausgeschlossen werden kann, dass die Kommission von der Vorbereitung der Anschläge wusste oder sie auch nur erahnen konnte, musste es eine von den eingetretenen Ereignissen unabhängige Entstehungs- und Vorgeschichte dieser Papiere geben.

In diesem Zusammenhang ist auch die nur auf den ersten Blick als naiv erscheinende Frage zu stellen, warum die Europäische Union ausgerechnet auf dem Feld der Terrorismusbekämpfung den Mitgliedsländern allgemeine Definitionen für die Straftaten und Vorgaben für die Strafzumessung vorschreiben will, nicht aber bei Geschwindigkeitsübertretungen im Straßenverkehr oder bei Verstößen gegen die Pflicht von Unterhaltszahlungen, bei Delikten also, die dringend auf europäischer Ebene zu regeln wären, da sie, grenzüberschreitend, jedes Jahr viele Menschen in Europa betreffen und vergleichsweise einfach zu harmonisieren wären? Warum begann man ausgerechnet mit dem Versuch einer gemeinsamen Definition des Begriffs des Terrorismus, wo eine Verständigung auf gemeinsame Strafrechtsnormen immer heikel ist, da damit der Kernbereich nationaler Geschichte und Identität berührt wird? Niemand kommt etwa auf den Gedanken, die nationalen Strafrechtsnormen für Abtreibung oder Sterbehilfe europäisch vereinheitlichen zu wollen, da alle wissen, dass hier – etwa zwischen den Niederlanden und Irland – Welten liegen.

Die nur wenige Tage nach den Attentaten vorgestellten Rahmenbeschlüsse zur Terrorismusbekämpfung und über den Europäischen Haftbefehl waren natürlich in den Monaten zuvor als Referentenentwürfe ausgearbeitet worden. Was den Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung angeht, so war hier der spanische Beamte Rocca führend tätig gewesen.

Aber auch das Europäische Parlament hatte den Paradigmenwechsel bereits vor dem 11. September vollzogen und unter Nutzung seines Selbstbefassungsrechts bereits am 5. September 2001 einen Bericht über die „Rolle der Union beim Kampf gegen den Terrorismus“ beschlossen, in dem als Ausgangsposition formuliert wird „, dass auf dem Gebiet der Europäischen Union im Verlauf der vergangenen Jahre eine Zunahme terroristischer Aktivitäten zu verzeichnen war, und dass es kaum ein europäisches Land gibt, das in jüngster Zeit nicht direkt oder indirekt von derartigen Gewalttaten betroffen war“. Diese Einschätzung entspricht zwar dem von den Medien gezeichneten Bild einer wachsenden terroristischen Gefahr allüberall in Europa, stimmt aber nicht einmal mit der Lagebeurteilung überein, die die EU von sich selbst gegeben hat, etwa in dem von Europol ausgearbeiteten „Bericht über den Terrorismus in der Europäischen Union zwischen September 2000 und September 2001.“ Darin werden als betroffene Regionen das Baskenland, Nordirland und Korsika genannt. Als Schlussfolgerung wird gezogen: „Die Anzahl der terroristischen Anschläge ist zwar leicht zurückgegangen, doch sind die Attentate umso verheerender geworden. Am schlimmsten ist die Lage im Baskenland.“ Was islamische Terrorgruppen angeht, so wird betont, dass „sie für die Union insofern eine Gefahr darstellen, als sie ihr Territorium zur Vorbereitung für Attentate verwenden können, die anderswo verübt werden, wie es die Ereignisse vom 11. September gezeigt haben.“

In dem Beschluss des Europäischen Parlaments wird der Rat aufgefordert, sowohl „einen Rahmenbeschluss zur Annäherung der einschlägigen Rechtsvorschriften“ als auch einen „zur Ausführung eines ‚europäischen Haftbefehls‘ zur Bekämpfung des Terrorismus“ anzunehmen. Dies alles, wohlgemerkt, sechs Tage vor den Attentaten in New York und Washington! Sieht man sich die Entstehungsgeschichte dieses Beschlusses einmal genauer an, so kann man leicht feststellen, dass der vom seinerzeitigen Ausschussvorsitzenden Graham Watson, dem gegenwärtigen Vorsitzenden der Liberalen Fraktion im Europäischen Parlament, vorgelegte moderate Bericht im Zuge der Beratungen erheblich verschärft wurde. Es waren vor allem die spanischen Europaabgeordneten, der konservativen und sozialistischen Fraktionen, die in vielen Fällen Erfolg damit hatten, dem Europäischen Parlament ihre spezifisch spanische Sichtweise aufzudrängen. Von den im Ausschuss beratenen 35 Änderungsanträgen stammten denn auch allein 19 von ihnen.

Neben der führenden Rolle spanischer Kommissionsbeamter und der in der Frage des Terrorismus stets in einer großen Koalition von Sozialisten und Konservativen wirkenden spanischen Europaabgeordneten, war der Einfluss Spaniens auch bei der Durchsetzung des Rahmenbeschlusses über einen europäischen Haftbefehl nicht zu übersehen. Wiederholt hatten Vertreter des Landes ihre Unzufriedenheit mit der jetzigen Situation bei der Überstellung von vermutlichen Attentätern der baskischen ETA zum Ausdruck gebracht. Zwar hatte sich die EU bereits 1996 auf eine Konvention zur beschleunigten Auslieferung von Straftätern verständigt, doch dieses Übereinkommen ist bis heute nur von neun der 15 Mitgliedsländer unterzeichnet worden. Nun könnte man annehmen, dass es letztlich gleich sei, wo etwa baskische ETA-Terroristen verurteilt werden, ob in Spanien oder im europäischen Ausland, überall haben Mörder die Höchststrafe zu gewärtigen. Was die spanischen Behörden bei ihrem Drängen um Auslieferung jedoch tatsächlich im Sinn haben, beschrieb die Neue Zürcher Zeitung wie folgt: „Der spanischen Polizei geht es zunächst vor allem darum, in Frankreich verhaftete ETA-Terroristen sofort temporär überstellt zu bekommen, um die Verhöre durchzuführen, solange deren Informationen noch nützlich sind – also nicht erst nachdem der Terrorist eine langjährige Strafe in Frankreich abgesessen hat.“ Aus diesem Grund hat Spanien separate Abkommen zur erleichterten Auslieferung bereits mit Italien, Frankreich und Großbritannien abgeschlossen, ohne auf die Inkraftsetzung des europäischen Haftbefehls zu warten. „Spanien kämpft in der Europäischen Union an vorderster Front um einen einheitlichen Rechtsraum, den sogenannten Euroorden“ , da es sich dadurch einen innenpolitischen Legitimitätszuwachs für das harte Vorgehen gegen den baskischen Separatismus als auch eine Erleichterung bei der Auslieferung von des Terrorismus Verdächtigen aus anderen europäischen Ländern (etwa aus Frankreich und Belgien) verspricht.

Die Interessen Spaniens sind offenkundig. Aus hier nicht zu vertiefenden Gründen gibt es dort eine dem baskischen Nationalismus entstammende akute terroristische Gewalt, die bei Anschlägen wahllos Personen angreift, die sie für Repräsentanten des Staates hält und selbst vor Anschlägen auf Mitglieder von Friedensinitiativen nicht zurückschreckt. Aus gleichfalls hier nicht zu untersuchenden Gründen weigert sich gegenwärtig die spanische Regierung – im Unterschied etwa zu den Bemühungen der britischen und irischen Regierungen zur Lösung des Nordirlandkonflikts oder auch der französischen in der Korsika-Frage – den Weg des Dialog einzuschlagen. Spanische Konservative und Sozialisten sind gegenwärtig vielmehr davon überzeugt, dass nur entschlossene staatliche Härte einen Ausweg weisen kann. So sind sie sogar darum bemüht, die europäischen Regierungen davon zu überzeugen, dass die im Umfeld der ETA anzusiedelnde Partei Batasuna, immerhin eine parlamentarisch verankerte Partei, als terroristische Organisation einzustufen ist.

Die europäische Antiterrorismuspolitik wird von einigen interessierten Staaten bestimmt, zu denen neben Spanien auch Großbritannien, Frankreich, Italien, Portugal und Deutschland gehören. Es handelt sich dabei um Länder, in denen in früheren Jahren, vor dem Hintergrund terroristischer Herausforderungen, tiefgreifende Veränderungen der Strafgesetze und Strafprozessordnungen vorgenommen wurden. Sie sehen die Gelegenheit gekommen, ihre auf nationaler Ebene getroffenen Regelungen jetzt auf europäischer Ebene durchzusetzen und damit zugleich gegenüber innenpolitischen Kritikern abzusichern. Nach den Attentaten von New York und Washington besteht die Chance, Bedenken aus den Öffentlichkeiten jener Länder zur Seite zu räumen, in denen solche Gesetze bislang nicht existieren. Sie kamen bislang sehr gut mit den herkömmlichen Normen aus. Dabei handelt es sich immerhin um neun der fünfzehn Mitgliedstaaten, d.h. mit anderen Worten, die übergroße Mehrheit wird erst jetzt, mittels des europäischen Rahmenbeschlusses, veranlasst, solche Gesetze zu erlassen. Dies betrifft Länder wie Finnland, Schweden, Luxemburg, die Niederlande und Dänemark, um nur einige zu nennen, die Terrorismus aus ihrer Nachkriegsgeschichte gar nicht kennen, sich aber jetzt dennoch solche speziellen Gesetze zulegen müssen.

Noch schwerer dürfte aber wiegen, dass allen Mitgliedsländern nun aus Brüssel starre Vorgaben gemacht werden, wie sie auf vorhandene bzw. potentielle terroristische Gefahren zu reagieren haben. Dies könnte sich in Zukunft im Einzelfall noch als ein großes Hindernis erweisen, denn die Geschichte hat gezeigt, dass terroristische oder separatistische Herausforderungen oft nur aufgrund politischer Zugeständnisse der Staatsmacht, etwa mit der Hilfe von Straffreiheitsgesetzen und Amnestien, verbunden nicht selten mit der Anerkennung der Gewalttäter als Verhandlungspartner, mühsam überwunden werden konnten. Solche Entscheidungen greifen regelmäßig tief in den Staatsaufbau und das Zusammenleben der Menschen ein und können daher auch nur von den Gesellschaften der betroffenen Länder verantwortet und allein von ihnen selbst getroffen werden. Beispiele aus der jüngsten Geschichte sind etwa die Vereinbarungen zwischen Großbritannien und Irland über die Zukunft Nordirlands und das Autonomiestatut, das Korsika von der französischen Regierung gewährt wurde. Diese Bedenken gelten gleichfalls für die Auslieferung von des Terrorismus Verdächtigten. Nicht selten fließen in solche Entscheidungen auch Opportunitätsgesichtspunkte ein, wonach etwa eine Verurteilung vor Ort vorgezogen wird, um im Falle einer Auslieferung nicht selbst Ziel terroristischer Angriffe zu werden. Die aufgrund des Europäischen Haftbefehls zukünftig obligatorische Pflicht zur ungeprüften Überstellung solcher Verdächtigen nimmt den Staaten jenen Spielraum. Die Europäische Union greift damit tief in den Kernbereich nationaler Souveränität ihrer Mitgliedstaaten ein. Die Generalisierung des Terrorismusbegriffs steht kann zukünftig solchen nationalen Lösungen im Weg. Das europäische Vorgehen liegt damit allerdings im internationalen Trend der Verallgemeinerung des Terrorismus und seiner Loslösung von seinen spezifischen Grundlagen.

„Eine rechtspolitische Katastrophe“

Solche gravierenden Eingriffe in die nationale Souveränität wären selbst dann kaum zu rechtfertigen, wenn sie aufgrund eines demokratischen und die Öffentlichkeit einbeziehenden Prozesses zustande kommen würden. Davon kann aber bei den hier diskutierten Rahmenbeschlüssen keine Rede sein. In den Entscheidungsprozessen sind vielmehr eklatante Demokratiedefizite sichtbar geworden. Vom Rat wurde aufgrund des selbst formulierten Zeitdrucks („Beschlussfassung bis Ende des Jahres“) nicht einmal die im EG-Vertrag vorgeschriebene Dreimonatsfrist für die Stellungnahmen des EP eingehalten. Auf die Einberufung von Sachverständigenhearings wurde ganz verzichtet. Wiederholt waren die vom Rat vorgelegten Entwürfe bei der Beratung im zuständigen EP-Ausschuss bereits veraltet. Die Aussprachen fanden teilweise parallel im Rat und im EP auf Grundlage nicht einmal in allen Details identischer Texte statt.

Deutlich erkennbar wurde dabei die institutionelle Schwäche des Europäischen Parlaments. Der bisher im sogenannten „Dritten Pfeiler“ im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der Union angesiedelte Bereich der Innen- und Rechtspolitik wird nach den Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags bis 2004 mit jeweils einstimmigen Beschlüssen des Rates Schritt für Schritt in den sogenannten „Ersten Pfeiler“ der vergemeinschafteten Politik transformiert. Erst 2004 muss der Rat darüber entscheiden, ob diese Fragen zukünftig in das Mitentscheidungsverfahren übergehen sollen. Großbritannien und Dänemark lehnen dies allerdings bisher ab. Nur dann bekäme das Europäische Parlament ein echtes Mitwirkungsrecht. Bis dahin ist es lediglich auf ein Konsultationsrecht beschränkt. Dies bedeutet, dass das Europäische Parlament erst dann zum Zuge kommen kann, wenn das Grundgerüst einer vergemeinschafteten Innen- und Rechtspolitik bereits steht. Wiederholt hat das EP daher verlangt, dieses Verfahren zu ändern und bereits jetzt die Innen- und Rechtspolitik in das Mehrheitsverfahren des Rats mit einem echten Beteiligungsrecht des Parlaments zu übernehmen. Vom Rat ist dieses Ansinnen regelmäßig abgelehnt worden.

Das Fehlen eines wirklichen parlamentarischen Verfahrens und der enorme Zeitdruck hatten auch Auswirkungen auf die Qualität der Gesetzgebungsarbeit. Dies betrifft vor allem den in der ersten Fassung der Kommissionsvorlage enthaltenen weiten Terrorismusbegriff, der „Beschädigungen öffentlicher Einrichtungen, öffentlicher Transportmittel, Infrastruktureinrichtungen, öffentlicher Plätze und von Eigentum (privatem wie öffentlichem)“ als unter Umständen terroristische Straftaten nannte. Ausdrücklich wurde in der Begründung darauf hingewiesen, dass dies auch „Akte städtischer Gewalt“ umfasst. Als Voraussetzung zur Bewertung dieser Taten als terroristisch sollte allein das Ziel von Einzelpersonen oder Gruppen genügen, dies zur „Einschüchterung, grundlegenden Veränderung oder Zerstörung der politischen, ökonomischen oder sozialen Strukturen dieser Länder“ nutzen zu wollen. Wer denkt da nicht unwillkürlich an die Auseinandersetzungen von militanten Globalisierungsgegnern und der Polizei, etwa in Göteborg und Genua? Und Vorbilder für diesen weiten Terrorismusbegriff finden sich ja bereits in den Rechtsordnungen einiger EU-Mitgliedsländer. In Spanien und Frankreich wird ein terroristischer Akt bereits in der „Bedrohung der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Friedens“ gesehen. In Großbritannien und Portugal wird darunter eine „Beeinträchtigung des reibungslosen Funktionierens der Regierung und der Institutionen“ verstanden. In diesen beiden Ländern genügt auch schon „eine Einschüchterung von Personen oder Gruppen“, um Straftaten als terroristische Akte zu bewerten. Das selbst gestandenen sozialdemokratischen Europaabgeordneten die Formulierungen der Kommission nicht mehr geheuer waren, zeigte etwa der Abänderungsantrag des SPD-Europaabgeordneten Gerhard Schmid, in dem gefordert wurde, „Arbeitskämpfe und die damit zusammenhängenden Handlungen sind von dem Rahmenbeschluss auszunehmen.“ Die beiden dänischen Europaabgeordneten Pernille Frahm von der Vereinten Europäischen Linken und Ole Krarup von der europaskeptischen Fraktion für das Europa der Demokraten und der Unterschiede nahmen in einer Minderheitenansicht dazu Stellung: „Unter unerhörtem Zeitdruck und auf der Grundlage einer gänzlich unzureichenden Vorbereitung zwingt die EU den Mitgliedstaaten eine Terrorismus-Definition auf, die bei der rechtlichen Handhabung völlige Willkür zulässt. Der Beschluss beinhaltet vor allen Dingen 1) eine Kriminalisierung von Verhaltensweisen, die legale demokratische Verhaltensweisen darstellen, und 2) eine unüberschaubare Auswirkung von Befugnissen zu polizeilicher Überwachung und geheimer Ermittlung – Dinge, die in der Strafjustiz der nordischen Länder fundamentalen Schutzprinzipien widersprechen. Der gemeinschaftliche Ansatz ist nicht nur ein Ausdruck der Ohnmacht. Hier handelt es sich um eine rechtspolitische Katastrophe.“

Das schließlich bei der Formulierung der Definition des Terrorismus mit Mühe noch gerade das Schlimmste verhindert werden konnte, war erst der massiven Intervention der Vertreter der skandinavischen Staaten und der Niederlande im Europäischen Rat zu verdanken. Als Voraussetzung zur Bewertung von Straftaten als terroristische wird nun verlangt, dass sie „mit dem Vorsatz begangen werden, (Institutionen oder Bevölkerung – A.W.) einzuschüchtern und die politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes ernsthaft zu schädigen oder zu zerstören.“ Diese Änderungen waren allerdings nicht Ergebnis eines sich vor den Augen der Öffentlichkeit vollziehenden Ringens unterschiedlicher politischer Kräfte, etwa im Plenum des Europäischen Parlaments, sondern Resultat von hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen eines sich “ Ausschuss ständiger Vertreter (AstV) “ nennenden Gremiums anonymer Beamten der Mitgliedstaaten, von denen nicht einmal Protokolle gefertigt werden.

Doch trotz dieser Textänderungen waren sich einige Staaten nicht sicher, ob sie mit dem Ergebnis dieser Verhandlungen vor ihren nationalen Öffentlichkeiten bestehen könnten. Schweden, Dänemark und Irland hatten deshalb ausdrücklich die Billigung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung aber auch des Vorschlags über einen europäischen Haftbefehl von der Zustimmung ihrer nationalen Parlamente abhängig gemacht. Im schwedischen Reichstag wurde daraufhin mit Beginn des Jahres ein Verfahren in Gang gesetzt, wie man es sich für den europäischen Gesetzgebungsprozess eigentlich gewünscht hätte: Die Texte der Rahmenbeschlüsse wurden zunächst der breiten Öffentlichkeit überhaupt erst einmal bekannt gemacht, es fanden Anhörungen statt und die Parteien nahmen in ihren Gremien Stellung. Und vor allen Dingen, man nahm sich Zeit: Erst Ende Mai diesen Jahres wurde abgestimmt. Das heißt, allein ein Land von fünfzehn benötigte zur Entscheidung über die mögliche Aufhebung seiner Vorbehalte gut doppelt so lange, wie das ganze Verfahren auf europäischer Ebene insgesamt gedauert hat – eine absurde Situation.

Was den europäischen Haftbefehl betrifft, so haben einige wichtige EU-Mitgliedstaaten bereits einen Weg gefunden, ihn vorzeitig in Kraft treten zu lassen und sich damit von der italienischen Verzögerungstaktik unabhängig zu machen. Auf dem Treffen des Rats der Justiz- und Innenminister am 14. Februar 2002 beschlossen Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Luxemburg und Deutschland, das Inkrafttreten um ca. ein Jahr auf Anfang 2003 vorzuziehen. Diese Beschleunigung wird mit Sicherheit negative Auswirkungen auf die verfahrensrechtliche Stellung der von den Auslieferungsverfahren Betroffenen haben, denn es gibt gegenwärtig keine europäische Verständigung über die erforderlichen prozessualen Begleitgesetze. „Im Einzelnen müssen der Zugang zur Gerichtsbarkeit (Prozesskostenhilfe), kompetente rechtliche Vertretung, die Kommunikation, d.h. ein kompetenter Übersetzer- und Dolmetscherservice, die Schaffung der Möglichkeit der vorläufigen Freilassung, um Diskriminierung von Ausländern zu verhindern, die Überprüfung von bestimmten Verfahrenspraktiken, die zu ungerechten Gerichtsentscheidungen führen, eingerichtet werden.“ Da kaum anzunehmen ist, dass diese Regelungen im Zeitraum von weniger als einem Jahr auf der europäischen Ebene geschaffen werden können, wird das Pferd mit der vorfristigen Inkraftsetzung des Haftbefehls klassisch von hinten aufgezäumt.

Die Notwendigkeit der Demokratisierung der Europäischen Union

Die überstürzt in die Wege geleiteten, weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelten und ohne echte parlamentarische Kontrolle beschlossenen Rahmenbeschlüsse zur Terrorismusbekämpfung und zum europäischen Haftbefehl werfen ein bedenkliches Licht auf die Art und Weise, wie sich Kommission und Rat die Schaffung des viel beschworenen europäischen „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ vorstellen. Da es bei der Harmonisierung der Strafrechtsordnungen der Mitgliedsländer regelmäßig um Eingriffe in hochsensible Kernbereiche der jeweiligen nationalen Souveränität geht, wird die Europäische Union mit Hilfe eines solchen klandestinen Verfahrens auf Dauer wenig erfolgreich sein. Das beschriebene Vorgehen bei der Durchsetzung der Rahmenbeschlüsse dürfte allerdings kaum so einfach wiederholbar sein, war doch dieses Überrumpelungsmanöver nur vor dem Hintergrund des medialen Drucks aufgrund der Ereignisse des 11. September möglich.

Es ist aber nicht nur die höchst problematische Verfahrensweise bei der Schaffung eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die zu kritisieren ist. Zu hinterfragen ist vielmehr das Entscheidungssystem der Europäischen Union als solches, das letztlich immer noch auf den Grundlagen der klassischen Außenpolitik beruht, mit all ihren undurchsichtigen und undemokratischen Verfahren der diplomatischen Kabinette und ihrer Geheimdiplomatie. Es ist zweifelhaft, ob dieses immer lauter beklagte Demokratiedefizit allein durch mehr Kompetenzen für das Europäischen Parlament behoben werden kann, wie es die Europaoptimisten glauben. Dieser Lösungsvorschlag übersieht, dass damit noch lange nicht eine europäische Öffentlichkeit geschaffen wird, die aber unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass sich überhaupt eine demokratische Willensbildung auf gesamteuropäischer Ebene herausbilden kann. Doch eine solche gesamteuropäische Öffentlichkeit ist gegenwärtig bestenfalls in Ansätzen erkennbar. Es fehlt nicht nur an echten europäischen Parteien, sondern auch an Medien der Willensbildung wie gesamteuropäischen Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten. Schließlich stellt das Sprachenproblem eine kaum überwindbare Hürde für eine gesamteuropäische Meinungsbildung dar. Erfolgversprechender wäre hingegen die Stärkung der Rechte der einzelnen nationalen Parlamente auch bei Beschlussfassungen auf europäischer Ebene, wie es sie bereits in einigen Ländern, etwa in Dänemark, Großbritannien, Schweden, Belgien und neuerdings Italien, gibt. Damit könnte auch die „Ratifikationslage“ und damit die Hilflosigkeit der Parlamente angesichts der regelmäßig von den Regierungen bereits vorab geschaffenen Realitäten überwunden werden. Der unter Vorsitz des früheren französischen Präsidenten Giscard d‘ Estaing seit Februar 2002 tagende „Konvent zur Zukunft Europas“ wird sich diesen Herausforderungen zu stellen haben. Wenigstens deklamatorisch haben ja auch die Staats- und Regierungschefs dieses Problem inzwischen aufgegriffen, als sie etwa in der Erklärung des Gipfels von Laeken im Dezember 2001 feierlich erklären: „Die Bürger finden, dass alles viel zu sehr über ihren Kopf hinweg geregelt wird, und wünschen eine bessere demokratische Kontrolle.“

Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2002