Eine meiner schwersten Entscheidungen: Die Sache mit den Vitaminen
Am 12. März 2002 stand auf der Tagesordnung des Europäischen Parlaments die Entscheidung über die EU-Richtlinie zu Nahrungsmittelergänzungen in Form von Vitaminen und Mineralien. Ihr war eine monatelange Auseinandersetzung voraus gegangen. Ich bekam persönlich sehr, sehr viele Briefe von Menschen, die mir zum Teil ihre Krankenschichten schilderten und manchmal sogar ihre ärztlichen Befunde und Röntgenaufnahmen mitschickten. Das hat mich sehr berührt. All diese Menschen appellierten an mich, gegen die genannte Richtlinie zu stimmen. Sie hofften, durch die Einnahme konzentrierter Vitaminpräparate gesund zu werden oder gaben an, dadurch eine Erleichterung ihrer Leiden zu erleben oder gar wieder gesundet zu sein.
Nicht berührt, sondern eher misstrauisch gemacht, hat mich dagegen die Flut von Hunderten von Briefen und E-Mails mit einheitlichen, vorgefertigten Texten, mit denen nicht nur ich, sondern alle Abgeordnete regelrecht „zugeschüttet“ wurden.
Die in den Briefen dokumentierten Einzelschicksale und die massive Kampagne waren mir Anlass, mich mit dem Problem etwas näher zu befassen. Das Resultat war, dass ich – entgegen der Mehrheit in meiner eigenen Fraktion – für die Richtlinie gestimmt und damit manchen Menschen, der sich an mich gewandt hatte, enttäuscht habe. Mir fiel diese Entscheidung nicht leicht, auch weil es einen (in der Abstimmung gescheiterten) Antrag meiner Fraktion gab, die EU-Richtlinie zurückzuweisen.
Warum habe ich mich so entschieden?
Der Chef der Kampagne gegen das mit der EU- Richtlinie angeblich verbundene „Verbot von Vitamin-Therapien“ ist der Produzent von Vitaminpräparaten Dr. Matthias Rath, der im Jahr 2001 mit einer Großwerbetafel-Aktion in 23 deutschen Städten unter dem Slogan „Millionen Menschen sagen: Danke Dr. Rath“ Aufmerksamkeit erregte. Rath versteht seine Pillen als Nahrungsergänzungsmittel, die jedem frei zugänglich sein müssen. So behauptet er z. B., dass Herzinfarkt und Schlaganfall allein Folgen chronischen Vitaminmangels seien und daher mit hochdosierten Vitamingaben besiegt werden könnten.
Doch als Nahrungsergänzungsmittel dürfen Produkte in Deutschland nur dann verkauft werden, wenn die Dosis des Wirkstoffs – etwa Vitamin C – nicht mehr als das Dreifache des empfohlenen Tagesbedarfs erreicht. Raths Vitaminpillen aber sind deutlich höher dosiert, weil dies seiner Theorie von Vitaminen als Krankheitsverhinderer entspricht. Damit gelten sie in Deutschland als Arzneimittel und bräuchten eine Zulassung, wie es sie für andere Vitaminpräparate bereits gibt. Rath hat aber Probleme, die von ihm behauptete Wirkung einer allgemeinen Krankheitsvorbeugung zu beweisen. Deshalb vertreibt er von den Niederlanden aus per Postversand seine hochdosierten Vitaminpräparate, die in Deutschland aufgrund ihrer Zusammensetzung und Auslobung als Nahrungsergänzungsmittel nicht verkehrsfähig sind. Rath stellt sich als Kämpfer für eine Welt ohne Herzinfarkte dar, der das „Pharma-Kartell“ in die Knie zu zwingen versucht, was in manchen Ohren besonders revolutionär klingt. Seine Kritiker werfen ihm dagegen Handeln vor allem aus Profitstreben sowie eine potenzielle Gefährdung seiner Kunden vor.
Dass Rath seine Geschäfte bislang von Holland aus betreiben kann, funktioniert, weil die Regelungen für Wirkstoff-Höchstmengen in Nahrungsergänzungsmitteln in den 15 EU-Staaten unterschiedlich sind. Mit der nunmehr beschlossenen EU- Richtlinie soll dieser Zustand sollen in allen Mitgliedsländern einheitliche Kriterien der gesundheitlichen Unbedenklichkeit im Interesse des vorbeugenden Verbraucherschutzes durchgesetzt werden.
Die neue Richtlinie regelt, dass Nahrungsergänzungsmittel mit Vitaminen und Mineralstoffen in ernährungs-physiologisch sinnvollen Dosierungen, die in Übereinstimmung mit den lebensmittelrechtlichen Vorschriften stehen, auch weiterhin frei erworben werden dürfen. Dagegen unterliegen höher dosierte Vitaminpräparate einer Zulassung als Arzneimittel. Ihre Verschreibung erfolgt durch den behandelnden Arzt. Zugleich sieht die Richtlinie als Pflicht vor, dass künftig Warnhinweise für den erhöhten Verzehr bestimmter Vitamine und Mineralstoffe auf der Verpackung stehen.
Niemand bestreitet die Lebensnotwendigkeit von Vitaminen. Aber eine hohe Überdosierung von Vitaminen ist nach aktuellem Kenntnisstand für den gesunden Menschen nicht ratsam. Die Empfehlungen von Dr. Rath werden durch international durchgeführte Studien nicht gestützt. Mit einer ausgewogenen Ernährung wird der tägliche Vitamin- und Mineralstoffbedarf abgedeckt. Eine ungesunde Lebensweise (zu fettreiche Ernährung, Rauchen, Bewegungsmangel) lässt sich nicht durch Vitamine kompensieren. Deshalb ist es richtig, dass Aussagen, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen, im Verkehr mit Lebensmitteln unzulässig sind. Dadurch wird der Verbraucher vor Täuschung durch falsche Versprechungen bei der Auslobung von Lebensmitteln geschützt.
Die Richtlinie bringt für Menschen, die darauf bauen, dass ihnen eine Vitamin-Therapie hilft, keine Probleme. Wie heute wird man auch weiterhin Vitamine in hohen Dosen zur Bekämpfung von Krankheiten kaufen können – nur eben dann auch bei EU-Importen ausschließlich als Arzneimittel mit staatlicher Zulassung, also in der Apotheke.
Probleme bekommt lediglich Herr Rath, der seine Präparate künftig auch in den Niederlanden nicht mehr als Nahrungsergänzungsmittel deklariert herstellen und von dort aus nach Deutschland verschicken kann. Das erschwert sein Geschäft, er muss sich zumindest hinsichtlich der hochdosierten Präparate um die Zulassung als Arzneimittel bemühen. Im übrigen sollen Raths Pillen nach Information der Verbraucherschutzzentrale maßlos überteuert sein.
Quelle:
Brüsseler Spitzen 2000