Die Europäische Union zwischen Reglementierung, Lobbyismus und Bürgernähe

André Brie, 2. November 2002, Beitrag auf dem Gesundheitskongress ‚Eine gesunde und friedliche Welt ist möglich‘

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich herzlich für die Einladung bedanken, auf diesem Kongress zu sprechen. Das Thema, das Sie hier vorrangig diskutieren und für das Sie sich vor allem persönlich engagieren, ist für sehr viele Menschen von unüberschätzbarer Bedeutung. Ich bin überzeugt, dass bürgerschaftliches Engagement im allgemeinen und in so zentralen Fragen im besonderen entscheidend dafür ist, ob wir fähig sind, die sehr komplizierten und komplexen Herausforderungen in der modernen Welt, der modernen Gesellschaft, demokratisch zu beantworten, oder ob im anderen Fall die Demokratie eine geschichtlich kurze Episode gewesen sein wird.

Es hat unmittelbar mit meinem Thema zu tun, wenn ich Ihnen gestehe, dass ich als Abgeordneter des Europäischen Parlaments sehr oft – und in wirklich wesentlichen gesetzgeberischen Beschlüssen – keine ausreichende Einschätzungskompetenz besitze. Wer in den Parlamenten, und offensichtlich insbesondere im Europäischen Parlament, sich dieses Problems nicht bewusst ist, es verdrängt oder gar leugnet, trägt unweigerlich dazu bei, die Krise der parlamentarischen Demokratie, die ich – im übrigen mit vielen Analytikern gemeinsam – sehe, zu vertiefen. Die wachsende Rolle wissenschaftlicher, technischer und anderer fachspezifischer Fragen in der Politik, in der Gesellschaft, für unser Leben überhaupt, damit natürlich auch für die Gesetzgebung, wird nicht rückgängig zu machen sein. Sie ist für die gesamte Gesellschaft und für die Legislative eine enorme, aber nach meiner Überzeugung lösbare Herausforderung an die Demokratiefähigkeit. Wer Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie will, wer eine Technokratur ablehnt, wird die parlamentarische Demokratie verteidigen und an Abgeordnete ein menschliches Maß anlegen, zumal die meisten Abgeordneten bestrebt sind, eingeschränkte oder fehlende Kompetenz auf einzelnen Gebieten zu kompensieren – durch Orientierung an vertrauenswürdigen Fachleuten in der eigenen Fraktion und deren Mitarbeiterstab, durch aufmerksame Teilnahme am Diskussionsprozess, der den Entscheidungen vorangeht, und nicht zuletzt durch Kontakte mit externen Fachleuten, Lobbygruppen und den Bürgerinnen und Bürgern, die sich gar nicht so selten direkt in die Gesetzgebungsprozesse einmischen.

Ohnehin liegt das eigentliche Problem, die wirkliche Gefährdung demokratischer Gestaltungsfähigkeit unserer Gesellschaften und der Europäischen Union auf einem anderen Gebiet, in der entfesselten Macht der großen Konzerne, Banken und Anlagefonds. Der große europäische Liberale, Ralph Dahrendorf hat in jüngster Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen, dass große politische Weichenstellungen nicht mehr primär in den Parlamenten, sondern in Lobbygruppen, an den Börsen, informellen Kreisen oder durch die Gerichte entschieden werden. Und Lothar Späth beispielsweise beklagte vor wenigen Jahren in einem Interview mit dem „Stern“, dass die Politiker nicht begriffen, dass die Entscheidungen nicht mehr primär in Bonn (damals noch Regierungssitz), sondern in der Wirtschaft fielen. Ich glaube aber, dass der Skandal nicht, wie Späth glauben machen will, in der Begriffsstutzigkeit der Politiker besteht, sondern darin, dass Späth in der Sache Recht hat hinsichtlich der sich verselbständigenden Rolle der Wirtschaft, ihrer mangelnden politischen Kontrolle bei gleichzeitig zunehmender Beherrschung zentraler gesellschaftlicher Entwicklungsrichtungen durch die Wirtschaft.

Das aber ist kein naturwüchsiger Prozess. Das ist das Ergebnis von Politik. Es waren die Politik und die Entscheidungen der Regierungen, die die Europäische Zentralbank zu einem unkontrollierten Machtzentrum der Europäischen Union gemacht hat. Sie entscheidet über die Kredit- und Investitionsbedingungen, über wesentliche Teile der Haushaltspolitik, der Steuerpolitik, letztlich über die Rahmenbedingungen auch von Wirtschafts-, Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltpolitik. Es waren die Regierungen und die Parlamente, die sich mit ihren Beschlüssen zur europäischen Wettbewerbspolitik teilweise selbst entmachtet haben hinsichtlich der Möglichkeiten, soziale und beschäftigungspolitische Ziele verfolgen zu können.

Ich erwähne diese Fragen deshalb, weil es zu kurz greift, wenn kritische Bewegungen wie die Ihre, sehr geehrte Damen und Herren, sich lediglich mit den Erscheinungen und Konsequenzen dieser Politik auseinandersetzen würden. Dann können Sie Widerstand leisten, dann können Sie versuchen, Auswüchse zu verhindern oder zu korrigieren, dann können Sie reparieren, aber Sie kommen nicht an die Ursachen heran, Sie werden immer wieder aus der Defensive handeln müssen. Ich schätze diese Kämpfe und ihre Ergebnisse nicht gering ein, aber sie reichen meiner Meinung nach nicht aus. Es geht eben nicht nur um bürokratische Reglementierung, um Demokratiedefizite und unkontrollierten Lobbyismus, es geht ganz elementar darum, ob wir ein Europa der Menschen haben und haben wollen oder ab wir uns mit dem real existierenden Europa des Geldes und Monetarismus, der Banken, der Konzerne abfinden. Und ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich hervorheben, dass der Ausweg meiner Meinung nach nicht in einer negativen Haltung zur europäischen Integration bestehen sollte. Erstens geht diese Politik vornehmlich von den nationalen Regierungen aus und dominiert auch in Staaten, die nicht Mitglied der EU sind. Zweitens könnte die Europäische Union jener große wirtschaftliche und politische Raum sein, der anders als die zu klein werdenden Nationalstaaten, geeignet wäre, die negativen Seiten der Globalisierung, insbesondere den sozialen Dumpingwettlauf, abzuwehren und den europäischen Sozialstaat zukunftsgemäß zu verteidigen und zu erneuern.

Wenn Sie, sehr geehrte Damen und Herren, Ihren Kongress überschrieben haben „Eine gesunde und friedliche Welt ist möglich“, so kann ich dieser Zuversicht gern zustimmen, möchte aber ihre unerlässliche Voraussetzung benennen: die Wiedergewinnung von demokratischer Entscheidungsfähigkeit über die Grundrichtungen der Politik. Es geht nicht um eine antiwirtschaftliche Politik, aber sehr wohl darum, die Gültigkeit von Artikel 14 Ziffer 2 des Grundgesetzes und ähnlicher Verfassungsgrundsätze in den anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union über die Gemeinwohlorientierung des Eigentums zu gewährleisten.

Was in den meisten europäischen Staaten bereits ein bedrohliches Problem geworden ist, die Krise demokratischer Politik, die Selbstentmachtung der Politik, das ist in der Europäischen Union von Anfang an ein dramatischer und bislang nicht überwundener Geburtsfehler ihrer Entwicklung, Ausgestaltung und ihrer gesamten Legitimation gewesen. Europa ist in keiner guten Verfassung. Obwohl inzwischen 60 Prozent der kommunalen und 80 Prozent der nationalstaatlichen Rahmengesetzgebung von Brüssel beeinflusst oder sogar bestimmt werden, ist die Kluft zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern tiefer denn je.

Viele von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, haben das in diesem Jahr in der Auseinandersetzung und Entscheidung über die EU-Richtlinie zu Nahrungsmittelergänzungen durch Vitamine unmittelbar erfahren. Es ist nur scheinbar paradox, wenn die EU-Kommission Regelungswut im Interesse deregulierter Verwertungsmöglichkeiten für die großen Pharmakonzerne an den Tag legt. Hier geht es um Macht und Einfluss einiger der stärksten europäischen und internationalen Konzerne und Konzerngruppen, hier geht es um einen der größten Wachstumsmärkte (um die Begrifflichkeit von EU-Behörden und Regierungen zu zitieren), hier geht es um einem Markt mit außergewöhnlichen Gewinnen, oder darf ich es etwas klarer sagen: Profiten. Hier wird nicht nur Lobbyarbeit mit viel Geld betrieben, und anders als viele gesellschaftliche Gruppen, anders als die Kritikerinnen und Kritiker der Pharma- und Chemiekonzerne, haben diese ständige Vertretungen in Brüssel und sind in der Lage Tag für Tag, ihre Interessen vor Ort gegenüber Abgeordneten, gegenüber dem Rat, gegenüber der Kommission zur Geltung zu bringen. Zusätzlich und vor allem haben sie aber ihre Interessenvertreter auch direkt in den Institutionen sitzen, dort, wo die Entscheidungsvorschläge ausgearbeitet werden. Den Bürgerinnen und Bürgern tritt die Macht der Europäischen Union oft nur anonym gegenüber. Für die Pharma- und andere große Konzerne ist Macht innerhalb der Europäischen Union konkret und personifizierbar. Es ist allzu oft ihre Macht.

Aber es gibt Alternativen. Eine andere Europäische Union ist möglich, eine demokratischere und sozialere! Sie geben auf diesem Kongress und mit Ihrer nachhaltigen Arbeit ein Beispiel.

Anders als Sie, sehr geehrte Damen und Herren, war ich mir ursprünglich nicht der Probleme im Zusammenhang mit der EU-Richtlinie zu den Nahrungsmittelergänzungen durch Vitamine bewusst. Ich habe zu Beginn dieses Jahres viele Hundert Briefe, Flugblätter, Unterschriftenlisten und e-mails dazu erhalten. Hinsichtlich der elektronischen Kampagne glaube ich allerdings, dass ihre Organisatoren dem Anliegen keinen guten Dienst erwiesen haben. Wenn die Computer durch stereotype und völlig unpersönliche mails fast blockiert werden, die Arbeitsfähigkeit der Büros eingeschränkt wird, fällt es schwer, Sympathie für ein noch so berechtigtes Anliegen zu entwickeln. Die Reaktion unter meinen Abgeordnetenkollegen, das möchte ich offen sagen, war nahezu ausschließlich negativ. Doch das nur am Rande.

Ich habe sehr, sehr viele Briefe mit echten Informationen bekommen; viele Menschen haben mir in langen handschriftlichen Briefen ihre individuelle Krankengeschichte geschildert und die Erleichterung, die sie durch intensive Vitaminbehandlung erlebt haben. Geschrieben hatten auch zahlreiche Ärzte. Ob ein Abgeordneter, sich solchen Argumenten öffnet, hängt von ihm selbst ab. Letztlich haben sich nur 139 Mitglieder des Europäischen Parlaments dem Antrag meiner Fraktion angeschlossen, die Richtlinie der EU-Kommission zurückzuweisen. Natürlich gab es auch Argumente der Kommission und von Experten, die ernst zu nehmen waren. Vor allem aber war der Druck aus den Regierungen und insbesondere aus der Pharmaindustrie groß. Und das war keine abstrakte Frage: es war teilweise ein echter Skandal. Um mich authentischer zu informieren, war ich in der Abstimmungswoche gern bereit, mich mit Dr. Rath im Parlament in Strasbourg zu treffen. Ich wurde vom Empfang über die Ankunft meines Besuchers informiert, ging hinunter, wollte ihn anmelden, reichte seinen Ausweis an die Sicherheitsbeamte. Die gab die Daten in den Computer und plötzlich tat sich nichts mehr. Wir warteten nichts ahnend geduldig, nach fünf Minuten erkundigte ich mich: Computerausfall. Nach zehn Minuten: Computerausfall. Nach 15 Minuten war der Sicherheitschef des EP mit großem Gefolge da, nahm mich bei Seite und wollte wissen, ob ich Dr. Rath wirklich empfangen wolle. Ja, natürlich, es sei mir wichtig und es sein mein Recht als Abgeordneter. Selbstverständlich sei es mein Recht, bekam ich zu hören, aber Dr. Rath sei verantwortlich für die Kampagne gegen die EU-Richtlinie. Eben, antwortete ich. Ich kürze ab, es war ausgesprochen unangenehm, es war auch ein empörender Tonfall dabei. Ich durfte schließlich Dr. Rath mit in mein Büro nehmen, aber während des gesamten Gespräches standen zwei Sicherheitsbeamte vor meiner Tür. Ich liefere Ihnen zu diesem Vorgang keine weitere Einschätzung, will aber ergänzen, dass es im Europäischen Parlament keinerlei Problem ist, Besucher zu empfangen und dass beispielsweise Diplomaten aus Staaten mit Militärdiktaturen und Folterregimen jederzeit und mit Dauerausweis Zugang haben, um ihre Lobbyarbeit zu machen.

Für mich war Vieles im Zusammenhang mit dieser EU-Richtlinie exemplarisch. Ich maße mir immer noch kein fachliches Einschätzungsvermögen an. Ich habe mich nicht als Experte entscheiden können und auch nicht wollen, sondern als Politiker, der Pro und Kontra abwägt und die Politik nicht aus dem Blickwinkel der Konzerne, sondern von den betroffenen Menschen her sehen will. Mich haben erstens die vielen sehr persönlichen Briefe beeindruckt. Zweitens haben Vitaminzusätze anders als viele Medikamente, die von der Industrie machtvoll durchgesetzt wurden, keine bedrohlichen Nebenwirkungen. Drittens, und das war für mich das entscheidende Moment, will ich es nicht akzeptieren, dass die Europäische Union wie ein zentralistischer Superstaat den Bürgerinnen und Bürgern solche Dinge vorschreiben kann. Das sind Entscheidungen, die die Einzelne, der Einzelne selbstbestimmt treffen können müssen!

Ein Europa, das dazu beiträgt, Gesundheit nicht zu einer Frage sozialer Herkunft und des Geldbeutels zu machen, wäre es wert, sich zu engagieren. Es geht um ein Europa, das sich nicht in den Aufbau einer eigenen militärischen Interventionsfähigkeit verrent, sondern ein ziviles, solidarisches und soziales Beispiel gibt. Es geht um ein Europa, das seinen Bürgerinnen und Bürgern endlich verbindliche und einklagbare Grundrechte und demokratische Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten einräumt. Von einem solchen Europa sind wir weit entfernt. Aber ein anderes, das gegenwärtige, Europa brauchen Konzerne, Banken, Machtpolitiker, die Menschen brauchen es nicht.

Deshalb: Mischen Sie sich weiter ein! Wir haben kein Recht, uns entmutigen zu lassen!