Warum ein EU-Konvent?

Interview mit Sylvia-Yvonne Kaufmann im ‚Neuen Deutschland‘ (ND) am 1. März 2002

Fragwürdig: Warum ein EU-Konvent?

Sylvia-Y. Kaufmann:
Die PDS-Politikerin sitzt als Vertreterin der linken Fraktion des Europaparlaments im Reformkonvent der Europäischen Union.

ND: Ein neuer EU-Konvent nahm gestern seine Arbeit auf. Was soll am Ende seiner Arbeit im nächsten Jahr stehen?

Die EU befindet sich in einer komplexen Vertrauenskrise. Die Kluft zwischen dem „fernen Europa“ und seinen Bürgern wächst, zudem steht die Union vor riesigen Herausforderungen bei ihrer Erweiterung. Sie braucht dringend eine tief greifende Reform an Haupt und Gliedern, um zukunftsfähig zu werden.

ND: Bis hin zu einer Verfassung, von der immer wieder die Rede ist?

Der Begriff Verfassung wird politisch unterschiedlich interpretiert. Aber was unbedingt erforderlich ist, ist eine Vereinfachung der Verträge, damit sie verständlich werden für die EU-Bürger, damit diese genau wissen, wer was warum wie in Brüssel entscheidet. Und notwendig ist natürlich, ihre Rechte zu stärken. Das wäre möglich durch die Aufnahme der Grundrechtecharta in die EU-Verträge.

ND: Bürgerbewegungen befürchten, dass die „Zivilgesellschaft“ in diesen Prozess nicht ausreichend einbezogen wird.

Der Konvent, der ja öffentlich tagt, strebt einen breiten Dialog mit der Zivilgesellschaft an. In seinen ersten Sitzungen gibt es eine so genannte Zuhörphase. Wir werden mit Verbänden, Bewegungen, Organisationen aus Europa über die Zukunft der Union diskutieren, auch in den EU-Ländern. In Brüssel gibt es bereits ein Forum der Zivilgesellschaft mit Namen „Europa 2004“. Hier haben sich soziale, Umwelt-, Menschenrechtsgruppen, aber auch der Europäische Gewerkschaftsbund zu einer Plattform verbunden – als Koordinierungsstelle für Hunderte europaweit agierende Nichtregierungsorganisationen und Ansprechpartner des Konvents.

ND: Auffällig ist, dass Frauen im Konvent deutlich unterrepräsentiert sind.

Der Anteil von nur knapp zehn Prozent ist in der Tat ein Skandal; beim Konvent zur Grundrechtecharta waren es wenigstens noch 20 Prozent. Ich denke, wir Frauen werden uns etwas einfallen lassen, um uns Gehör zu verschaffen. Die jüngste Initiative von Schröder und Blair hat nachdrücklich gezeigt, dass sich die Regierungen über die diversen EU-Räte als entscheidendes Machtzentrum auch künftig das Heft des Handelns in der Union nicht aus der Hand nehmen lassen wollen. Über die Vorschläge des Konvents entscheidet letztlich ebenfalls eine Regierungskonferenz. Tatsächlich versuchen die nationalen Regierungen in einem schon fahrenden Zug den Platz in der Lokomotive zu besetzen und die Richtung zu bestimmen. Da der Konvent zu zwei Dritteln aus demokratisch gewählten Parlamentariern des Europäischen sowie der nationalen Parlamente besteht und in dieser Form erstmals öffentlich eine umfassende Reform der Union diskutiert werden soll, setze ich aber darauf, dass die Regierungen am Ende nicht umhin können, ein fundiertes, konstruktives Ergebnis zu akzeptieren.

ND: Heißt das für Sie auch, dass die Rolle des Europaparlaments als bisher einzig demokratisch gewähltes EU-Organ gestärkt werden muss?
Aus meiner Sicht müssen die Rechte des Europäischen Parlaments deutlich gestärkt werden. Es darf keinen Politikbereich mehr geben, der außerhalb parlamentarischer Einflussnahme und Kontrolle steht. Und die EU-Abgeordneten müssen in allen Gesetzgebungsfragen Mitentscheidungsrecht bekommen.

Fragen: Olaf Standke

(ND 01.03.02)