Arbeitslosigkeit ohne Ende
André Brie, ‚Brüsseler Spitzen‘, Artikel im ND vom 15.03.2002
In den vergangenen Tagen mussten auch Leserinnen und Leser außerhalb der europäischen Institutionen sich mit dem eigenartigen Kauderwelsch der EU-Sprache herumschlagen, von Spöttern als „Eurosprech“ bezeichnet. Vor allem die „Lissabonner Strategie“ machte mal wieder Karriere – sicheres Indiz dafür, dass ein EU-Gipfel ins Haus steht. In der portugiesischen Hauptstadt hatte der Europäische Rat im Frühjahr 2000 ein Konzept beschlossen, das die Europäische Union „zur dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und nachhaltigsten Wirtschaftsregion“ machen, die Vollbeschäftigung sichern und eine stärkere wirtschaftliche und soziale Kohäsion in der Gemeinschaft herstellen sollte. Wenn die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Treffen in Barcelona nun Zwischenbilanz ziehen, dürfte das Ergebnis mager ausfallen.
Nach den jüngsten Berechnungen des EU-Statistikamtes Eurostat lag die Arbeitslosenquote der EU15 im Januar gegenüber Dezember 2001 unverändert bei 7,7 Prozent – und damit genauso hoch wie im Vergleichsmonat des Vorjahres. Praktisch bedeutet dies, dass in der EU nahezu unverändert fast 14 Millionen Menschen offiziell arbeitslos sind. Am günstigsten sieht es in den Niederlande mit einer Quote von 2,4 Prozent und Luxemburg mit 2,6 Prozent aus. Spanien bildet mit 12,8 Prozent weiter das Schlusslicht. Deutschland rangiert mit einer Erwerbslosenquote von 8,0 Prozent und viel Millionen Arbeitslosen im hinteren Mittelfeld.
Trotz der eher katastrophalen Zahlen wird die Europäische Kommission nicht müde, die Ziele der Vollbeschäftigung und sozioökonomischer Kohäsion zu wiederholen. Und das, obwohl sich wesentliche Annahmen der „Lissabonner Strategie“ bereits als illusionär und realitätsfremd erwiesen haben – insbesondere die an SED-Parteitage erinnernde Euphorie hinsichtlich der „new economy“ oder die Voraussetzung von dreiprozentigem jährlichem Wirtschaftswachstum über die nächsten zehn Jahre.
Noch bedenklicher als die Verbreitung von Illusionen erscheint mir aber, dass „Brüssel“ in seiner Beschäftigungsstrategie soziale Aspekte fast völlig ausklammert und statt dessen auf einen stramm neoliberalen Kurs setzt. In ihrem Mitte Januar veröffentlichten Positionspapier für den Barcelona-Gipfel moniert die EU-Kommission nicht etwa die fortbestehende Massenarbeitslosigkeit und die Vertiefung der sozialen Kluft, wohl aber Defizite beim „Gemeinschaftspatent“, bei der Schaffung eines europäischen Marktes für Finanzdienstleistungen, der Deregulierung des Energiemarktes und die Verzögerung des Satellitennavigationssystems „Galileo“. Wohin die Reise geht, hatten der britische Premier Tony Blair und Schwedens Ministerpräsident Göran Persson erst am Dienstag nochmals deutlich gemacht: Mehr „Flexibilität“ auf dem EU-Arbeitsmarkt und weitere Liberalisierung der Märkte.
Damit wiederholen Blair und Rasmuss allerdings nur, was ohnehin von der Kommission als Rezept gegen die Arbeitslosigkeit verkauft wird. Privatisierung und „freier europaweiter und globaler Wettbewerb“ werden in der Vorlage für Barcelona als die entscheidenden Mittel zur Beschäftigungsförderung angesehen. Unter dem Stichwort „Weiterentwicklung der Beschäftigungspolitiken, mit einer besonderen Betonung der aktiven Arbeitsmarktpolitik“ taucht an erster Stelle die „Überprüfung der Steuer- und Transfersysteme“ auf. Konkret bedeutet das weiteren sozialen Druck auf Arbeitslose, Abbau von gesetzlichen Mindeststandards zu Lasten der Lohnabhängigen, steuerliche Entlastung der Unternehmen und weitere Schritte bei der Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme.
Parallel zum Gipfel von Barcelona treibt die Kommission im Einklang mit den Regierungen und der Mehrheit des Europäischen Parlaments diese Politik auch auf anderen Gebieten aktiv voran. So orientiert sie in ihren Vorstellungen für die Entwicklung der europäischen Rentensysteme, die kürzlich im Parlament erörtert wurden, darauf, die sozialen und gesetzlichen Renten zu einer Minimumversorgung zu reduzieren und die beiden anderen Pfeiler der Altersversorgung (betriebliche und private Vorsorge) prinzipiell auszubauen. Eine lebensstandardsichernde Altersvorsorge wäre damit in Zukunft von der privaten Vorsorge und der Entwicklung der Finanzmärkte und Börsen abhängig. Die Beschäftigten des in Konkurs gegangen US-Energiekonzerns Enron, von denen Tausende ihre Altersvorsorge verloren, können ein Lied von solcher sozialen Sicherung singen.