Der Reformkonvent soll den Weg der Europäischen Union in die Zukunft ebnen und ihr eine Verfassung geben

Artikel von Sylvia-Yvonne Kaufmann, in veraenderter Fassung in der Zeitschrift DISPUT Nr. 4/02 (S.30-31) erschienen

Am 28. Februar konstituierte sich im Brüsseler Plenarsaal des Europaparlaments (EP) der Konvent der Europäischen Union mit insgesamt 105 Mitgliedern. Er soll seine Arbeit Mitte 2003 abschließen. Dem 66-köpfigen Team mit vollem Stimmrecht gehören 30 Mitglieder der nationalen Parlamente (2 pro Land), 16 Abgeordnete des EP und je ein Regierungsvertreter der 15 EU-Mitgliedstaaten sowie als Präsident der frühere französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, als Vizepräsidenten die ehemaligen Ministerpräsidenten Giuliano Amato (Italien, Sozialist) und Jean-Luc Dehaene (Belgien, Christdemokrat), die EU-Kommissare Michel Barnier (Frankreich, Konservativer) und António Vitorino (Portugal, Sozialist) an. Aus diesem Kreis wurde das 12-köpfige Konventspräsidium gebildet, dem zusätzlich drei Vertreter der Regierungen von Spanien, Dänemark und Griechenland als Vertreter der Ratspräsidentschaften angehören. Die 13 Beitrittskandidatenländer entsenden ebenfalls je einen Regierungsvertreter und zwei Vertreter der Parlamente. Sie sind umfassend an den Beratungen beteiligt, ohne jedoch einen Konsens, der sich zwischen den EU-Mitgliedstaaten abzeichnet, verhindern zu können. Als Beobachter verfolgen Vertreter des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der Sozialpartner, des Ausschusses der Regionen sowie der Europäische Bürgerbeauftragte den Konvent.

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Auszüge aus der Rede der PDS-Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann auf der 2. Sitzung des Konvents am 21. März:

„Ich sehe die einzigartige Aufgabe dieses Konvents darin, … die europäische Einigung unumkehrbar werden zu lassen und … das Integrationsfundament der EU beitritts- und zukunftsfähig zu gestalten. Unser gemeinsames Ziel sollte sein, einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten, dessen Kern die Grundrechtecharta bildet… Wir alle wissen, dass wir konkrete Vorschläge für die künftige Machtverteilung in der Union vorzulegen haben, zwischen den Institutionen Europaparlament, Rat und Kommission ebenso wie zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten…
Ich bin überzeugt, die Bürgerinnen und Bürger werden die gesamteuropäische Integration nur dann unterstützen, wenn sie demokratisch und transparent ist. Aber …so bedeutsam konstitutionelle Fragen für Europa auch sind … , die Menschen müssen … im Alltagsleben erfahren können, dass Europa mehr ist als Binnenmarkt, gemeinsames Geld und gelegentlich grenzenloses Reisen. Europa muss für sie da sein … Armut und Massenarbeitslosigkeit gehören nicht ins Europa des 21. Jahrhunderts. Deshalb brauchen wir die Entwicklung der EU hin zur Sozial- und Beschäftigungsunion. Ich bin dafür, das Sozialstaatsgebot in einer europäischen Verfassung zu verankern, ähnlich wie in der französischen Verfassung … Als eines der wenigen weiblichen Mitglieder steht für mich auch die Frage der Gleichstellung der Geschlechter ganz oben auf der Prioritätenliste …“

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Der Reformkonvent soll den Weg der Europäischen Union in die Zukunft ebnen und ihr eine Verfassung geben

Von Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP*

Noch immer können egoistische nationalstaatliche oder unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, die in vergangenen Jahrhunderten Ursachen von Konflikten und Kriegen waren, in Europa wieder die Oberhand gewinnen. Das heißt: Europas politische Einigung ist noch nicht unumkehrbar. „Ich habe früher geglaubt“, so Jean-Claude Juncker, „die Wirtschafts- und Währungsunion würde das sicherstellen. Heute muss ich feststellen, dass das nicht wirklich der Fall ist“. Nach Auffassung des luxemburgischen Ministerpräsidenten fehle den heutigen politischen Eliten die Kriegs- und Nachkriegserfahrung, weshalb sie mehr und mehr dazu neigten, Entscheidungen in Europa nach nationalen Gesichtspunkten zu treffen und langfristige gemeinsame europäische Ziele zu vernachlässigen. Wie jüngst geführte Schlachten um den „blauen Brief“ aus Brüssel oder die Berliner Attacken gegen die EU-Kommission zur „Verteidigung“ partikularer deutscher Wirtschaftsinteressen zeigen, gefallen sich selbst rot-grüne Politiker darin, den Nationalstaat dann gegen Europa in Stellung zu bringen, wenn es an der „Heimatfront“ um die Macht geht.

Die Europäische Union befindet sich an einem historischen Scheideweg. Während sie mit der für 2004 geplanten Aufnahme der mittel-, ost- und südeuropäischen Beitrittsländer vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte steht, wächst die Kluft zwischen dem „fernen Europa“ und seinen Bürgerinnen und Bürgern. Auch die Einführung des Euro vermochte daran nichts zu ändern, denn er ist in erster Linie nur Geld, das man hat oder eben nicht hat. Gravierend sind die substanziellen Demokratiedefizite der EU, ihre zunehmende politische Handlungsunfähigkeit sowie ein sich abschwächender sozialer Zusammenhalt. Nun soll der Europäische Konvent diese Probleme aufgreifen und möglichst lösen.

Wie kam es zum Konvent?

Ausschlaggebend war der weitgehend gescheiterte EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000, der die Union mit einem neuen Vertrag für die Erweiterung fit machen sollte. Zu den herausragenden Fehlleistungen von Nizza gehört, dass die Stimmgewichtung im Ministerrat, der neben dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs das wichtigste Entscheidungsgremium der EU ist, noch komplizierter wurde und Mehrheitsentscheidungen nicht oder nur teilweise durchsetzbar waren (z.B. zu Kernbereichen der EU-Politik, wie der Steuer-, Umwelt- oder Sozialpolitik, der Außen- und Sicherheitspolitik). Die Anzahl der Kommissare wurde nicht verringert, um die Kommission, die die Aufgabe hat, Gesetzentwürfe für die gemeinschaftliche Politik vorzubereiten und deren Ausführung durchzusetzen, zu stärken und arbeitsfähig zu machen. Die Reformierung wichtiger Politikbereiche der EU, wie der Landwirtschaft, der Strukturpolitik oder der Finanzen, stand gar nicht zur Debatte. So mussten sich die Regierungen letztlich selbst eingestehen, dass die erweiterte Union nicht mehr funktionieren würde.

Angesichts der Kritik aus allen politischen Lagern am Vertrag von Nizza, am nächtelangen Gerangel um nationale Besitzstände und an der gescheiterten Methode, Vertragsreformen durch geheime Regierungskonferenzen vorzubereiten, wurde vor allem im Europaparlament (EP) gefordert, einen mehrheitlich aus nationalen und Europaparlamentariern bestehenden Konvent einzuberufen, um die Reform der EU auf den Weg zu bringen. Ausschlaggebend waren die erfolgreiche Arbeit des ersten Konvents, der im Jahr 2000 die EU-Grundrechtecharta erarbeitet hatte, und das irische Nein im Juni 2001 zu Nizza. Dadurch zerschlugen sich die Hoffnungen der meisten EU-Staats- und Regierungschefs auf eine schnelle Ratifizierung des Nizza-Vertrages durch alle 15 EU-Mitgliedstaaten, wozu in Irland – anders als in Deutschland – ein Referendum erforderlich ist. Es zeigte, Bürgerinnen und Bürger wollen nicht länger, dass die EU über ihre Köpfe hinweg gestaltet und regiert wird.

So führte der Druck vielfältigster politischer Kräfte dazu, dass die EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel im belgischen Laeken im Dezember 2001 die Einsetzung des Konvents beschlossen. Erstmals in der europäischen Integrationsgeschichte wurde ein offizieller Text verabschiedet, der die Krise der Gemeinschaft beim Namen nennt. Aufgezählt werden über 60 zum Teil seit Jahren in der Debatte befindliche Fragen, die mit Blick auf die Erweiterung und die angestrebte Rolle der EU in der Weltpolitik beantwortet werden sollen. Damit geht die Erklärung von Laeken weit über die vier in Nizza beschlossenen Themen (Vereinfachung der Verträge, Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta, Kompetenzabgrenzung zwischen Aufgaben der Union und der Mitgliedstaaten, Rolle der nationalen Parlamente) hinaus. Außerdem erhielt der Konvent das Mandat, eine „Verfassung für die europäischen Bürger“ auszuarbeiten.

Womit beschäftigt sich der Konvent?

Die politische Bedeutung des Konvents kann nicht überschätzt werden. Es geht um Einfluss, Zuständigkeiten und die künftige Machtverteilung in der EU, sowohl zwischen Ministerrat, Kommission und EP als auch zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten. Der Konvent soll über die künftige Gestaltung der EU, ihre Aufgaben und ihre Struktur, entscheiden. Ein wichtiges Anliegen des Konvents besteht darin, die Union transparent zu machen und an Haupt und Gliedern zu demokratisieren, wobei die Stärkung der Mitentscheidungs- bzw. Kontrollrechte des EP und der nationalen Parlamente ganz oben auf der Tagungsordnung steht. Es ist auch nicht länger hinnehmbar, dass der EU-Ministerrat Legislative und zugleich seine eigene Exekutive ist. Er muss zudem – wie der Bundesrat hier zu Lande – öffentlich tagen. Weitere Politikbereiche wie Justiz und Inneres, aber auch die Außen- und Sicherheitspolitik sollen Gemeinschaftsaufgaben der EU werden. Für Bürgerinnen und Bürgern muss klar erkennbar werden, wer für welche Entscheidung verantwortlich ist, weshalb die Kompetenzen der EU und der Mitgliedstaaten nachvollziehbar bestimmt werden müssen. Die EU-Verträge sollen vereinfacht, lesbar gemacht und in eine Verfassung überführt werden. Das sind die wichtigsten strategischen Weichenstellungen in Richtung politische Union, die der Konvent vornehmen soll. Im Idealfall könnte ein Verfassungsentwurf im Konsens entstehen. Seine Beschlüsse werden zwar nicht rechtlich, bei erfolgreichem Abschluss wohl aber politisch verbindlich sein.

Konvent droht soziale Schieflage

So wichtig institutionelle Fragen auch sind, der Konvent liefe Gefahr, in eine Schieflage zu geraten, wenn die Reform der EU nicht mit einer breit angelegten Diskussion über die sozialen Gegenwarts- und Zukunftsfragen verbunden würde. Es ist nicht unerheblich, ob die Union ein Staatenverbund bleibt oder sich zu einer Föderation der Nationalstaaten entwickelt. Aber ohne deutliche Stärkung der sozialen Dimension wird die EU nicht lebensfähig sein. Das bedeutet: Erhalt und Ausbau des Sozialstaats gehören auf die Tagesordnung des Konvents. Schließlich wurden der nationalen Politik mit Wirtschafts- und Währungsunion sowie Euro-Einführung dafür haushaltspolitische Instrumentarien entzogen, andererseits soll laut EU-Ratsbeschluss Vollbeschäftigung hergestellt und die Union bis 2010 der wettbewerbsfähigste und innovativste Wirtschafts- und Technologieraum der Welt werden.

Zu dieser Frage gibt es in Deutschland zwischen den Parteien aber keinen Konsens. Weder CDU/CSU noch FDP wollen der EU soziale Verantwortung und Kompetenz für Beschäftigung übertragen. Deutlich versagt hat hier bislang auch Rot-Grün, heißt es doch in der Koalitionsvereinbarung von 1998, dass es nur durch die Weiterentwicklung der EU zu einer Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Umweltunion gelingen würde, „den Menschen Europa wieder näher zu bringen und die Europäische Union bürgernah zu gestalten“. Hingegen bekommen wir zunächst eine Militärunion mit Interventionstruppen, die weltweit operieren sollen.

Schwierige Gemengelage

Im Unterschied zu Deutschland, den Benelux- und anderen Staaten wollen Großbritannien, Dänemark oder Schweden keine deutliche Vertiefung der Integration. Ein „europäischer Superstaat“ dürfe nicht entstehen. Folglich tun sie sich schwer mit einer Stärkung der Legislativbefugnisse des EP oder mit dem Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Rat. Sie setzen stattdessen auf eine stärkere Regierungszusammenarbeit innerhalb der Union. Frankreich und Spanien lehnen die in Deutschland debattierte Renationalisierung der Agrar- und Strukturpolitik ab. Sie sehen hier ein wesentliches Element des wirtschaftlichen und sozialen Ausgleichs innerhalb der Union wegbrechen.

Kleinere EU-Staaten wie Irland befürchten, dass sie ihre Neutralität vollständig aufgeben müssen. Generell befürchten sie, sich in einer erweiterten Union kaum mehr Gehör gegenüber den großen Mitgliedsländern verschaffen zu können. Widerstände gegen eine Vertiefung der Integration sind auch von den Regierungen mit rechtsextremistischer oder rechtspopulistischer Beteiligung in Dänemark, Italien und Österreich zu erwarten.

Dialog mit der Zivilgesellschaft

Bei der Nominierung von Konventsmitgliedern setzten sich vorrangig amtierende oder frühere Ministerpräsidenten, Minister und Kommissionsmitglieder durch, so dass sich im Konvent eine Altherrenpolitikerriege versammelte. Deshalb sah sich Konventspräsident Giscard d’Estaing veranlasst, die Einrichtung eines Jugendkonvents vorzuschlagen, der im Juli stattfinden wird. Völlig inakzeptabel ist, dass der Anteil der Frauen nur knapp über zehn Prozent liegt. Durch das vom Europäischen Rat festgelegte Auswahlverfahren blieb auch der politische Pluralismus weitgehend auf der Strecke. Praktisch werden Vertreter der beiden großen Parteien, Sozialdemokraten und Konservative, den Konvent dominieren. Zu bedauern ist, dass auch in Deutschland SPD und CDU/CSU sämtliche Plätze im Konvent, auch die der Stellvertreter, allein unter sich aufteilten und die anderen Bundestagsparteien nicht zum Zuge kamen. Neben der zypriotischen AKEL ist die PDS die einzige linkssozialistische Partei Europas, die im Konvent vertreten ist.

Eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg des Konvents sehe ich darin, dass es gelingt, in einen breiten Dialog mit der Zivilgesellschaft einzutreten. Zunächst wird es eine Zuhörphase geben. Wir werden mit Verbänden und Bewegungen über die Zukunft Europas diskutieren. In Brüssel gibt es bereits ein organisiertes Forum der Zivilgesellschaft. Hier haben sich soziale, Umwelt-, Menschenrechtsorganisationen, aber auch der Europäische Gewerkschaftsbund zu einer Plattform verbunden – als Koordinierungsstelle für hunderte europaweit agierende Nichtregierungsorganisationen und als Ansprechpartner des Konvents. Auch die Leserinnen und Leser von „Disput“ sind eingeladen, sich daran zu beteiligen.

Konvent bzw. Forum Zivilgesellschaft:
https://www.europa.eu.int/futurum/forum_convention/index_de.htm

* Die Autorin ist Mitglied der 16-köpfigen Delegation des EP im Konvent. Sie wurde von der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), deren stellvertretende Vorsitzende sie ist, nominiert. Im ersten Konvent zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta war sie Vizepräsidentin der EP-Delegation.