‚Lieber die Schmerzen eines Friedens‘

André Brie, Artikel im ND vom 24.04.2002

Ein Pazifismus, der den kapitalistischen Völkerkrieg verhindern sollte, gehörte zu den wesentlichen Motiven der entstehenden internationalen Arbeiterbewegung. Noch am 1. Mai 1914 mobilisierte er europaweit Millionen Menschen. Es war ein konkreter Pazifismus, der Einschränkungen und Widersprüche kannte. Die bewaffnete Revolution galt damals als eine selbstverständliche und wahrscheinliche Möglichkeit. Die Verantwortung, die Revolutionäre in solchem Fall übernehmen, schilderte Marx nicht nur einmal mit eindringlichen, von seinen Erben kaum beachteten Worten. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wechselten Bebel und Wilhelm Liebknecht ihre Haltung mit dem sich verändernden Charakter des Krieges völlig – von Unterstützung des deutschen Vorgehens zu scharfer Ablehnung. Wer die Argumente nachliest, wird ihre Überzeugungskraft vielleicht noch heute spüren. Der Pazifismus der Arbeiterbewegung war konkret politisch.

Aber daran lag es nicht, dass ein Vierteljahr nach dem 1. Mai 1914 vom antinationalistischen und antikapitalistischen Pazifismus der europäischen Arbeiterbewegung nur ein Trümmerhaufen übrig war. Selbst Karl Liebknecht wagte bei der ersten Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag nicht, dagegen zu stimmen. Chauvinistische Hysterie herrschte auch in den Arbeitervierteln von Berlin, Paris, Wien. Wohlfeile Begründungen für ihren Verrat an der eben noch verkündeten Antikriegspolitik hatten sie alle parat. Leidenschaftliches Engagement für Frieden, gegen Völkerhass und militärisches Morden gab es seitdem innerhalb und außerhalb der Linken in allen Fällen, wenn das Nein zur Barbarei des Krieges hörbar werden musste. Manchmal und unter konkreten Bedingungen vermochten politisch vielgestaltige Bewegungen Hunderttausender Menschen, sogar Frieden zu erzwingen. In Algerien. In Vietnam. Vor zwei Jahren im kleinen, so viele Jahrzehnte geschundenen Osttimor. Aber eine dauerhaft machtvolle, politisch durchsetzungsfähige Antikriegsbewegung hat es seit 1914 nicht mehr gegeben. 4000 Jahre Kriege auf diesem Erdball mit immer furchtbareren Waffen und alter Barbarei, mit immer moderneren Rüstungen und immer den gleichen, archaischen Legitimierungen – sie wurden im zwanzigsten Jahrhundert nicht gestoppt. Auch nicht von jener Roten Armee, die sich als Friedenskraft sah und den Schauplatz der Geschichte kurz nach ihrem blutigen, völkerrechtswidrigen und erfolglosen Krieg in Afghanistan verließ.

Frieden bleibt das Wichtigste, Existenziellste, Menschlichste. Viel mehr als zuvor. Die zerstobenen Hoffnungen des 20. werden nach meiner Überzeugung im 22. Jahrhundert nicht mehr eingelöst werden können. Jetzt oder nicht mehr. Das klingt nach diesen 4000 Jahren illusionär. Aber außerhalb dieser Utopie wird in absehbarer Zeit für jene biologische Gattung, die als einzige Krieg zu führen vermag, kein Ort bleiben. Den Satz „Lieber die Schmerzen eines Friedens als die Agonie des Krieges“ sah ich beim Besuch des zerschossenen, gesprengten und niedergewalzten palästinensischen Flüchtlingslagers Dschenin am 23. April. Der beiderseitige Hass, der offenkundige gegenseitige Rassismus, die nüchterne Irrationalität und das irrationale Kalkül der herrschenden Politiken, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, bei der längst niemand mehr zu sagen vermag, was gerade die Aktion, was die Reaktion ist, kann keinen schmerzlosen, idealen Frieden im Nahen Osten verheißen. Klar ist den Vernünftigen im Nahen Osten und anderswo, dass es keine Lösung geben kann, ohne die eigentliche Wurzel dieses entsetzlichen Konfliktes zu beseitigen: die Okkupation Palästinas durch Israel. Letztlich wird Israel selbst als demokratischer Staat nicht fortexistieren können, wenn es diesen Schritt nicht geht. Dschenin führte mit grauenhaften Bildern und Geschehnissen vor Augen, dass Okkupations- und Kriegspolitik selbst Gesellschaften verrohen lassen, die mit demokratischem Anspruch entstanden sind und sich entwickelt haben. Aber einen Ausweg aus dieser extremen Situation werden nicht kluge Konzepte bringen, sondern eine Antikriegshaltung, die konkret ist, diese verworrenen Widersprüche realistisch aufnimmt, ein Frieden, der schmerzlich sein wird, weil er auch im unerlässlichen Fall des vollständigen Rückzugs Israels beiden Seiten abverlangt, die blutenden Wunden von Unterdrückung und Terroranschlägen zurückzulassen. Er wird auch schmerzlich für jene sein, die glauben, dass Pazifismus nicht konkret sein muss, dass Frieden im Nahen Osten möglich sein wird ohne Beteiligung internationaler Truppen. Es wird bitter. Alles andere jedoch, ich hab es vor Ort gesehen, wird entsetzlich. Und selbst von dieser Lösung kann noch lange nicht die Rede sein.