Der Stabilitätspakt gehört auf den Prüfstand

Gekürzter Beitrag von Sylvia-Yvonne Kaufmann, erschienen im ND, 7. September 2002

Gewiss werden die Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten der Euro-Zone Deutschland, Frankreich, Italien und Portugal wie Damoklesschwerter über der Runde hängen, wenn an diesem Wochenende in Kopenhagen die Euro-Gruppe der EU-Finanzminister vertraulich am Rande des Ecofin-Rates tagt.

Wie eine Bombe hatte hierzulande die Meldung ins Wahlkampfgetöse eingeschlagen, dass nun auch Deutschland in 2002 die Maastrichter Defizitquote von drei Prozent offenbar nicht einhalten wird und wie Portugal doch noch mit einer Brüsseler Abmahnung rechnen muss. Schlimmstenfalls droht die Einleitung eines Bußgeldverfahrens in Milliardenhöhe. Verantwortlich für das unerlaubt hohe Haushaltsminus seien flaue Konjunktur, Steuerausfälle und steigende Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung, entschuldigte sich lapidar das Bundesfinanzministerium. Peinlich ist die Sache auch deshalb, weil sich die Bundesregierung – um einem „Blauen Brief“ aus Brüssel zu entgehen – noch im Februar verpflichtet hatte, bereits bis 2004 (und nicht wie ursprünglich vorgesehen bis 2006) einen „nahezu ausgeglichenen Staatshaushalt“ vorzulegen. Diese Entscheidung geht zwar mit dem Stabilitätspakt konform, ist aber realitätsfern und erweist sich jetzt als kontraproduktiv, um die notwendige Debatte über die Revision des Vertrages zu beschleunigen. Denn: Es ist der Stabilitätspakt selbst, der die Euro-Länder in diese missliche Lage gebracht hat.

Die Vertragsparteien hatten sich 1997 auf Drängen von Finanzminister Waigel zu einer Haushaltspolitik verpflichtet, die strikt dem Primat von Preis- und Währungsstabilität folgt. Nach der Euro-Einführung sollte die Einhaltung der Kriterien des Maastrichter Vertrages selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten erzwungen werden. Danach darf das jährliche Staatsdefizit (von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen) nicht mehr als drei Prozent und der Schuldenstand nicht mehr als 60 Prozent des nominellen Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen. Ein Abweichen davon ist nur kurzfristig bei schwerer Rezession oder Naturkatastrophen erlaubt, wenn dadurch ein Rückgang des BIP um mindestens zwei Prozent verursacht wird. Außerdem verpflichteten sich die EU-Mitgliedstaaten dazu, ausgeglichene oder überschüssige Budgets anzustreben. Dies müssen sie regelmäßig in so genannten Stabilitätsprogrammen nachweisen, die von der EU-Kommission überwacht werden. Begründet wurden diese Regeln damit, dass ein stabiler Euro sowie inflationsfreies Wirtschaftswachstum nachhaltige Haushaltsdisziplin voraussetzten. Verhindert werden solle, dass ein Euro-Mitglied zu laxer Haushaltspolitik zurückkehrt, indem es auf dem Kapitalmarkt der Euro-Zone seine Defizitfinanzierung auf die anderen abwälzt.

Realität jedoch ist, dass der Pakt Stabilität nicht fördert, sondern gefährdet, weil die starre Begrenzung der Neuverschuldung prozyklisch wirkt – also in einer Wirtschaftsflaute den konjunkturellen Abschwung noch verschärft. Die Euro-Staaten gaben ihre geldpolitische Autonomie an die Europäische Zentralbank ab und büßten zugleich in ihren Währungs- und Finanzpolitiken ihre nationalen Anpassungsmechanismen sowie ihre Konjunktursteuerungsrolle ein. Dass nicht genügend Geld in den Kassen ist und gleichzeitig finanzielle Handlungsunfähigkeit regiert, liegt somit darin begründet, dass der nationalen Finanzpolitik mit dem EU-Stabilitätspakt eine Zwangsjacke übergestülpt wurde, die zwecks Erreichens ausgeglichener Haushalte zu eisernem Sparen zwingt, obwohl investive Ausgabenbeschränkungen bei schwieriger Wirtschaftslage gegen jede ökonomische Vernunft verstoßen.

Von daher wären die Euro-Finanzminister gut beraten, sich zur zügigen Modifizierung des Stabilitätspaktes zu entschließen. Eine Vorreiterrolle übernahmen hinter den Kulissen bereits Frankreich und Italien, indem sie sich dafür aussprachen, die Drei-Prozent-Grenze zwar nicht zu ändern, aber vom nominalen Defizit als Kriterium abzugehen und konjunkturelle Einflüsse wie Steuerausfälle zu berücksichtigen. Aber das reicht nicht aus. Meines Erachtens müssen die Wirtschafts-, Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltpolitiken der Euro-Staaten stärker europäisch koordiniert werden, um öffentliche Investitionen zu stärken und die EU-Binnenwirtschaft zu beleben. Investitionen sollten in den Bereichen Soziales und Ökologie getätigt werden. Europaweit angelegte Investitionsprogramme beispielsweise im Verkehr oder in der Kommunikation könnten viele neue reguläre Arbeitsplätze schaffen. Hier eröffnet die Erweiterung der EU große Chancen. Wegen der geringen Außenwirtschaftsabhängigkeit der EU und der höheren Multiplikatoreffekte in einer großen Binnenwirtschaft sind kreditfinanzierte öffentliche Investitionen langfristig selbstfinanzierend. Deshalb muss die Steigerung öffentlicher Investitionen auch nicht mit höherer Staatsverschuldung verbunden sein. Aus diesen Gründen sollte der neue Pakt investitionsorientierte Verschuldung ermöglichen, während zugleich strukturelle öffentliche Defizite verhindert werden müssen. Schulden sollten grundsätzlich bei guter Konjunktur abgebaut werden. Dies könnte durch eine langfristig stabile, aber konjunkturell variable Schuldenstandsquote operationalisiert werden. Die Reform des Stabilitätspaktes gehört auch auf die Tagesordnung des Europäischen Konvents, der zur Zeit in Brüssel tagt und eine Verfassung für die EU erarbeiten soll.