Vortrag von André Brie bei ATTAC Dresden
EU-Wirtschaftspolitik – ein Faktor der Globalisierung?
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der EU-Wirtschaftspolitik und der sogenannten Globalisierung?
Lassen Sie mich als erste Annäherung an diese Fragestellung vielleicht eine kleine Geschichte erzählen.
Im April diesen Jahres veröffentlichte eine kleine europäische NGO (Corporate Europe Observatory) vertrauliche Dokumente der Europäischen Kommission. Es ging um Vorschläge für die Verhandlungsposition der EU zur neuen WTO-Runde über den Handel mit Dienstleistungen (GATS 2000). Der Handel mit Dienstleistungen wird durch das GATS-Abkommen von 1994 im Rahmen der WTO behandelt. Die WTO-Ministerkonferenz von Doha hatte im November 2001 beschlossen, bis 2004 Abkommen über Handelserleichterungen und Liberalisierung in weiteren Dienstleistungssektoren abzuschließen. Bis zum 30. Juni 2002 sollten die WTO Mitglieder ihre Vorschläge dazu unterbreiten, um dann über bilaterale Verhandlungen zu einvernehmlichen Lösungen und später einer thematischen Ausweitung des GATS zu kommen.
Die Vorschläge der Kommission richteten sich an 29 WTO-Mitgliedstaaten, darunter die USA, Australien, Kanada, Japan, China, Südkorea, Indien, Chile, Mexiko und Malaysia. Sie zielten vor allem auf die Öffnung für den privaten Wettbewerb in den Bereichen Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, öffentlicher Nahverkehr und Energieversorgung. Sie offenbaren aber auch das eigentümliche Verständnis, das die Kommission vom Gebot der nachhaltigen Entwicklung hat. Malaysia sollte ein Gesetz aufgeben, das den Erwerb von Grund und Boden zu spekulativen Zwecken untersagt. Ägypten sollte Vorschriften aufgeben, die beim Bau von Hotelanlagen zunächst eine wirtschaftliche Bedarfsprüfung verlangten. Und Mexiko und Chile sollten Regelungen streichen, die eine Begrenzung des Landbesitzes von Ausländern in Küstengebieten erlaubten. Erwartungsgemäß erwies sich die Kommission somit wieder einmal als stramme Vorkämpferin für Deregulierung und Liberalisierung nicht nur in der EU, sondern auch weltweit.
Brisanter ist allerdings eine zweite Enthüllung. Das Corporate Europe Observatory veröffentlichte eine Reihe interner Memos der Kommission, die auf eine enge und privilegierte Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem European Services Forum hinweisen, einem EU-weiten Lobbyverband von Dienstleistungsunternehmen. Schon im September 1999, als die Vorbereitung der GATS 2000-Runde anstand, versicherte ein hoher Beamter der Generaldirektion Handel, Robert Madelin, einer Konferenz von Dienstleistungsunternehmern in Großbritannien: „Die Europäische Kommission ist davon überzeugt, dass wir nicht nur mit den Experten der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten müssen, sondern direkt mit der Industrie. (…) Deshalb hat Andrew Buxton, einer Einladung von Sir Leon Brittan folgend, das European Services Network gegründet. (…)Bei der Formulierung unserer Ziele werden wir uns ebenso stark auf dieses Netzwerk stützen wie auf den direkten fachlichen Rat der Mitgliedstaaten.“ Mehrere interne Memos der Kommission aus den Jahren 2001 und 2002 belegen, wie die Kommission aktiv um Vorschläge des ESF zur Formulierung der EU-Verhandlungsposition zur GATS-2000-Runde ersucht hat. So schrieb ein Abteilungsleiter der Generaldirektion Handel (João Aguiar Machado) etwa am 22. Oktober 2002 an den Geschäftsführer des European Services Forum, Pascal Kerneis: „Wir würden einen Beitrag der Industrie zu dieser Anstrengung sehr begrüßen, sowohl was die Identifizierung von Problemen als auch die Ausarbeitung spezifischer Forderungen angeht. Ohne den Input von ESF laufen wir sonst Gefahr, dass unsere Bemühungen zu einer bloßen intellektuellen Geistesübung geraten …“
Hier zeigt sich eine privilegierte strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Kommission und der Industrielobby. Offenbar wurden die Vorschläge der Kommission für eine Forderungsliste der EU zur GATS-2000-Runde mit dem ESF gemeinsam entwickelt und abgestimmt. Gegenüber dem Europäischen Gewerkschaftsbund und einem Bündnis umwelt- , sozial- und entwicklungspolitischer NGO´s machte Handelskommissar Pascal Lamy hingegen stets geltend, dass die Kommission aus diplomatischen Gründen ihre Vorschläge nicht offen legen könne.
Politik an den Interessen multinationaler Unternehmen ausrichten und neoliberale Prinzipien in „Wirtschaftsreformen“, Verträgen und Institutionen möglichst unumkehrbar einschreiben – diese beiden fundamentale Handlungsmuster begegnen uns nicht nur in der geschilderten kleinen Episode, sondern im gesamten Kraftfeld von WTO, EU und Globalisierung.
1. WTO und EU
Die Welthandelsorganisation (WTO) ist eine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit, die mit mehreren Abkommen ein bindendes Regelwerk zum Handel mit Gütern, Kapital und Dienstleistungen geschaffen hat. Über die Einhaltung dieses Regelwerks wacht ein eigener Streitschlichtungsmechanismus mit verbindlichen Sanktionen. Ziele der WTO sind der globale Freihandel, Markttransparenz, der Abbau von Subventionen und die Stärkung des Wettbewerbs.
Die Europäische Union ist ein regionaler Zusammenschluss oder „Staatenverbund“ von derzeit 15 europäischen Mitgliedstaaten, bisher ohne eigene Rechtspersönlichkeit. Ihr politisches Handlungsfeld geht deutlich über bloße Handelsfragen hinaus – z.B. die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik. Wirtschaftspolitisch ist sie mit einem gemeinsamen Binnenmarkt, der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro als gemeinsamer Währung, der Zollunion, der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik etc. hochintegriert. Der diese Themen regelnde EG-Vertrag bestimmt unter anderem als Aufgabe der Gemeinschaft, „einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen“ zu fördern (Art. 2 EGV). Die europäische Wirtschaftspolitik ist „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet (Art. 4 EGV). Der gemeinsame Binnenmarkt soll den freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr verwirklichen – d.h. völliger Freihandel ohne Binnenzölle und „technische Handelshemmnisse“ im innern der EU. Die wirtschaftspolitischen Ziele der EU sind also jenen der WTO durchaus ähnlich.
Die Ähnlichkeiten in der Agenda von WTO und EU sind auch keineswegs zufällig. Sie haben ihren Ausgangspunkt in politischen Kräftekonstellationen Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, die international zur endgültigen Abkehr von keynesianischer Wirtschaftspolitik und zum Siegeszug der „neoliberalen Revolution“ führten. Ich will diese Entwicklung hier nicht im einzelnen nachzeichnen. Ich verweise nur auf die zeitliche Parallelität der Prozesse.
1982 begann eine GATT-Ministerrunde in Genf mit den Vorbereitungen für die letzte GATT-Runde, die sogenannte Uruguay-Runde. Das seit 1948 bestehende GATT ist neben IWF und Weltbank eine der sogenannten „Bretton Woods-Institutionen“. In 6 weltweiten Verhandlungsrunden bis Mitte der 80er Jahre war es im wesentlichen um bloße Zolltarifsenkungen gegangen. Mit der Uruguay-Runde (1986 – 94) wurde das Themenspektrum allerdings erheblich erweitert. Neben Zolltarifen ging es um ein Regelwerk zum Handel mit Agrarerzeugnissen, gentechnisch veränderten Organismen oder Lebensmitteln, mit Dienstleistungen oder um Fragen wie den Schutz von „geistigem Eigentum“ (Patente, Copyright) und Marken. Am Ende der Runde stand 1995 die Gründung der WTO.
Die EG beendete die Phase der „Eurosklerose“ der 70er Jahre mit dem Projekt eines gemeinsamen Binnenmarkts. Die weitgehende Renationalisierung der Wirtschaftspolitik in den 70er Jahren, die Förderung „nationaler Champions“ unter den Unternehmen hatte nicht verhindert, dass die EG-Staaten sowohl hinsichtlich des Wirtschaftswachstums als auch der Beschäftigungslage gegenüber den USA und Japan zurückblieben. Vor allem zeigte sich, dass die westeuropäischen multinationalen Unternehmen im Schnitt nur halb so gross wie ihre US-amerikanischen und japanischen Konkurrenten waren. Mit einem großen europäischen „Binnenmarkt“ könnten sie ihre Skalenerträge steigern und wären damit auch besser für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt gerüstet. Seit 1983 waren überwiegend konservativ-liberale Kräfte in den EG-Mitgliedstaaten an der Regierung, und auch die Linksregierung von Francois Mitterand war auf Sparkurs und Inflationsbekämpfung als oberste Ziele der Wirtschaftspolitik eingeschwenkt.
1983 trafen mit Unterstützung Mitterands in Paris erstmals zwei EG-Kommissare und Vertreter von Unternehmen wie Fiat, Volvo, ICI, Nestle, Thyssen, Shell, Ciba Geigy, Philips und Siemens zusammen, um „das Fehlen eines homogenen europäischen Marktes“ zu debattieren. 1984 erstellte Wisse Dekker vom Philips-Konzern ein Thesenpapier (Europe 1990), das vom European Roundtable of Industrialists als Plattform übernommen wurde. Es warb für die Schaffung eines einheitlichen Marktes für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte, die Harmonisierung der indirekten Steuern und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens. Um den einheitlichen Markt zu erreichen, seien insbesondere technische und materielle Schranken (Grenzkontrollen, unterschiedliche Produktstandards etc.) zu beseitigen. Dies ginge am einfachsten, wenn in der Regel die jeweiligen nationalen Marktstandards gegenseitig anerkannt würden. Der europäische Binnenmarkt war damit als Liberalisierungs- und Deregulierungsprojekt angelegt.
Die EG-Kommission übernahm diese Vorschläge im wesentlichen in ihr Weißbuch für den Binnenmarkt 92. Mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1985 wurde das Binnenmarktprojekt in Angriff genommen und bis 1993 größtenteils verwirklicht. 1994 wurde sogar ein „Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle)“ ins Leben gerufen – die Parallele zur Markenschutz-Manie in der WTO ist augenfällig.
Als zweite Stufe der Vollendung des Binnenmarkts folgte ab Mitte der 90er Jahre eine von der Europäischen Kommission vorangetriebene Liberalisierungswelle bei sogenannten netzgebundenen Monopolen – Telekommunikation, Energieversorgung, Bahnverkehr. Und es folgten bald weitere Liberalisierungsprojekte: Postdienste, Luftverkehr, öffentliches Ausschreibungswesen, Fernvermarktung von Finanzdienstleistungen, Schaffung eines EU-Binnenmarkts für Dienstleistungen, elektronischer Handel, regionale und kommunale Verkehrsbetriebe. Nachdem ein Sektor erst einmal für den Wettbewerb geöffnet wurde, wurde anschließend in weiteren Schritten die Deregulierung vertieft. Bei den Privatisierungen öffentlicher Unternehmen nimmt Europa deshalb inzwischen die Spitzenstellung ein. Die europäischen Verkäufe öffentlicher Vermögenswerte machten 1998 über 50 % der gesamten weltweiten Privatisierungserlöse aus. Der konservative Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Rolf H. Hasse vom Zentrum für Internationale Wirtschaftsbeziehungen Leipzig hat vor dem Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments deshalb völlig zu Recht festgestellt: „Die wahre Globalisierung findet in Europa statt.“ „Globalisierung“ wird dabei natürlich neoliberal interpretiert: als Entfesselung von Marktkräften und als Niederreißen aller Schranken, welche diesen Prozess behindern könnten.
Diese liberalisierungsfreundliche und freihändlischere Politik im Innern der EU wirkte natürlich wiederum als Antrieb für entsprechende Vorhaben in der WTO. Ich greife den Telekommunikationssektor als Beispiel heraus. Die Öffnung in der EU erfolgte 1994 und sollte zum 1.1.1998 abgeschlossen sein. Auf Drängen der EU und der USA wurde im Rahmen der WTO (GATS) 1997 ein Abkommen über die Liberalisierung bei Basistelekommunikationsdiensten vereinbart. Das Ziel der EU war dabei klar: den „europäischen Champions“ wie Telefonica, Ericsson, Nokia, Siemens, Dt. Telekom etc. durch internationale Marktöffnung die Chance zu geben, sich mit strategischen Allianzen oder anderen Taktiken zu „global players“ zu entwickeln.
Die Agenden von WTO und EU sind sich auch in anderen Bereichen recht ähnlich. Beide teilen eine Obsession für den sogenannten „Schutz des geistigen Eigentums“. Die WTO hat mit dem TRIPS-Abkommen ein Regelwerk für Patente, Copyright und Marken geschaffen, das unter anderem die Patentierung von Pflanzen, Tieren oder Saatgut schützt. Die EU hat mit ihrer Gentech-Patentierungsrichtlinie und mit dem Vorhaben einer Richtlinie für Softwarepatente ganz ähnliche Anliegen. Im Rahmen der GATS-2000-Runde versucht man in der WTO wiederum, neben Telekommunikation und Finanzdienstleistungen noch weitere Sektoren in das GATS-Abkommen einzubeziehen: Gesundheitsversorgung, Wasserversorgung, Rundfunk und Medien, Energieversorgung und Umweltdienstleistungen, Weiterbildung. Das Abkommen über öffentliche Ausschreibungen (Agreement on Government Procurement) soll vertieft werden, d. h. soziale, umwelt- oder frauenpolitische Auflagen oder die Bevorzugung lokaler Unternehmen aus regionalentwicklungspolitischen Gründen sollen auf den Prüfstand. Die EU ist einigen dieser Bereiche bereits mit Liberalisierungsmaßnahmen vorangegangen.
Europäische und globale Marktliberalisierung folgen damit ähnlichen Prinzipien und Motiven. Durch den höheren Wettbewerbsdruck fördern sie natürlich auch Fusionen, Konzentrationsprozesse und die Vermachtung der Märkte. Es geht um die Durchsetzung und Absicherung der gleichen neoliberalen „Wirtschaftsreformen“ in Europa wie global. Das ist der Kern dessen, was landläufig „Globalisierung“ genannt wird.
ATTAC hat sich bisher vor allem mit den globalen Prozessen befasst: deregulierte globale Finanzmärkte und ihre Folgen, die Politik von IWF und Weltbank, die Politik der WTO. Die Politik der neoliberalen Globalisierung in Europa und die Frage nach Alternativen der europäischen Politik schien bislang weniger im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Es freut mich daher sehr, dass Sie mich eingeladen haben, genau über diese Problematik zu sprechen. Ich will deshalb noch eingehender auf zwei Fragestellungen eingehen:
Wie funktioniert „economic governance“, also die Steuerung der Wirtschaftspolitik in der EU heute?
Welche Alternativen wären geboten, damit die EU nach innen wie nach außen zu einer „gerechten Globalisierung“ beitragen kann?
2. Economic Governance in der EU
Das ökonomische Entwicklungsmodell der EU wird durch den europäischen Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion geprägt. Auf den europäischen Binnenmarkt als Vehikel der „Globalisierung in Europa“ bin ich ja bereits kurz eingegangen.
Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde mit dem Vertrag von Maastricht als Ziel der EU festgeschrieben und Zug um Zug verwirklicht. Die Einführung des Eurobargelds am 1.1.2002 war die bislang letzte Stufe in ihrem Aufbau. Die Wirtschafts- und Währungsunion beruht auf dem Grundsatz einer einheitlichen europäisch zentralisierten Geldpolitik einerseits, und einer nach bestimmten gemeinsamen Regeln koordinierten Wirtschaftspolitik, die jedoch in nationaler Verantwortung der Mitgliedstaaten verbleibt.
Die Geldpolitik wird von der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) autonom unter dem Vorrang der Preisstabilität gestaltet. Soweit diese nicht beeinträchtigt wird, sollen EZB und ESZB auch die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unterstützen (Artikel 105 EGV) sowie das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus „berücksichtigen“ (Artikel 127 Abs. 2 EGV).
Die Wechselkurspolitik unterliegt hingegen der gemeinsamen Verantwortung von Rat, Kommission und EZB, wobei der Rat laut Vertrag das letzte Wort hat (Artikel 111 EGV). Rat und Kommission haben seit Gründung der WWU von ihren vertraglichen Möglichkeit zur Gestaltung einer Wechselkurspolitik für den Euro keinen Gebrauch gemacht und überlassen dieses Feld der EZB.
Die EU-Wirtschaftspolitik wird als „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ bestimmt und soll deshalb im Rat koordiniert werden. Nach Artikel 4 EG-Vertrag hat sie sich an folgenden richtungsweisenden Grundsätzen zu orientieren: „Stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (Ratsresolution vom 13.12.1997 und Richtlinie 1466/97), dem Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit und den Bestimmungen des EG-Vertrages (Artikel 104 EGV) gibt es ein festes Regelwerk zur Koordinierung der Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten. Sie sollen ihr Haushaltsdefizit unter 3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) halten, und die gesamtstaatliche Verschuldung soll 60 Prozent des jeweiligen BIP nicht übersteigen. Weit darüber hinausgehend haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, bis 2004 ausgeglichene Haushalte zu erreichen oder gar Haushaltsüberschüsse zu erzielen. Sofern die Haushaltslage in einem Mitgliedstaat deutlich von den vereinbarten Zielen abweicht, kann der Rat auf Vorschlag der Kommission mit qualifzierter Mehrheit eine Empfehlung an den betreffenden Mitgliedstaat aussprechen – der gefürchtete „blaue Brief“ aus Brüssel.
Die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten erfolgt über jährliche Leitlinien („Grundzüge der Wirtschaftspolitik“) mit Empfehlungen für die EU und für jeden einzelnen Mitgliedstaat. Schwerpunkte sind nach wie vor Preisstabilität und Haushaltskonsolidierung. Seit 1998 sind jedoch auch die Themen Strukturreformen der Güter- und Kapitalmärkte (Liberalisierungspolitik), die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, effizientere und besser integrierte Finanzmärkte hinzugetreten. Sofern die Wirtschaftspolitik eines Mitgliedstaats diesen Leitlinien grob widerspricht oder das Funktionieren der Währungsunion gefährdet, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit ebenfalls eine Empfehlung an den betreffenden Staat aussprechen. Dies wurde 2001 im Fall Irlands getan, weil das überhitzte Wirtschaftswachstum dort in den Augen der anderen Mitgliedstaaten das Inflationsziel der EZB gefährdete. Das Europäische Parlament erstellt auf eigene Initiative einen Bericht zu den wirtschaftspolitischen Leitlinien. Formell hat es diesbezüglich allerdings keinerlei Mitberatungsrechte – der Rat informiert es lediglich über seine Entscheidung.
Das vertragliche Korsett für die Wirtschaftspolitik der EU ist somit monetaristisch geprägt – im Zentrum stehen niedrige Inflation und Schuldenabbau. Um diesen Kern gruppieren sich Liberalisierung- und Flexibilisierungspolitiken.
Auf Basis von Artikel 128 EGV wird ferner eine koordinierte EU-Beschäftigungsstrategie mit jährlichen europäischen Leitlinien entwickelt – der sogenannte Luxemburg-Prozess (1997). Die Mitgliedstaaten setzen diese Leitlinien in Nationalen Aktionsplänen zur Beschäftigungspolitik um. Die Leitlinien waren in der Vergangenheit in vier thematische Säulen gruppiert: Chancengleichheit für Frauen und Männer, Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, Entwicklung des Unternehmergeistes und Schaffung von Arbeitsplätzen, Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und ihrer Beschäftigten. Sie haben einen geringen Verbindlichkeitsgrad und sind den Zielen der wirtschaftspolitischen Leitlinien untergeordnet. Zudem beschränkt Artikel 125 EG-Vertrag „Beschäftigungspolitik“ im wesentlichen auf Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktreformen für flexiblere Arbeitsmärkte. Das Parlament wird bei der Erstellung der beschäftigungspolitischen Leitlinien formell konsultiert, d.h. es darf eine Stellungnahme abgeben, bevor der Rat endgültig beschließt.
Außerdem gibt es noch eine Reihe von Koordinationsprozessen, die nicht durch Vertragsbestimmungen geregelt sind. Sie beruhen meist auf der sogenannten „offenen Methode der Koordination“. Diese ist als Verfahren der Regierungszusammenarbeit gestaltet, wobei bisweilen auch Gewerkschaften und NGO´s angehört werden. Ziel ist die Verbesserung des Wissenstandes und des Erfahrungsaustauschs auf Grundlage europaweit vergleichbarer Indikatoren sowie die Verbreitung „bester Praktiken“ aus erfolgreichen Mitgliedstaaten. Die wichtigsten dieser wirtschafts- und sozialpolitischen Koordinationsprozesse sind:
Der Cardiff-Prozess (1998): Er befasst sich mit den Strukturreformen im Binnenmarkt. Die Ziele sind eine höhere Flexibilität der Güter- und Kapitalmärkte, die Integration der europäischen Finanzmärkte, die Abstimmung von Arbeitsmarkt- und Finanzreformen, die Bekämpfung staatlicher Beihilfen, die Vermeidung unlauteren Steuerwettbewerbs sowie die umfassenden Liberalisierungsprojekte, die ich bereits erwähnt hatte. Er liefert wichtige inhaltliche Vorbereitungsarbeit für die wirtschaftspolitischen Leitlinien und für die Zielvorgaben der Binnenmarktstrategie.
Der Köln-Prozess (1999): Hier geht es um den makro-ökonomischen Dialog zwischen den Arbeits- und Sozialministern und den Wirtschafts- und Finanzministern der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und den Tarifparteien. Er beinhaltet zwei Mal im Jahr einen Meinungs- und Erfahrungsaustausch zur Abstimmung der Wirtschafts- und Fiskalpolitiken der Mitgliedstaaten mit der Geldpolitik der EZB und der Lohnpolitik der Tarifparteien ohne bindende Beschlüsse. Leitidee ist, dass die Stimulierung eines nicht-inflationären Wirtschaftswachstums zum Aufbau von Beschäftigung beitragen wird.
Die regelmäßige Frühjahrstagung des Rates zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen (2000): Die erste solche Tagung fand im März 2000 in Lissabon statt. Im Mittelpunkt steht die Idee, ein „gleichschenkliges Dreieck“ aus Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik zu schaffen, die sich gegenseitig durchdringen und unterstützen sollen. Das übergreifende Ziel lautet, die EU zur „wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaft der Welt“ zu machen, mit: „Vollbeschäftigung bis 2010“, „mehr und besseren Arbeitsplätzen“, Qualität der Arbeit, gestärktem sozialem Zusammenhalt und verbesserter Qualität der Sozialpolitik. Die nachfolgenden EU-Gipfel von Nizza (2000), Stockholm und Göteborg (2001) haben zusätzliche themenorientierte Abstimmungsprozesse geschaffen. Auf dem Gebiet der Sozialpolitik wurden die Mitgliedstaaten angehalten, nationale Aktionspläne auf Zweijahresbasis zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung aufzustellen und über die Ergebnisse zu berichten. Ferner wurde eine offene Koordinationsmethode zur Rentenpolitik und zur Gesundheitsversorgung (Krankenversicherung, Pflegedienste) in Angriff genommen. Sie zielt vorrangig darauf ab, möglichen Ausgabensteigerungen infolge der Überalterung der Gesellschaft vorzubeugen und so den Druck auf die Haushalte der Mitgliedstaaten einzudämmen. Sie begünstigt die Teilprivatisierung der Sozialversicherungen und soll einen Kapitalzustrom aus diesen Bereichen (Betriebsrentensysteme, private Vorsorge zur Alterssicherung und Krankenversicherung) zur Belebung der europäischen Finanzmärkte organisieren. Die „Umweltdimension der Gemeinschaft“ soll durch eine „Strategie für nachhaltige Entwicklung“ mit Blick auf Klimaveränderung, Verkehr, öffentliche Gesundheit und natürliche Ressourcen gestärkt werden. Die Kommission erstellt zu jedem Frühjahrsgipfel einen Synthesebericht als Grundlage für die Debatten des Rats.
Trotz aller Bemühungen um die Bündelung wirtschafts-, beschäftigungs-, sozial- und umweltpolitischer Politiken in der EU fällt auf: die diversen Koordinierungsprozesse sind zersplittert sowie inhaltlich und zeitlich wenig aufeinander abgestimmt. Es gibt keine Arena, um Zielkonflikte zwischen Wirtschaft, Beschäftigung, Umwelt und Sozialem zu thematisieren und durch geeignete integrative Konzepte zu überwinden. Verteilungspolitische Zusammenhänge werden quer durch die Koordinationsbereiche außer Acht gelassen.
Zwischen den Zielen der Koordinationsbereiche bestehen krasse Widersprüche. Sofern es etwa um die „Umweltdimension der Gemeinschaft“ geht, so ist die Fortführung der „Strukturreformen“ im EU-Binnenmarkt in der Regel schädlich. Der geplante einheitliche europäische Luftraum geht z. B. mit einem enormen Verkehrswachstum einher, welches mit einer nachhaltigen Entwicklung nicht vereinbar ist. Das gleiche gilt für die weitere Liberalisierung des Energiebinnenmarktes, sofern nicht klar auf den Ausbau dezentraler Energieversorgung mit erneuerbaren Energieträgern und verstärktes Energiesparen gesetzt wird. Aus sozial- und beschäftigungspolitischer Sicht hat die Fortführung der Binnenmarkt-Strukturreformen wiederum negative Auswirkungen wie Arbeitsplatzabbau und ein Wachstum prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dies konterkariert die Ziele Vollbeschäftigung, Qualität der Arbeit und soziale Qualität.
Wenn wir über alternative wirtschafts- und sozialpolitische Strategien für die EU nachdenken, kann es deshalb nicht allein um eine Abkehr vom Neoliberalismus gehen, sondern auch um die Frage, wie die Dysfunktionalität der verschiedenen Koordinationsprozesse in der EU aufgehoben werden kann.
3. Alternativen für eine EU-Nachhaltigkeitsstrategie
Oskar Lafontaine wies in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Freitag“ auf einen entscheidenden Denkfehler der gegenwärtigen europäischen Wirtschaftsphilosophie hin: „Merkwürdig ist, dass die Amerikaner nicht auf die Idee kommen, ihre Wirtschaftspolitik von Europa abhängig zu machen. Die Außenhandelsverflechtung der Volkswirtschaften der USA, der EU und Japans liegt bei jeweils zehn Prozent. Das heißt, die Musik wird immer noch auf dem Binnenmarkt gemacht.“
Eine sich erweiternde Europäische Union ist als Wirtschaftsraum groß genug, um die gegenwärtige Rezession durch eine binnenwirtschaftsorientierte Strategie zu überwinden. Die Außenwirtschaftsabhängigkeit der EU beträgt nur rund 10 Prozent. Bei den einzelnen Mitgliedstaaten variiert sie zwischen 25 und rund 53 Prozent, wobei eben das Gros jeweils mit anderen EU-Staaten realisiert wird. Mit der Osterweiterung wird die EU zu einem Wirtschaftsraum mit 500 Millionen EinwohnerInnen. Eine gemeinschaftlich konzipierte EU-Wirtschaftspolitik könnte sich daher viel stärker auf die europäische Binnenwirtschaft und Binnennachfrage konzentrieren. Sie muss negative Folgen wie eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt oder einen wachsenden Zustrom „ausländischer“ Exporte weniger fürchten. Denn die Nachfrage der „einheimischen“ Unternehmen und Privathaushalte kann sich bis zu 90 % in Produkte und Dienstleistungen made in Europe umsetzen. Für die europäische Binnenwirtschaft verliert das Argument vom „Druck der Globalisierung“ einfach an Bedeutung. Sie ist groß und „souverän“ genug, um eigenständige wirtschafts- und sozialpolitische Gestaltungsspielräume zu eröffnen, sofern der politische Wille dazu vorhanden ist.
Europa könnte sich deshalb mit einer binnenwirtschaftsorientierten Industrie-, Struktur-, Umwelt-, Beschäftigungspolitik auf einen ökologisch tragfähigen Entwicklungspfad begeben. Im Zentrum steht dabei eine moderne Regionalisierungspolitik zur Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und des ökologischen Wirtschaftens. Nachhaltige Regionalisierungspolitik zielt auf einen höheren regionalen Beitrag der Versorgung mit Energie, Lebensmitteln, Freizeit, Kultur, Tourismus, Verkehr etc. Sie stellt neue Kooperations- und Finanzierungsbeziehungen zwischen öffentlicher Wirtschaft, Privatunternehmen und einem gestärkten Sektor zwischen Markt und Staat her.
Eine sich erweiternde EU könnte die Unternehmens- und Vermögensbesteuerung harmonisieren, mit einem föderalen Finanzausgleich die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates wiederherstellen und Einkommens- und Entwicklungsunterschiede einebnen. Vorteilhaft für Europa wäre zudem eine gleichgerichtete, aktive Haushaltspolitik aller Mitgliedstaaten. Jeder von der öffentlichen Hand einigermaßen klug investierte Euro zieht wegen der Größe des europäischen Binnenmarkts etwa 3 an privaten Investitionen und Konsumentenausgaben nach sich. Die öffentlichen Investitionen wären damit bei einem durchschnittlichen effektiven Steuerniveau von 30 % weitgehend selbstfinanzierend. Die expansive Haushaltspolitik kann in mittlerer Sicht also ohne neue Verschuldung gestaltet werden. Damit können z.B. Investitionen in Forschung und Bildung und eine gestärkte öffentliche Daseinsvorsorge finanziert werden.
Die so gestärkte produktive Basis der Wirtschaft kann dann dazu beitragen, die Fördermittel wieder einzuspielen. Kreditfinanzierte öffentliche Investitionen müssen dabei so verausgabt werden, dass möglichst lange Wertschöpfungs- und Einkommensentstehungsketten geschaffen werden. Auch hierfür sind intelligente Regionalisierungsstrategien eine wichtige Voraussetzung.
Die staatliche Gesamtverschuldung kann mittelfristig durch eine Besteuerung hoher Einkommen, explodierender Unternehmensgewinne und Vermögen gemäß ihrer wachsenden ökonomischen Leistungsfähigkeit zurückgeführt werden. Um Investitionen und die Einkommensentstehung in der Realwirtschaft zu fördern, muss die spekulative Anlage auf den Finanzmärkten durch entsprechende steuerliche Anreize (Tobin-Steuer, Börsenumsatzsteuer) eingeschränkt werden. Die Einkommensumverteilung von den Vermögen und den Haushalten mit hohen Einkommen hin zu den Haushalten mit niedrigen Einkommen wirkt sich zudem positiv auf die Nachfrage nach umweltverträglich hergestellten und langlebigen Produkten oder ökoeffizienten Dienstleistungen aus. Sie ist damit keineswegs „wirtschaftsfeindlich“, sondern stabilisiert die Absatzerwartungen von Industrie und Dienstleistern als auch die Beschäftigung.
Gegen eine Polarisierung bei den Einkommen und für die Stabilisierung der Nachfrage brauchen wir ebenfalls eine solidarische Lohnpolitik in Europa. Die Löhne müssen wieder mit steigender Produktivität wachsen und darüber hinaus Verteilungsspielräume zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erschließen. Die bisherige „moderate Lohnpolitik“ hat wenig für den Beschäftigungsaufbau gebracht. Staatliche Politik muss die Rahmenbedingen für die Tarifautonomie, für Flächentarifverträge und ihre Allgemeinverbindlichkeit verbessern. Es gilt aber auch, mit gesetzlichen und tariflichen Mindestlohnregelungen Standards für auskömmliche Einkommen zu setzen, um die zunehmende Ausbreitung nicht existenzsichernder Arbeitsverhältnisse selbst bei Vollzeitbeschäftigung zu stoppen. Die Gewerkschaften IG BAU und NGG fordern in Deutschland deshalb einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn von 1500 . Über die Festsetzung einer solchen untersten Auffanglinie hinaus geht es um eine umfassende Lohnstrukturpolitik. Sie zielt darauf, prekäre Löhne zu vermeiden und vor allem eine Neubewertung von Frauentätigkeiten nach dem Prinzip „Gleiches Entgelt für gleiche und gleichwertige Arbeit“ durchzusetzen.
Binnenwirtschaftsorientierung, Stärkung der Nachfrage, nachhaltige Entwicklung in ihren drei Dimensionen (wirtschaftlich, ökologisch, sozial) könnten, auf die EU angewandt, ein attraktives und tragfähiges Alternativmodell zur neoliberalen Globalisierung hervorbringen. Und natürlich könnte die EU durch ihre Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik dazu beitragen, ähnliche Entwicklungen in anderen Weltregionen – Asien, Lateinamerika, Afrika – zu unterstützen und zu stärken (ein umfassendes Thema für einen eigenen Vortrag).
Damit eine solche Politik überhaupt möglich werden könnte, wäre eine Vertragsreform unumgänglich. Bei der Überarbeitung des EU-Vertrags bis 2004 wären einige erhebliche Veränderungen durchzusetzen, um den Weg zu einer Umwelt-, Beschäftigungs- und Sozialunion frei zu machen. Unter anderem ginge es um:
Verankerung des Ziels der nachhaltigen Entwicklung, des Sozialstaatsprinzips, des Schutzes öffentlicher Güter und der Förderung der öffentlichen Daseinsvorsorge im konstitutionellen Teil eines neuen EU-Vertrages;
Änderung des Aufgabenkataloges der EZB: Preisstabilität, Vollbeschäftigung und nachhaltige Entwicklung sollen als gleichrangige Ziele der Geldpolitik festgelegt werden. Das Statut der EZB soll in das EU-Sekundärrecht überführt werden. Die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle und des Abstimmungsverhaltens im Zentralbankrat der EZB soll vorgeschrieben werden, um die Transparenz der europäischen Geldpolitik zu gewährleisten;
Die Defizitregeln des Vertrags, das Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit und der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollen so verändert werden, dass investitionsorientierte Verschuldung ermöglicht wird und strukturelle Defizite vermieden werden. Es ginge also um das Gebot einer langfristig stabilen, aber konjunkturell variablen Schuldenstandsquote;
Überarbeitung der Bestimmungen zur Sozialpolitik in Richtung auf eine europäische Sozialverfassung, Bezugnahme auf die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte der revidierten Europäischen Sozialcharta von 1996 und Verankerung eines sozialen Stabilitätspaktes im neuen EU-Vertrag.
Zum anderen wäre das Nebeneinanderher bei den diversen Koordinationsprozessen zu beseitigen. Der Cardiff-Prozess, der sich ja hauptsächlich auf Deregulierung und Liberalisierung konzentriert, sollte komplett auf den Prüfstand gestellt werden. Seine Wirkungen auf Beschäftigung, nachhaltige Entwicklung, Effizienz und bürgernahe Versorgung mit Diensten muss evaluiert werden.
Vieles spricht dafür, die bisherigen wirtschaftspolitischen Leitlinien, die beschäftigungspolitischen Leitlinien, die Koordination in der Sozialpolitik zum Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung und die Koordination zur „umweltpolitischen Dimension der Gemeinschaft“ zu bündeln zu einer integrierten Nachhaltigkeitsstrategie für die Europäische Union. Dadurch würde es möglich, die Wechselwirkungen zwischen den Politikfeldern zu berücksichtigen: Ausrichtung der makroökonomischen Politik auf Vollbeschäftigung, soziale Qualität und umweltgerechtes Wirtschaften, Ausschöpfung der Beschäftigungspotenziale des ökologischen Strukturwandels usw.
Die Aufgaben einer binnenwirtschaftsorientierten makroökonomischen Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten habe ich eingangs bereits umrissen: entspanntere Geldpolitik, aktive, investitionsorientierte Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten, solidarische Lohnpolitik, koordinierte Steuerpolitik.
Zur Förderung des ökologischen Strukturwandels im Rahmen einer integrierten Nachhaltigkeitsstrategie könnten etwa durch Strukturindikatoren gestützte Vorgaben zur Reduzierung des Energieverbrauchs und der CO2-Emmissionen, zur Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien an der Energieversorgung, zur Reduzierung der Stoffströme und zur Durchsetzung geschlossener Stoffkreisläufe (z. B. Wasserverwertung in der Industrie, Abfall-, Entsorgungs- und Aufbereitungswirtschaft etc.), zu einer Trendumkehr bei der Flächenversiegelung und beim Verkehrswachstum vereinbart werden.
Im Bereich der Beschäftigungspolitik steht im Jahr 2002 ohnehin eine Generalüberprüfung (Mid-Term-Review) der bisherigen EU-Beschäftigungsstrategie an. Sie sollte in eine neue Schwerpunktsetzung münden:
Arbeitszeitverkürzung, Qualität der Arbeit und neue Modelle der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben
Qualifizierungsoffensive für die Wissensgesellschaft, den ökologischen Umbau, ökoeffiziente und humanzentrierte Dienstleistungen,
Neue Arbeitsplätze durch Erneuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Stärkung der KMU´s, öffentlich geförderte Beschäftigung und Sozialwirtschaft und durch ökologischen Strukturwandel der Wirtschaft
Gleichstellung zwischen Frauen und Männern
Im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung sollten die Mitgliedstaaten durch verbindliche europäische Ziele zu eigenen Maßnahmeprogrammen angehalten werden. Schon die portugiesische Ratspräsidentschaft hatte im Jahr 2000 vorgeschlagen, durch europaweit koordinierte Maßnahmeprogramme der Mitgliedstaaten die Kinderarmut in Europa bis zum Jahr 2010 zu überwinden. So könnten quantitative und qualitative Vorgaben z. B. zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes, zum Mindestniveau einer sozialen Grundsicherung, zur Überwindung der Wohnungslosigkeit oder des Analphabetismus vereinbart werden.
Umweltgerechtes Wirtschaften, eine Strategie für Vollbeschäftigung und Qualität der Arbeit sowie eine Politik für soziale Gerechtigkeit wären somit das Fundament für eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie für eine sich erweiternde Europäische Union. Ein „anderes Europa“ ist durchaus möglich. Die gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnisse in Parlament und Rat machen es allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass dieser Weg bald beschritten wird. Veränderung braucht nach wie vor Aufklärung als auch Widerstand.