Die internationale Sicherheit und die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GESVP) der Europäischen Union

André Brie, Diskussionsbeitrag für die sicherheitspolitische Konferenz in Peking im September 2002

Die gemeinsame Sicherherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union ist ebenso wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ein großer Anspruch, aber eine wesentlich kleinere Realität. Tatsächlich dominiert in der Außen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedsländer der Europäischen Union – im Gegensatz zur Wirtschafts – und Währungspolitik – eindeutig das nationalstaatliche Element. In der Hinsicht ist das viel gebrauchte (ursprünglich jedoch aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stammende) Bild vom „ökonomischen Riesen und politischen Zwerg“ überhaupt nicht zutreffend. Es würde sich vielmehr um einen ökonomischen Riesen und 15 politische Zwerge handeln.

Die EU in der außenpolitischen Sackgasse
In jüngster Vergangenheit, insbesondere nach dem 11. September, sind auch die bisherigen Bemühungen eines gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Agierens der EU-Staaten in eine Krise geraten, über die nicht gesprochen und die geleugnet wird, die jedoch offenkundig ist. Weder im Nahen Osten, noch hinsichtlich des akuten Falles Irak, weder gegenüber dem Iran, noch hinsichtlich aktueller oder potenzieller Konfliktherde im Kaukasus und Zentralasien, auch nicht in bezug auf China und das Verhältnis der EU zu den asiatischen Staaten hat die Europäische Union eine gemeinsame Strategie und Politik. Insbesondere zeigen sich große Widersprüche gegenüber dem Unilateralismus und der Dominanzpolitik der USA. Letztlich werden die Bush-Doktrin mit ihrem Anspruch auf präventive Militärschläge (einschließlich präventiver Nuklearschläge), die amerikanische Missachtung bzw. Geringschätzung der UNO und der UN-Charta, des Kyoto-Protokolls, des Internationalen Strafgerichtshofs oder die Zerstörung des bi- und multilateralen Rüstungskontrollsystems durch die USA von fast allen Regierungen toleriert (eine deutliche Ausnahme ist in einigen Fragen Schweden). Doch auch diese allgemeine Toleranz stellt keine Grundlage einer gemeinsamen Politik dar. Sie ist auch nicht primär Ausdruck der Zustimmung zum Kurs der USA, sondern Ausdruck der elementaren Schwäche gegenüber den USA.

Das Unbehagen über die außen- und sicherheitspolitischen Konzeption und Praxis der Bush-Administration ist durchaus groß, das Vermögen und die Bereitschaft zur Kritik und Alternative sind klein. Dabei gäbe es einen Ausweg, der notwendigerweise zwei untrennbare Seiten hätte: Einerseits die Entwicklung und Realisierung einer tatsächlich gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Die müsste andererseits, wenn sie eine Emanzipation von der Vorherrschaft der USA bedeuten sollte, auch wirklich alternativ sein: – Stärkung der UNO statt ihrer Schwächung, – Multilateralismus und Völkerrecht statt Unilateralismus, – Priorität ökonomischer, sozialer, entwicklungspolitischer, ökologischer, kultureller Kooperation statt Orientierung auf militärische Vorherrschaft, – ursachenorientierte, präventive Konfliktbearbeitung statt militärischer Präventivstrategien (die gegebenenfalls selbst ohne sichere Beweise zur Anwendung kommen sollen), – eine konsistente Menschenrechtspolitik statt „Antiterror“-Allianzen mit Militärdiktatoren, – Abrüstung und Rüstungskontrolle statt neuer Hochrüstung und Rüstungsexporten, – strategisches Beziehungsgeflecht mit Russland und China als Ergänzung zum atlantischen Verhältnis statt konjunktureller und kurzfristig-pragmatischer Gestaltung dieser Verhältnisse.

In solchen und ähnlichen Richtungen wäre die EU wahrscheinlich in der Lage, eine größere Autonomie gegenüber den USA und eine Relatvierung der geschichtlich beispiellosen, einseitigen us-amerikanischen Dominanz zu erreichen – vorausgesetzt wiederum, dass sie zu gemeinsamer Außenpolitik in der Lage wäre. Derzeit ist sie davon weit entfernt, weiter als vor dem 11. September 2001. Neben den Differenzen in den Einzelfragen, die oft selbst ein gemeinsames Stimmverhalten in der UN-Vollversammlung unmöglich machen, stehen dem die prinzipiellen Grundorientierungen entgegen: am einen Pol Großbritannien, das sich selbst und seine internationale Position in außen- und sicherheitspolitischen Fragen wesentlich über die Rolle als sehr enger Juniorpartner der USA definiert, auf dem anderen Frankreich, das auch mit der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Weg der europäischen Autonomie gegenüber den USA gehen will. Dazwischen finden sich mit zahlreichen, oft nicht minder wichtigen Nuancen die meisten anderen EU-Mitgliedsländer. Skepsis hinsichtlich weiterer europäischer Integration sowie eine geschwächte aber in gewissem Maße immer noch existierende Neutralitätsorientierung lassen aber zum Beispiel eine klare Einordnung insbesondere Schwedens in dieses Schema nicht einmal zu.

Ungeachtet dieser Probleme ist es meiner Meinung nach angebracht, die Bestrebungen zur Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (auf letztere konzentriere ich mich im folgenden) ernst zu nehmen. Sie können nicht allein als illusionär oder irrelevant betrachtet werden, entfalten sie doch auch eine politische Eigendynamik, zwingen die Regierungen, die eigenen Beschlüsse wenigstens teilweise zu realisieren, und sie böten vor allem – unter bestimmten Voraussetzungen – eine reale Chance auf eine eigenständigere europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Vorgeschichte und Entwicklungsstand der GESVP
In Maastricht 1992 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitgliedstaaten erstmals, der Europäischen Union Verantwortung in Sicherheitsfragen zu übertragen und einen Prozess „der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“ zu beginnen. Zunächst sollte die 1948 gegründete, aber von der NATO jahrzehntelang an den Rand gedrängte Westeuropäische Union (WEU) zur „Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Instrument zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz“ ausgebaut werden. Diesem Wunsch entprechendnd definierte der Ministerrat der WEU am 19. Juni 1992 in der „Petersberger Erklärung“ drei künftige militärische Einsatzgebiete: – humanitäre und Rettungseinsätze, – friedenserhaltende Aufgaben sowie – Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.

Seit der Übernahme der „Petersberg-Aufgaben“ in den Amsterdamer Vertrag (1994) gehören weltweite militärische Interventionen daher offiziell zu den Politikoptionen der EU. Eine Reihe von Mitgliedstaaten standen jedoch den deutsch-französischen Initiativen zur Realisierung dieses Projekts lange Zeit skeptisch gegenüber. Das änderte sich Ende 1998, als Großbritannien eine Richtungsänderung in der Europapolitik vollzog und im Oktober auf einem informellen Ratstreffen in Pörtschach forderte, die institutionellen und militärischen Voraussetzungen zu schaffen, damit „Europa“ auf „eigenen Füßen“ stehen könne, wenn sich die USA an europäischen Operationen nicht beteiligen wollen.

Seitdem ist die Dynamik des Projekts der „Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GESVP)ungebrochen: 10 Tage, nachdem der NATO-Rat ohne UNO-Mandat den grundsätzlichen Einsatzbefehl für die Bombardierung Jugoslawiens gebilligt hatte, wurden die Positionen der Mitgliedstaaten auf einem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs am 23./24. Oktober 1998 sondiert. Anderthalb Monate später erklärten Jacques Chirac und Tony Blair: „Die EU muss in der Lage sein, ihre Rolle auf der internationalen Bühne voll und ganz zu spielen. Dazu muss die Union über autonome Handlungsfähigkeit verfügen, die sich auf glaubwürdige militärische Kräfte stützt, mit der Möglichkeit, sie einzusetzen, und mit der Bereitschaft, dies zu tun, um auf internationale Krisen zu reagieren.“

Unter deutscher EU-Präsidentschaft wurde dies auf dem Gipfel in Köln gemeinsame EU-Position. Im Dezember 2000 beschloss der Europäische Rat die Führungsstrukturen und das Streitkräftepotenzial: Bis 2003 sollten die EU-Staaten in der Lage sein, 50.000-60.000 Soldaten, einschließlich Kampfunterstützungstruppen und Logistik und zusätzlich entsprechende Streitkräfteanteile von Marine und Luftwaffe innerhalb von 60 Tagen in Krisenregionen zu verlegen und eine entsprechende Operation für mindestens ein Jahr aufrechtzuerhalten. Die politischen und militärischen Gremien – das ständige Politische und Sicherheitspolitische Komitee, der Militärausschuss und der Militärstab – arbeiten seit März 2000. Im Mai 2001 wurde ein Übungsprogramm vereinbart, dass sich in der Realisierungsphase befindet. Im November 2000 wurden die jeweiligen nationalen Beiträge für die EU- Interventionsstreitkräften vereinbart, ein Jahr später präzisiert und ausgebaut. Im Ergebnis werden über 100.000 Mann, ungefähr 400 Kampfflugzeuge und 100 Schiffe bereitstehen. Im Dezember 2001 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der EU die notwendigen Anpassungen im EU-Vertrag, um den operativen Aufbau der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik juristisch abzusichern. Der Europäische Rat stellte in Nizza fest, dass “ die EU nunmehr in der Lage (ist), einige Operationen zur Krisenbewältigung durchzuführen“, wenngleich es eine Reihe von Kapazitätsproblemen gibt, deren Lösung 8-10 Jahre beanspruchen wird. Es wurde ein „europäisches Aktionsprogramm, mit dem die ermittelten Lücken geschossen werden soll“ beschlossen und elf Arbeitsgruppen zur Beseitigung der im Aktionsplan aufgezeichneten Schwachstellen nahmen im Februar 2002 die Arbeit auf.

In den USA und in der NATO werden die militärischen Ambitionen der Europäischen Union mit offener Skepsis und verdeckter Ablehnung begleitet. Erstens lehnen die USA alle Schritte ab, die zu einer sicherheitspolitischen Emanzipation gegenüber den USA führen könnten, wie es insbesondere Frankreich mit der GESVP beabsichtigt. Zweitens betrachten die USA die NATO als das einzige geeignete institutionelle Instrument, um die eigene militärische Dominanz gegenüber den Partnern und die eigene außen- und sicherheitspolitische Strategie mit Partnern durchzusetzen (allerdings scheinen sie zunehmend bilaterale und temporäre Partnerschaften zu bevorzugen, jedenfalls wurde die NATO im Afghanistan-Krieg durch die USA – außer für die propagandistische Ausrufung des „Verteidigungsfalles“ – praktisch nicht in Anspruch genommen). Drittens fürchten die USA und das NATO-Etablishment Doppelstrukturen, verringerte Effektivität und eventuell sogar Konkurrenz durch die Entwicklung militärischer Strukturen seitens der EU. Viertens halten insbesondere Politiker und Militärs der USA die europäischen Anstrengungen für völlig illusionär angesichts der Tatsache, dass die USA mehr als doppelt soviel für die Streitkräfte ausgegeben (und mit angeblich sogar zehnfachem Effekt) als alle ihre Verbündeten zusammen. Die europäischen NATO-Staaten – so ihre Forderung – sollten sich daher auf die Stärkung ihrer Beiträge zur NATO konzentrieren.

Während sich in anderen europäischen Staaten ein Teil der Linken mit der Entwicklung autonomer bzw. eigenständiger militärischer Fähigkeiten, Strukturen und Ziele der Europäischen Union abgefunden hat, sie auch unter dem Gesichtspunkt einer Alternative zur uneingeschränkten Vorherrschaft der USA unterstützt (so zumindest teilweise die kommunistischen Parteien Frankreichs, Spaniens, Italiens), gibt es in Deutschland kaum konkrete Auseinandersetzungen um eine linke Haltung zur Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben ihr zugestimmt und in der Bundesregierung maßgeblich zu ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung beigetragen. Eine öffentliche Diskussion wurde nicht einmal angestrebt. Die PDS lehnte und lehnt eine militärische Richtung der europäischen Integration entschieden ab („Europa schaffen ohne Waffen!“). Eine Konkretisierung dieser Haltung existiert jedoch nicht. Die folgenden Thesen sollen ein Diskussionsangebot sein. Sie unterscheiden zwischen der – von mir befürworteten – Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU und der militärischen Komponente, wie sie vor allem in der GESVP angelegt ist. Es ist auch für mich eine strategische Frage, ob und wie die Europäische Union zu einer sicherheitspolitischen Alternative zum „präventiven“ Interventionismus und Unilaterialismus der Bush-Doktrin sowie zur US-amerikanischen Zerstörung des internationalen und bilateralen Rüstungskontroll- und Abrüstungssystems beitragen kann.

Linke Alternativen (Thesen)
1. Die Linke sollte die Entwicklung einer Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik befürworten. Sie kann erstens wirkungsvoller als unterschiedliche nationale Außenpolitiken wesentliche Interessen der EU und ihrer Mitgliedsländer international vertreten. Mit einzelstaatlichen Außenpolitiken haben die europäischen Staaten in der heutigen Welt kaum noch eine Chance auf Einfluss in den entscheidenden internationalen Fragen. Zweitens kann sie ein bedeutsames Gegengewicht zur bedrohlichen Tendenz von Unilateralismus und Militarisierung durch die USA-Politik sein. Drittens kann die Entwicklung der GASP einen wichtigen Beitrag zur weiteren europäischen Integration darstellen.

2. Diese Rolle kann die EU jedoch nicht spielen, wenn ihre Außen- und Sicherheitspolitik von der bisherigen offiziellen und faktischen „uneingeschränkten Solidarität mit den USA“ geprägt wird. Der Unilaterialismus und präventive Militarismus der „Bush-Doktrin“, wie sie sich in der Nuclear Posture Review ankündigt und in der Bush-Rede vor der United States Military Academy West Point (1.6.02) und der Rede von Donald Rumsfeld vor den NATO-Verteidigungsministern in Brüssel (6.6.02) formuliert worden ist, ignoriert nicht nur endgültig die Rolle der UNO und stellt nicht nur eine ernste Gefahr für nahezu jede internationale Stabilität dar, darunter auch die für die Verhinderung eines nujklearen Krieges, sondern bedroht auch massiv die eigenständigen internationalen Interessen anderer Staaten, die angeblich oder tatsächlich Verbündete der USA sind. Das gilt nicht nur für Staaten wie Russland, deren „neues Verhältnis“ zum Westen und zu den USA primär in der „freundlichen“ Unterordnung unter die USA besteht. Es gilt auch für die NATO-Partner der USA und die Mitgliedsländer der EU und die Europäische Union als Ganzes. Wenn die EU und ihre Mitgliedsländer darauf verzichten, ihre (zu den USA) differenten außen- und sicherheitspolitischen und anderen internationalen Interessen klar zu artikulieren und zu vertreten, bleibt auch ihnen (mit Ausnahme vielleicht von Welthandelsinteressen) nur die globale Subalternität. Da meiner Meinung nach „europäische“ Interessen aber solche an internationalem Multilateralismus sind (oder sein müssen), an kooperativen internationalen politischen Beziehungen, Stabilität, Ökologisierung, Integration des Südens, aktiver und intensivierter Entwicklungspolitik würde die weitere Unterordnung unter den Kurs der Bush-Administration aktuell und vor allem langfristig, die inetrnationale Rolle der europäischen Staaten und ihre Fähigkeit, die eigenen existenziellen Interessen zu vertreten, akut gefährden. Die EU muss sich außen- und sicherheitspolitisch zumindest teilweise von den USA emanzipieren.

3. Das aber bedeutet meiner Meinung nach, dass die Außen- und Sicherheitspolitik der EU selbst von einer militärischen Orientierung nicht dominiert werden darf. Bestrebungen, ein europäisches Gegengewicht zu den USA und eine größere Unabhängigkeit/Autonomie von den USA durch den Aufbau eines eigenständigen Militärpotenzials und -paktes zu erreichen, sind illusionär und kontraproduktiv. Sie würden zudem gewaltige finanzielle Mittel absorbieren, die dringend für soziale, kulturelle, ökologische und wirtschaftliche Entwicklungen erforderlich sind. Insbesondere würden sie zur weiteren Militarisierung und damit zu solchen internationalen Beziehungen beitragen, in denen die USA ihr uneinholbares militärisches Übergewicht ausspielen und ihre Strategie militärischer Dominanz und militärischer Lösungen durchsetzen können. Die europäischen Möglichkeiten und Stärken – auch hinsichtlich einer Zurückdrängung des politisch-militärischen Unilateralismus der USA – liegen auf dem entgegengesetzten Gebiet: einer präventiven, ursachenorientierten, kooperativen und zivilen Außen- und Sicherheitspolitik. Nur mit ihrer Stärkung könnte die EU ihr gleichwertiges ökonomisches und fianzielles Gewicht in außenpolitisches Durchsetzungsvermögen umwandeln.

4. Die europäische Linke muss meiner Meinung nach die Tendenz zur Militarisierung der EU grundsätzlich und fortgesetzt ablehnen, obwohl inzwischen bereits schwerwiegende und kaum umkehrbare politische (und erste militärische)Tatsachen geschaffen wurden. Ohnehin wird die EU in der Realität aber auf enge finanzielle, militärische und politische Grenzen für ihre militärischen Ambitionen treffen. Die militärische Orientierung der EU, ich wiederhole, hat auch einen illusiorischen Aspekt. Es gibt nach meiner Überzeugung für die Linke keinen Grund, auch nicht den eines Gegengewichts zu den USA, die Entwicklung einer eigenständigen europäischen Militärorganisation, eines eigenständigen europäischen Militärpotenzials und weltweit einsetzbarer Interventionskräfte der EU zu unterstützen. Sie würden keine Erweiterung europäischer Spielräume gegenüber den USA, keine Erweiterung von Spielräumen für eine nichtmilitärische Sicherheitspolitik fördern, sondern im Gegenteil die Dominanz der USA und eine weitere Militarisierung der internationalen Beziehungen und des sicherheitspolitischen Denkens.

5. Ungeachtet ihrer grundsätzlich kritischen Haltung und einiger offensichtlich illusionärer Züge der CESDP kann die Linke sich nicht allein auf ihre Kritik und ihre zivilen Alternativen beschränken. Die CESDP ist eine, wenn auch begrenzte, Realität. Sie wird zweifelsohne weiter entwickelt werden. Die Linke lehnt insbesondere ab: Einsatz der europäischen Streitkräfte ohne UNO-Mandat; Erhöhung der europäischen Rüstungsausgaben; Beseitigung von Möglichkeiten einzelner EU-Staaten zu neutraler oder anderer alternativer Sicherheitspolitik; Ausgrenzung Russlands von europäischen Sicherheitsstrukturen.

6. Viele internationale Konflikte, Krisen, Destabilisierungen und Kriege sind letztlich Ergebnis der herrschenden westlichen Politik. Viele von ihnen stellen tatsächlich Bedrohungen für die internationale Sicherheit dar. Diese Bedrohungen jedoch mit militärischen Mitteln, insbesondere auch mit militärischen Interventionen und Kriegen der USA und des Westens, gar militärischen und nuklearen Präventivschlägen, beseitigen zu wollen, heißt erstens lediglich die Erscheinung, nicht aber ihre Ursachen zu bekämpfen. Zweitens ist diese Politik selbst Ursache für das Entstehen derartiger Konflikte bzw. ihrer Zuspitzung und globalen Gefährlichkeit. Es ist schlechterdings unmöglich, die Weiterverbreitung von Massenvernichtsungswaffen dauerhaft zu verhindern, wenn der Westen, Russland und China selbst nicht radikal nuklear abrüsten und im Gegenteil, ihre eigene Sicherheit auf Kernwaffen, Aufrüstung und internationalen Interventionismus gründen. Mit der jüngsten Nuclear Posture Review findet eine weitere offensive Ausprägung dieser Strategie bis hin zum Konzept nuklearer Präventivschläge, die die Weiterverbreitung nicht stoppen, sondern provozieren kann. Militärisch dominierte Sicherheitspolitik, Rüstungsexporte, instrumentelle und doppelzüngige Menschenrechtspolitik, extrem ungerechte ökonomische Beziehungen und Ausbeutung, die Missachtung eines umfassenden ökologischen Wandels, die Schwächung der UNO und des Völkerrechts sowie kulturelle Arroganz gegenüber dem Süden (und Osten) sind wesentliche Quellen für die Entwicklung von Diktaturen, Fundamentalismus, Verteilungskämpfen, Krisen und Kriegen außerhalb der „westlichen Welt“. Linke europäische Sicherheitspolitik findet – ohne sich darauf zu beschränken – ihren Kern daher nicht in anderen, autonomeren, demokratischeren, weniger offensiven Varianten der NATO oder der ESVP, sondern in der grundsätzlichen Kritik dieser Politik und den entsprechend grundsätzlichen politischen Alternativen.

7. Diese Alternativen sind insbesondere eine Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, die eigenständige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung im Süden ermöglicht bzw. fördert, die Stärkung der UNO (und die Revitalisierung der OSZE) sowie die Entwicklung eines umfassend kooperativen Charakters der internationalen Beziehungen, die Verteidigung und der entschiedene Ausbau des internationalen und bilateralen Abrüstungssystems, ein weltweiter sozial-ökologischer Umbau und eine konkrete ursachenorientierte und präventive Sicherheitspolitik.

8. Die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte von solcher ursachenorientierten und präventiven Sicherheitspolitik bestimmt sein. Erfahrungen der EU-Mitgliedsländer, insbesondere skandinavischer Politik und Beiträge zur Lösung bzw. Eindämmung internationaler Konflikte, sind reichlich vorhanden und bestätigen die Möglichkeit, mit einer solchen Orientierung einen wirkungsvollen europäischen Beitrag zu nachhaltiger Krisenprävention und -lösung sowie zur Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen leisten zu können. Ihre Elemente können meiner Meinung nach auch internationale Polizeikräfte sein, vor allem aber die embryonal auch innerhalb der ESVP entwickelten Komponenten für ein Krisen-Frühwarnsystem, zur Konfliktmoderation, zur Stärkung rechtstaatlicher Entwicklungen (Unterstützung bei der Entwicklung einer unabhängigen Justiz und effektiver Strafverfolgungsbehörden) und für die Bildung eines zivilen Friedenscorps. Im Gegensatz zur Aufstellung europäischer Interventionsstreitkräfte und der entsprechenden politischen und militärischen Strukturen ist diese zivile Seite der Helsinki-Beschlüsse jedoch deutlich zurückgeblieben. Würde ihr politische und finanzielle Priorität eingeräumt werden, könnten die gar nicht so geringen europäischen Möglichkeiten und positiven Erfahrungen nichtmilitärischer Sicherheitspolitik durchaus zu einer konkreten und wirkungsvollen Alternative zur aktuellen US-Politik werden, das internationale Gewicht der EU erhöhen und vor allem zur Stabilisierung der internationalen Beziehungen beitragen.