Europäische Agrarpolitik im Wandel

Christel Fiebiger

Die Leserinnen und Leser bitte ich um Verständnis dafür, dass ich mich in diesem Kapitel trotz der großen Themenvielfalt europäischer Politik ausschließlich der EU-Agrarpolitik widme. Zum einen ist die Agrarpolitik wegen BSE und diverser Lebensmittelskandale zur Zeit in aller Munde, zum anderen glaube ich, dass das von mir auch erwartet wird. Denn ich bin (wie bereits erwähnt) ordentliches Mitglied im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des Europäischen Parlaments. Zugleich bin ich mit meinem spanischen Kollegen und Genossen Salvador Jové Peres für die Agrarpolitik der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) zuständig.

Im übrigen versuche ich die alte Volksweisheit vom Schuster, der bei seinen Leisten bleiben soll, zu beherzigen. Mir sind nämlich Politikerinnen und Politiker suspekt, die meinen, von allem etwas zu verstehen, über alles reden, schreiben und urteilen zu müssen. Dabei ist doch die Zeit der „Universalgenies“ seit mindestens drei Jahrhunderten vorbei. Längst leben wir in einer höchst arbeitsteiligen Gesellschaft. Und da wäre es doch wider aller Vernunft, sich einzubilden, die Politik mache davon eine Ausnahme. Folglich beschäftige ich mich hauptsächlich mit jenen Fragen, von denen ich das meiste verstehe – und das sind nun einmal die Fragen der Landwirtschaft und ländlichen Regionen. Selbstverständlich nicht als Politik mit Scheuklappen, sondern im Bemühen, die auftretenden Fragen in die Komplexität des realen Lebens einzuordnen.

Schließlich hoffe ich, dass Agrarpolitik auch Sie interessiert – und das nicht nur wegen der Skandale. Ob Sie nun Lehrer, Handwerker, Informatiker oder Hausfrau sind, über Agrarpolitik sollten Sie bescheid wissen. Denn Agrarpolitik beeinflusst wesentlich die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird und damit Ihre und unser aller Ernährung. Zum Beispiel könnten Sie – der Umwelt und eigenen Gesundheit willen – das Auto (zumindest theoretisch) stehen lassen und dafür das Fahrrad nehmen oder gar zu Fuß gehen. Aber zu essen aufhören – das können Sie nicht. Dafür gibt es keine Alternative, weder praktisch noch theoretisch! Essen müssen Sie immer. Deshalb sollten Sie sich die Zeit nehmen und weiterlesen. Auch wenn Sie (oder gerade weil Sie) Ihre Lebensmittel im Supermarkt von Aldi, Edeka, Kaiser oder Spar einkaufen.

Landwirtschaft und Agrarpolitik in aller Munde

Seit Ende 2000 findet in Deutschland und EU-weit – ausgelöst von BSE, MKS und diversen Skandalen bei Lebens- und Futtermitteln – eine intensive, teils sehr kontrovers und emotional geführte Diskussion über die Landwirtschaft und Agrarpolitik statt. Anders als in früheren Jahren beteiligen sich an ihr nicht nur Experten und Lobbyisten, sondern eine breite Öffentlichkeit. Das ist gut so. Will doch ein jeder hochwertige und gesunde Nahrungsmittel haben und in einem gepflegten Land mit schönen Dörfern und intakten Landschaften leben. Auch finanziert jeder Steuerzahler die keineswegs billige EU-Agrarpolitik mit seinen Steuergeldern. Da kann er erwarten, dass damit vernünftig umgegangen wird.

Tatsächlich bewegen die Öffentlichkeit in einer bislang nicht gekannten Breite Fragen zur Sicherheit der Lebensmittel, zur Vereinbarkeit von moderner Landwirtschaft mit dem Schutz der Umwelt und Natur, zum Tierschutz und andere. All diese Fragen berühren im Kern die Art und Weise landwirtschaftlicher Produktion und ihre Auswirkungen auf Mensch, Boden, Wasser, Luft, Artenvielfalt und Landschaft. Auch ethische Gesichtspunkte, z. B. wie Tiere gehalten werden (ob artgerecht oder nicht), spielen eine wachsende Rolle. Die Empörung über tierquälerische Langzeittransporte von Schweinen und Rindern quer durch Europa ist zu Recht groß.

Das öffentliche Ansehen der Landwirtschaft ist so schlecht wie nie zuvor. Die via Fernseher in jedes Wohnzimmer transportierten Bilder verbrennender Tierkadaver haben viele Menschen erschreckt und verunsichert, aber auch zornig und nachdenklich gemacht. Die Angst, durch eine gute deutsche Rinderroulade erkranken zu können, bewog nicht wenige, ihr Einkaufsverhalten zu ändern. Da spielte es keine Rolle, ob diese Gefahr eine reale oder herbeigeredete ist, zumal die Wissenschaft sich derzeit außerstande sieht, Entwarnung zu geben. Ob es einen Zusammenhang zwischen BSE und Creutzfeld-Jakob-Krankheit gibt, kann sie weder ausschließen noch bestätigen.

Besonders ärgerlich hierbei ist, dass ausgerechnet die Bauern – auch durch eine mehr an Einschaltquoten und Auflagenhöhen als an sachlicher Information orientierten Medienberichterstattung – an den Pranger gestellt wurden. Dabei waren es die großen Futtermittelkonzerne, die das bereits vor dem ersten BSE-Fall in Deutschland EU-weit verbotene Tiermehl in das Mischfutter für Kühe und Mastrinder mischten, aber nicht deklarierten, also die Landwirte täuschten, und so vermutlich die Weiterverbreitung von BSE begünstigten. Es waren auch keine Landwirte, die – wie in Belgien – Schweinefutter mit Dioxinen aus Altöl kontaminierten. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Aber genug damit.

Wer das Übel bei der Wurzel packen will, der sollte erkennen, dass es unredlich ist, die genannten Skandale hauptsächlich den Bauern anzulasten. Der sollte auch nicht so tun, wie die derzeitige deutsche Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast, als ob der Landwirt in der freien Marktwirtschaft tatsächlich die uneingeschränkte Freiheit der Entscheidung hätte, wie und mit was er produziert. Soviel an rührender Naivität wäre bei einer Hausfrau entschuldbar, jedoch nicht bei einer Verantwortung tragenden Ministerin. Die Realität ist doch, dass die Landwirtschaft von heute maßgeblich von den Kapitalverwertungsinteressen des Vorleistungsbereiches, der agrochemischen Industrie, der Futtermittelhersteller und Landmaschinenproduzenten sowie der Großhandelsketten, die allein in Deutschland 80% des Lebensmittelmarktes beherrschen, und den kreditgebenden Banken bestimmt wird.

In der derzeitigen Debatte wird viel geredet über wirkliche und scheinbare Fehlentwicklungen moderner Landwirtschaft, aber auch über taugliche und untaugliche Politikrezepte. Vom Ruf nach einer völligen Umkehr der Landwirtschaft über das Verniedlichen der Skandale als „Betriebsunfälle“ oder Werk „schwarzer Schafe“ bis zum Weitermachen wie bisher reicht die Spannweite der Auffassungen. Momentan erinnert vieles in dieser Debatte – so auch die rot-grüne „Agrarwende“ a là Künast – an einen Dschungel: Man hat sich hineingewagt, weis aber noch nicht, wie und wo man rauskommt.

Keine Rolle rückwärts

Manches an der aktuellen Diskussion um die Landwirtschaft ist widersinnig. Während Modernität und Strukturwandel in vielen anderen Branchen der Wirtschaft als normal und notwendig akzeptiert werden (so will kaum einer, der Volkswagen oder BMW fährt, zurück zum Trabi), stößt die moderne Landwirtschaft auf wenig Gegenliebe. Auch haben nostalgische Vorstellungen von einer heilen ländlichen Welt Konjunktur. Eine Rückkehr zur Landwirtschaft der Großmütter und -väter würde aber keine Probleme lösen, sondern ins Abseits führen. Die Landwirtschaft hat nur eine Zukunft, wenn sie sich nicht von der allgemeinen Entwicklung abkoppelt. Wissenschaft und Technik müssen für eine umwelt- und besonders bodenschonende, für eine tiergerechte und ökonomisch effiziente Produktion genutzt und nicht verketzert werden. Es geht um eine Modernisierung, die sich in Einklang mit der Natur und Umwelt befindet. Das gilt für den konventionellen Landwirt wie für den Biobauern. Hierzu bedarf es allerdings einer gesellschaftlichen Neubewertung, was aus der Sicht einer nachhaltigen Entwicklung und des vorsorgenden Verbraucherschutzes tatsächlich modern und fortschrittlich ist.

Als Kernaufgabe steht, dafür zu sorgen, dass die gesamte Landwirtschaft umwelt- und gesundheitsgerechter produzieren kann. Das betrifft zuallererst die konventionell produzierenden Betriebe. Aus ihnen kommt derzeit die große Masse der Agrarprodukte. Zugleich gilt es, die angestrebte vorrangige Entwicklung des ökologischen Landbaus zu bewerkstelligten. Dabei sollte das Schrittmaß mit Bedacht gewählt werden, denn für die teuren Ökoprodukte braucht es zahlender Kundschaft. Immerhin geht es um die Konkurrenzfähigkeit auf den liberalisierten EU-Binnenmarkt. Öko-Betriebe sind keine Inseln der Glückseligkeit. Auch diese Produktionsform ist den Gesetzen der kapitalistischen Marktwirtschaft unterworfen. Gefragt ist politisches Augenmaß. Es geht nicht, die Landwirte, die in ihre Perspektive entsprechend der herrschenden Rahmenbedingungen investiert und dafür Kredite aufgenommen haben, vor den Kopf zu stoßen. Der Umbau der Landwirtschaft muss mit und nicht gegen die Bauern erfolgen. Wir brauchen also keine Rolle rückwärts. Auch muss das Rad nicht neu erfunden werden. Notwendig ist vielmehr, die natürlichen Kreisläufe zu respektieren und eine wirklich nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln, die zugleich wirtschaftlich leistungsfähig, sozial verträglich und umweltgerecht ist.

Neue Erwartungen und Erfordernisse

Was tatsächlich gebraucht wird, ist keine Wende, sondern ein Wandel der Agrarpolitik entsprechend der sich ändernden gesellschaftlichen Erwartungen und Erfordernisse. Dieser Wandel ist übrigens seit Jahren im Gange. Er muss nur entschlossen und entschieden weitergeführt werden, was eine kritische Überprüfung der einzelnen Schritte und Maßnahmen einschließt.

Die wichtigste Erwartung der Menschen ist, dass in Auswertung der Skandale dafür gesorgt wird, dass alle Lebensmittel, die auf dem EU-Binnenmarkt sind, ganz gleich ob sie in der EU oder in Drittländern erzeugt wurden, hohen Sicherheitsstandards entsprechen – also gesundheitlich unbedenklich sind. Die in letzter Zeit oft gestellte Frage „Was können wir noch essen?“ lässt sich kaum wegdiskutieren. Notwendig ist vielmehr, dem vorbeugenden Verbraucherschutz den absoluten Vorrang in der Agrar- und Ernährungspolitik einzuräumen. EU und Bundesregierung, aber auch die am Ernährungskomplex beteiligten Unternehmen, haben hierzu erste wichtige Maßnahmen in Sachen Dokumentation und Kontrolle eingeleitet. Die „Gläserne Produktion“ beginnt Gestalt anzunehmen.

Agrarpolitik und Landwirtschaft (einschließlich der ihr vor- und nachgelagerten Bereiche) müssen zunehmend auch der zweiten großen Erwartung entsprechen, die darin besteht, dass die landwirtschaftlichen Rohstoffe und Lebensmittel auch mit umweltgerechten Produktionsverfahren und in tiergerechter Tierhaltung erzeugt werden. Beispielsweise wird heutzutage der übermäßige Einsatz von Mineraldünger und Pflanzenschutzmitteln, der in manchen Regionen vorhandene überhöhte Tierbesatz mit mehr Gülle als der Boden aufnehmen kann, die Käfighaltung von Legehennen und das Halten von Schweinen auf Vollspaltenböden aus Beton von vielen Menschen nicht mehr toleriert. Für einige ist es zur Gewissensfrage geworden, ob das Ei auf dem Frühstückstisch aus Käfig- oder Freilandhaltung stammt. Die Politik hat darauf reagiert – mit neuen Gesetzen, Richtlinien und Verordnungen. So sollen z. B. keine neuen Ställe mehr genehmigt werden, wenn diese nicht den heutigen Vorstellungen von tiergerechter Haltung entsprechen, und bestehende Ställe haben nur noch für wenige Jahre Bestandsschutz. Trotzdem ist hier noch vieles Stückwerk und nicht bis zu Ende durchdacht. Das betrifft z. B. die Gefahr der Abwanderung der Produktion in Drittländer mit niedrigeren Standards oder die Verteuerung der heimischen Produktion durch höhere Standards – beides verzerrt den inzwischen globalen Wettbewerb und gefährdet so Einkommen und Arbeitsplätze. Deshalb bedürfen die gesellschaftlich erwünschten Veränderungen auch agrarpolitischer Rahmenbedingungen, die solche negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen vermeiden. Im übrigen gibt es heute auch den nötigen Spielraum, um der Qualität der landwirtschaftlichen Produkte und der Qualität der landwirtschaftlichen Prozesse (also ihrer Umwelt- und Tiergerechtigkeit) einen ganz anderen Stellenwert in der Agrarpolitik einzuräumen, denn die Zeiten, in denen das wichtigste Anliegen der Gemeinsamen Agrarpolitik darin bestand, soviel wie möglich zu produzieren, sind lange vorbei.

Schließlich bedarf es auch einer Veränderung der Agrarpolitik, weil die heutige Landwirtschaft ein weit geringeres volkswirtschaftliches Gewicht als in früheren Zeiten besitzt und selbst in ländlichen Regionen nicht mehr dem Hauptbeitrag zur Wertschöpfung und Beschäftigung beisteuert. Zum Beispiel betrug im Jahre 1950 in der alten Bundesrepublik der Anteil der Landwirtschaft an den Erwerbstätigen 24,3% und an der Bruttowertschöpfung 11,3%. Im Jahre 2000 beliefen sich diese Anteile – bezogen auf das ganze Deutschland – nur noch auf 2,5% bzw. 1,2%. Der gleiche Prozess hat sich auch in den anderen EU-Staaten vollzogen. Trotzdem bleibt die Land- und Forstwirtschaft der Hauptflächennutzer. Aus diesem und anderen weiter unten angeführten Gründen wird die Agrarpolitik künftig immer weniger sektoral, sondern immer stärker territorial definiert werden. Das heißt Agrarpolitik wird immer mehr zu ländlicher Entwicklungspolitik.

Schlüsselrolle beim sozialökologischen Umbau

Trotz des statistisch dokumentierten Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft ist die Politik gut beraten, sich auf eine „Renaissance“ der Landwirtschaft einzustellen. Es sind die objektiven gesellschaftlichen Erfordernisse, die dem Agrarwirtschaftsbereich eine Schlüsselrolle beim sozialökologischen Umbau der Gesellschaft zuweisen:

als Basis für eine hochwertige und gesunde Ernährung,
zur Gewinnung nachwachsender Rohstoffe und erneuerbarer Energien,
bei der Reproduktion der Naturressourcen Boden, Wasser, Luft und Vielfalt der Arten wildlebender Pflanzen und Tiere,
für die Pflege der vielfältigen Kulturlandschaften,
zur Sicherung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen auf dem Lande.
Insoweit ist die verbreitete Argumentation, den EU-Agrarhaushalt als Belastung für den Steuerzahler darzustellen, fragwürdig und einseitig. Es geht nicht um die Kürzung der öffentlichen Agrarausgaben, sondern um ihre Ausrichtung auf den sozialökologischen Umbau.

EU-Politik für ländliche Räume

In der aktuellen Diskussion wird über die zukünftige Ausgestaltung der europäischen Agrar- und Regionalpolitik gerungen. Bereits seit der Konferenz von Cork (November 96) und mit der Agenda 2000 sind die Weichen für eine integrierte Entwicklung ländlicher Räume gestellt, in der nicht mehr ein Politikbereich (Landwirtschaft, Handwerk, Tourismus), sondern eine Region mit ihren besonderen Eigenarten im Vordergrund steht. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen. Ein so behäbiger Dampfer wie die EU-Agrarpolitik verträgt keine plötzliche Kursänderung. Hierzu bedarf es behutsamer und vorausschauender Manöver. Hierzu wird die EU-Landwirtschaftspolitik langfristig in eine integrierte Wirtschaftspolitik für den ländlichen Raum münden. Damit soll sie den neuen gesellschaftlichen Prioritäten – Kulturlandschaft und Umweltleistungen, nachwachsende Rohstoffe, nachhaltige Produktion – Rechnung tragen. Staatliche Leistungen wird es nur geben, wenn es klar definierte Gegenleistungen der Landwirte gibt. Hierzu zählt, dass flächendeckende Landwirtschaft immer weniger produktionsbezogen, sondern immer mehr kulturlandschaftsbezogen verstanden werden wird. Insbesondere den Landwirten in ungünstigen Lagen, wie z. B. in den Gebirgen oder im märkischen Sand, die künftig noch weniger als andere ihr Einkommen am Markt erzielen können, müssen für ihre Leistungen bei der Landschaftspflege und beim Naturschutz honoriert werden. Hierfür erforderlich ist eine Umschichtung der Agrarausgaben des EU-Haushaltes und eine Reform der Agrarförderung. So wird angestrebt, den relativ geringen Anteil für ländliche Entwicklung von nur 10% schrittweise zu erhöhen, was allerdings zu Lasten der Marktordnungsausgaben und Direktzahlungen gehen soll. Das ist nicht ganz problemlos, denn gerade die Direktzahlungen, die zur Kompensation von verordneten Erzeugerpreissenkungen, insbesondere für Getreide, Raps, Rind und Milch, gezahlt werden, bilden einen wesentlichen Teil der Einkommen der Landwirte. Sie haben die nicht unberechtigte Sorge, dass sie künftig nicht gleichermaßen aus den Finanztöpfen für den ländlichen Raum partizipieren können. Ebenso macht mancher Finanzminister ein saures Gesicht, weil Mittel für ländliche Entwicklung durch die Mitgliedsstaaten kofinanziert werden müssen, während die Direktzahlungen und anderen Marktordnungsausgaben zu 100% aus dem Brüsseler Haushalt kommen. Ein Rad greift also ins andere. Deshalb bedarf es ausgewogener und komplexer Lösungen.

Die Möglichkeiten der Politik, Finanzmittel zu verlagern, sind kurzfristig sehr gering und bleiben wohl auch mittelfristig begrenzt. Zugleich wird die Diskussion über den wünschenswerten Zustand der Landwirtschaft in den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen geführt. Auf Grund unterschiedlicher Interessen und Bedingungen wird die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik Kompromisse erfordern. Aber sie ist notwendig. Zumal beim inzwischen erreichten hohen Grad ihrer Vergemeinschaftung keine nationalen Alleingänge mehr möglich sind. Der Bedarf an Veränderung ergibt sich nicht nur aus den inneren Problemen der EU. Auch die bevorstehende Ost-Erweiterung verlangt einen neuen Ansatz. Zumal die Beitrittsländer einen großen Bedarf an Strukturentwicklungsmaßnahmen haben.

Kleiner Exkurs zur Agrarpolitik der EU

Wer bis hierher gelesen hat, dürfte mehr über die Geschichte und Funktionsweise der EU-Agrarpolitik wissen wollen. Diesen Bedürfnis will ich mit dem folgenden Exkurs nachkommen.

Landwirtschaft und Agrarpolitik haben im westeuropäischen Integrationsprozess eine Vorreiterrolle gespielt. Bereits im Gründungsvertrag der EWG (1957) wurde die Schaffung einer „Gemeinsamen Agrarpolitik“ – abgekürzt GAP – verankert. Die GAP war damit die erste und für lange Zeit auch einzige Gemeinschaftspolitik. Sie erbrachte wichtige Vorleistungen für den seit 1993 bestehenden gemeinsamen EU-Binnenmarkt. Im Prozess der Ausgestaltung der GAP hat die Gemeinschaft den Großteil der agrarpolitischen Aufgaben der Mitgliedsstaaten übernommen. Einige Politikfelder blieben allerdings weiterhin den Mitgliedsstaaten vorbehalten, insbesondere das Steuersystem und die Sozialversicherung für landwirtschaftliche Betriebe, Landwirte und in der Landwirtschaft Beschäftigte.

Grundprinzipien

Zur Erreichung der agrarpolitischen Ziele wurden folgende drei Grundprinzipien der Markt- und Preispolitik, die auch heute noch die Hauptsäule der GAP bildet, festgelegt:

Einheit des Marktes: Durch gemeinsame Marktordnungen für die Mehrzahl der landwirtschaftlichen Produkte, ein einheitliches Preissystem (mit Schwellen- und Interventionspreisen für derzeit 70% der Produkte)‚ die Einführung von Quoten für die Milch- und Zuckerproduktion entwickelte sich bereits vor der Inkraftsetzung des Europäischen Binnenmarktes ein gemeinsamer Markt für landwirtschaftliche Produkte. Zölle und andere Handelshemmnisse wurden beseitigt, nationale Alleingänge durch einheitliche, verbindliche Regelungen unterbunden.
Gemeinschaftspräferenz: Dem Absatz der innergemeinschaftlichen Erzeugung wurde der Vorrang eingeräumt. Da die Gemeinschaftspreise für landwirtschaftliche Produkte über dem Weltmarktpreisniveau liegen, musste die GAP den Binnenmarkt gegenüber Drittländern abschotten. Im Unterschied zum Außenhandel der EU mit Industriewaren und Dienstleistungen fungiert bei Agrarprodukten eine Art Schleusensystem, das an den Außengrenzen der Gemeinschaft die Unterschiede zum Agrarpreisniveau der EU abfängt. Da die Weltmarktpreise in der Regel unter dem EU-Preisniveau liegen, wird beim Import eine Abschöpfung (Zoll) erhoben und beim Export ein Ausgleich in Form einer Exporterstattung gewährt.
Finanzielle Solidarität: Als Konsequenz aus der gemeinsamen Agrarpolitik ergab sich, dass auch die Kosten gemeinsam getragen werden. Die finanzielle Solidarität ist deshalb eine wesentliche Grundlage dieser Politik. Dazu wurde der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) geschaffen. Aus ihm werden – auf der Grundlage gemeinsamer Beschlüsse – die für die Agrarpolitik erforderlichen Ausgaben finanziert, unabhängig davon für welche Erzeugnisse oder welchen Mitgliedsstaat sie bestimmt sind.

Ergänzt wird die Markt- und Preispolitik durch die Agrarstrukturpolitik. Sie wurde im letzten Jahrzehnt auf Maßnahmen der ländlichen Entwicklung und Förderung der Umwelt ausgedehnt. Die Agenda 2000 bündelte diese als ländliche Entwicklungspolitik (2. Säule der GAP).

Widersprüchliche Ergebnisse der GAP und ihre Reformen

Die Ergebnisse von inzwischen vier Jahrzehnten GAP sind aufsehenerregend, und zwar im positiven wie im negativen Sinne:

Einerseits stiegen die landwirtschaftliche Produktion und Produktivität rasch an. Die Nahrungsmittelknappheit der 50er Jahre konnte relativ schnell überwunden werden. Bereits in den 70er Jahren wurde der Selbstversorgungsgrad von 100% für die wichtigsten Agrarprodukte überschritten. Zunehmend wurden Exporte in andere Regionen der Welt ermöglicht.

Andererseits führte die GAP dazu, dass von 1960 bis Ende der 90er Jahre zwei Drittel der Landwirte aus der Landwirtschaft ausscheiden mussten. Es fand ein als „Höfesterben“ bezeichneter Konzentrationsprozess des Wachsens und Weichens statt. Hinzu kommt, dass die Bauern mit ihrem Einkommen im Durchschnitt, bei allerdings großer Differenziertheit, am Ende der Einkommensskala aller EU-Erwerbstätigen liegen. Und das, obwohl ein Landwirt heute 125 Menschen ernährt. 1960 waren es 17. Eine Folge davon ist die hohe Überalterung der Landwirte. Landwirt zu sein und Landwirt zu werden, ist heute kaum noch attraktiv. Hier haben Agrarpolitik und Gesellschaft versagt.

Um die aktuelle Agrarpolitik und die Diskussion um ihre Weiterentwicklung voll zu verstehen, muss auf die größte Krise der GAP eingegangen werden. Sie brach in den 80er Jahren offen aus. Damals kam es zu einer gewaltigen Überschussproduktion an Getreide, Rindfleisch und Milcherzeugnissen. Dadurch wuchsen die Agrarausgaben ins Uferlose; der Haushalt der Gemeinschaft geriet an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Zugleich wurde damit deutlich, dass die Gemeinschaft ihre Agrarpolitik immer weniger nur aus inneren Erfordernissen heraus bestimmen kann. Die Landwirtschaft wurde abhängiger vom Weltmarkt. Indem die Gemeinschaft ihre hoch subventionierten Überschüsse mittels einer immer aggressiver werdenden Exportpolitik (Preisdumping) in Konkurrenz zu den anderen großen Agrarexporteuren, namentlich den USA und Cairns-Ländern, „unterbrachte“, gerieten die Weltagrarmärkte völlig aus dem Gleichgewicht. Es kam zu Spannungen und „Handelskriegen“ zwischen den Hauptexporteuren. Diese Entwicklung führte dazu, dass der Agrarhandel erstmals zum Gegenstand weltwirtschaftlicher Verhandlungen und Regelungen wurde. Die Uruguay-Runde des GATT, der Vorgängerorganisation der WTO, fasste 1993 Beschlüsse, die eine grundlegende Agrarreform der EU erforderlich machten.

Zur EU-Agrarreform kam es 1992. Mit ihr wurde der Kurs der Annäherung der Gemeinschaftspreise an die Weltmarktpreise durch eine schrittweise Senkung der institutionellen Preise und die Ersetzung der Preisstützung durch direkte Einkommensbeihilfen für Landwirte in Form von Flächen- und Tierprämien zum Teilausgleich der Preissenkungen begründet. Während 1991, dem Jahr vor der Reform 91% der Ausgaben des EU-Agrarhaushaltes (nur EAGFL-Abteilung Garantie) auf Marktstützung entfielen, werden es 2006 (gemäß der finanziellen Vorschau) nur noch 21% sein. Dagegen sollen die Direktzahlungen von 9 auf 68% ansteigen; außerdem sind 11% für die ländliche Entwicklung geplant. Neben dem erwähnten haushaltspolitischem Grund (teure Überschussproduktion) und dem internationalen Druck (GATT-Übereinkommen) spielten auch umweltpolitische Gründe (negative Folgen der Intensivierung) eine wichtige Rolle bei der Konzipierung der Reform. Sie erfasste nicht alle Sektoren, die einer gemeinsamen Marktordnung unterliegen, aber die wichtigsten. Die Agrarreform von 1992 hat zu einer umfangreichen Reduzierung der Interventionsbestände bei den Überschussprodukten Getreide, Rindfleisch und Magermilchpulver geführt.

Zum Jahrtausendwechsel kam es insbesondere im Zeichen des bevorstehenden Beitritts einer Reihe von MOEL und der Überprüfung der GATT-Übereinkommen zu einer weiteren Neuordnung der Gemeinsamen Agrarpolitik im Rahmen der Agenda 2000, um die Landwirtschaft und den ländlichen Raum in den 15 EU-Mitgliedstaaten zu wahren. Das europäische Landwirtschaftsmodell der Multifunktionalität muss dazu im Rahmen einer zunehmend marktorientierten Politik konsolidiert werden. Das europäische Modell der Multifunktionalität der Landwirtschaft, das heißt die Sicherung der Einheit von Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel und nachwachsender Rohstoffe für die EU-Bevölkerung und als Beitrag zur Handelsbilanz, Erhaltung abwechslungsreicher Landschaften durch umweltgerechte, vorwiegend extensive Landwirtschaft und Sicherung breiter wirtschaftlicher Aktivitäten und zukunftsträchtiger Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen durch Diversifizierung, d. h. Ergänzung der Landwirtschaft um andere Wirtschaftszweige, soll der EU-Landwirtschaft die Teilhabe an der Globalisierung durch weitere Liberalisierung ermöglichen und sie zugleich vor einer auf die Produktionsfunktion reduzierte Agrarglobalisierung nach amerikanischem Vorbild „retten“. Dieser Spagat ist auch zur Beherrschung der immensen sozialen Folgen der Liberalisierung in Anbetracht der vorherrschenden kleinbetrieblichen Agrarstruktur in EU-Europa erforderlich. Gemäß diesem europäischen Agrarmodell setzt die Agenda 2000, die für den Zeitraum 2000 bis 2006 die Bedingungen der Gemeinsamen Agrar- und Strukturpolitik und die Finanzierung der Gemeinschaft einschließlich der anstehenden EU-Osterweiterung verbindlich festgelegt hat, die GAP-Reform von 1992 mit weiteren Preissenkungsschritten und einer Anhebung der Direktbeihilfen fort. Gegenwärtig wird die Halbzeitbewertung der Agenda 2000 vorbereitet. Sie wird zu weiteren Korrekturen der Agrarpolitik führen. Vor allem jedoch die Weichen für einen noch weitergehenden Agrarwandel nach 2006 stellen.

Quelle:
Brüsseler Spitzen – Halbzeitbilanz