André Brie, Artikel für den ‚Freitag‘, Ausgabe vom 15. Februar 2002

Die deutsche Europapolitik ist ein explosives Gemisch

Europapolitische Visionen, Panik, Krämergeist und heimliche Renationalisierung – die deutsche Europapolitik ist ein explosives
Gemisch. Die Zukunftsvorstellungen, die Fischer und Rau vor zwei Jahren vorgestellt hatten, beschränkten sich auf die weitere
institutionelle Integration und verzichteten auf eine soziale Idee. Fischer machte zudem kein Hehl daraus, dass die deutsche
Europapolitik eine gewisse Renationalisierung ernsthaft anstrebt: Sein Vorschlag, das Demokratiedefizit der EU nicht durch die
legislative Gleichstellung des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat, sondern durch eine zusätzliche parlamentarische
Kammer aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zu verringern, ging in dieser Richtung. Aus Bayern wurde die Renationalisierung
der Agrar- und der Struktur- und Regionalpolitik verlangt, Berlin hatte bereits in Nizza dazu beigetragen, den national beherrschten Rat zu
stärken, die Kommission zu schwächen.

Und nun haben wir Wahlkampf in Deutschland. Als Eichel der „blaue Brief“ drohte, wurde kurzerhand selbst der deutsche
EU-Kommissar mit SPD-Parteibuch Verheugen nationalisiert. Der Maastrichter Stabilitätsvertrag hätte ein Einschreiten der Kommission
verlangt. Aber der deutsche Regierungsdruck ließ nicht nur einen deutschen Kommissar vom „Hüter der Verträge“ (so die Rolle der
Kommission) zum Hüter sozialdemokratischer Wahlkampfinteressen werden, sondern auch Kommission und Finanzministerrat
umfallen.

Vor zwei Wochen veröffentlichte die Kommission ihre Finanzierungsideen für den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder. In den
üblichen Reden geht es um die „Überwindung der Spaltung Europas“ (diejenigen, die europäische Zustände der Vergangenheit
beschönigen möchten, sprechen auch gern von „Wiedervereinigung Europas“), von einer Perspektive des Friedens und der Wohlfahrt
auf dem Kontinent. Nun aber haben die Finanzminister und Buchhalter das Sagen. Dem Vernehmen nach hat Eichel dabei eine zentrale
Rolle gespielt. Der EU-Beitritt Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns wird nicht mit historischem Geist, sondern mit der
Krämerseele gestaltet. Allein in Polen machen die großen westeuropäischen Konzerne und Banken bereits jetzt einen jährlichen
Gewinn von 4 Mrd. €, aber die Fördermittel für Polen und die Beihilfen für die polnischen Landwirte werden zusammengestrichen. Der
Bundesregierung ist das nicht genug. Sie fordert weitere 7,5 Mrd. € zu kürzen. Politisch und rechtlich wird die EU zum erstenmal in ihrer
Geschichte ganz offiziell auf Diskriminierung gegründet. Ausgerechnet Osteuropa ist der Testfall. Kein Zweifel, leider, dass solche
Politik in Deutschland Wahlkampfpunkte bedeuten kann. Kritik aus Union und FDP ist daher auch nicht zu vernehmen.

Derzeit sind etwa 13,6 Millionen Menschen in der EU offiziell arbeitslos gemeldet. Statt jedoch tragfähige Konzepte zur Schaffung von
Arbeitsplätzen vorzulegen, sollen auf dem Beschäftigungsgipfel im März in Barcelona abermals nur Beschlüsse zur Integration der
Finanzmärkte, zur „Flexibilisierung“ der Arbeitszeiten sowie zur weiteren Privatisierung der Rentensysteme fallen. Neu ist lediglich, dass
die Kommission in ihrem Papier nun auch den Aufbau des europäischen Satellitennavigationssystems Galileo als Bestandteil
europäischer Beschäftigungspolitik ausgibt. Da die europäische Kommunikations- und Weltraumindustrie an Galileo nur verdienen,
sich aber finanziell nicht beteiligen möchte, sind einige Haushaltspolitiker noch skeptisch. Die Verteidigungsminister dagegen drängen
trotz des angeblich rein zivilen Programms massiv. Wenn EU-Europa zwischen Atlantik und Bug derzeit so wenig Erfreuliches zu bieten
hat, mag das Weltall der richtige Raum für seine Selbstverwirklichung sein.

Da eben zeigt sich die Panik. UNO und OSZE sind bereits beiseite gedrängt worden. Die partielle Einbeziehung der Vereinten Nationen
in den „Antiterror“-Krieg der USA kann darüber nicht hinwegtäuschen. Die EU-Regierungen waren zwar zur „uneingeschränkten
Unterstützung“ der USA bereit, mussten aber erleben, dass „uneingeschränkt“ auch bedeutete, die eigene Rolle fast uneingeschränkt
zur Disposition zu stellen. Von der viel gepriesenen eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik blieb kaum etwas
übrig. Selbst die NATO, die für die westeuropäischen Mittelmächte außen- und sicherheitspolitisch den ohnehin dominanten
Handlungsrahmen bildet, wurde von der Bush-Administration pathetisch zur Ausrufung des Verteidigungsfalles genötigt und
anschließend ins Abseits gestellt. Die Entwicklung eines eigenen, „europäischen“ Militärapparates, Satellitensysteme eingeschlossen,
soll Abhilfe schaffen. Aber fast jeder in der EU weiß, dass ein europäisch-amerikanisches Wettrüsten verloren wäre, bevor es begonnen
hätte. Den Ausweg wiederum einer gemeinsamen, demokratischen, zivilen, politisch und wirtschaftlich orientierten europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik vermag man nicht zu gehen.

Vielleicht liegt das Desinteresse der deutschen Politik an „Europa“ ja eben darin begründet, dass es derzeit keine und auf solchen
Grundlagen auch künftig keine Erfolge geben kann? Ohnehin ist das Thema EU in der Bevölkerung nicht sonderlich gut gelitten. Das
Desaster besteht darin, dass sich die Institution EU immer weiter von den per Maastrichter Vertrag geschaffenen „europäischen
Bürgern“ entfernt hat. Dabei gäbe es mit dem Anfang März zusammen tretenden Konvent zur EU-Reform durchaus die Chance, die
Bevölkerung in die Diskussion um die Zukunft Europas einzubeziehen: mehr Transparenz in den EU-Institutionen und -Entscheidungen,
tatsächliche Bürgermitsprache und Demokratie, Verankerung der in Nizza im Dezember 2000 angenommenen Grundrechtecharta und
Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Unglücklicherweise lassen sich deutsche Wahlen mit solchen Themen
jedoch nicht gewinnen.