Rot-grünes Anrennen gegen Europa
Sylvia-Yvonne Kaufmann, erschienen im ND vom 15./16.2.2002 in leicht bearbeiteter Fassung unter dem Titel Rot-grün gegen Europa‘.
Gerhard Schröder bewegt sich in Europa wie der Elefant im Porzellanladen. Aber sein Crash-Kurs hat System. „Brüssel“ wird zum
Monster gemacht, das nur Unheil verbreitet, vor dem der deutsche Staat sowie seine Bürgerinnen und Bürger geschützt werden
müssten. Neu ist das nicht, klingen doch seine nationalen Klagelieder gegen fast alles, was aus Brüssel kommt, vertraut bayerisch. Sie
beschädigen das gemeinsame europäische Haus, und sie vergrößern die Kluft, die trotz (oder gerade wegen) des Euro, der erst
einmal zum Teuro wurde, noch immer zwischen dem „fernen Europa“ und seinen Menschen besteht.
Bereits als frisch gewählter Kanzler monierte Schröder 1998, dass Brüssel der Ort sei, wo deutsche Steuergelder „verbraten“ würden.
Deutschland finanziere nicht nur große Teile des EU-Haushalts, sondern auch maßgeblich die Erweiterung. Unter den Tisch fiel, dass
die deutsche Wirtschaft als größte in der EU am meisten von Binnenmarkt und Erweiterung profitiert. Noch im Dezember 1998
versuchte der Kanzler arg populistisch Glauben zu machen, er könne das Ende von Dutyfree stoppen, um die beliebten Butter- und
Kaffeefahrten zu erhalten, wohl wissend, dass ein gemeinsamer Markt mit gemeinsamem Geld dies nicht verträgt. Wenig später lief er
gegen die Vorschläge der EU-Kommission Amok, auch die Autokonzerne an den Kosten zur Entsorgung von Altautos zu beteiligen.
Gerade eben wetterte er gegen die Brüsseler Pläne zur Liberalisierung des Autohandels, gegen die vor allem Teile der deutschen
Autoindustrie sind, weil sie um ihre Privilegien fürchten. Hingegen begrüßen Verbraucherschützer die Neuregelung, verspricht sie doch
Preissenkungen bei Kauf und Reparatur von Autos. Besonders gravierend ist, dass Berlin die im Vergleich zum deutschen Recht relativ
liberalen Vorschläge der EU-Kommission zur Asyl-, Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik ablehnt und eine notwendige gemeinsame
Politik der EU-Mitgliedstaaten durch wiederholtes Veto verhinderte. Beim EU-Gipfel 2000 in Nizza, der die Union für die Erweiterung fit
machen sollte, trat der Kanzler für eine neue Stimmengewichtung der Mitgliedstaaten im Ministerrat ein, von der vor allem die großen
Staaten profitieren. Gemeinsam mit Großbritannien und Frankreich sucht er seit dem 11. September verstärkt den außen- und
sicherheitspolitischen Schulterschluss, während der „Rest“ der EU brüskiert und außen vor gelassen wurde. In Schröders Logik sind in
der EU eben manche gleicher als andere. Das spielte auch beim jüngsten Eklat eine Rolle, als der Kanzler mit Brachialgewalt den
wegen des deutschen Haushaltsdefizits legitimen „blauen Brief“ aus Brüssel abwehrte, obwohl einst die Bundesrepublik diese
Regularien mit Verweis auf die Euro-Geldwertstabilität gegen den Willen mancher Partner durchsetzte.
Dass nun auch der bündnisgrüne Außenminister gemeinsam mit dem Bundeskanzler demonstrativ auf Groß gegen Klein setzt, lässt
für Europa nichts Gutes erwarten. Es gehe nicht, so Josef Fischer in der Zeitung „Die Welt“ vom 12.2., dass „man dem wichtigsten
Nettozahler Deutschland … zusätzliche Lasten aufbürdet und am Ende den Zeigefinger wegen des Defizits hebt“. Darüber hinaus
verstieg er sich zu der fatalen Bemerkung: Gegenüber ihren Wählern würden die nationalen Politiker haften, während demgegenüber
Brüssel (ergo die EU-Kommission) Entscheidungen fälle, auf die sie dann „nur noch begrenzt Einfluss“ hätten. Solche Sprüche sind
verlogen, um nicht zu sagen schizophren. Tatsache ist: Nach wie vor ist der Ministerrat, d.h. die in ihm vertretenen Regierungen der
EU-Mitgliedsländer, die mächtigste EU-Institution. Die nationalen Exekutiven sind in der europäischen Politik zugleich ihre eigene
Legislative, was aus der Sicht parlamentarischer Demokratie ein Unding ist. Die Regierungen sind es, die die EU-Verträge oder den
Stabilitätspakt ausgehandelt haben. Die EU-Kommission verfügt nur über so viel Macht, wie ihr die Staats- und Regierungschefs
zubilligen. Mit der Abmahnung Deutschlands hat die Kommission folglich nichts anderes getan, als das, was ihr die Staats- und
Regierungschefs in Prokura aufgetragen haben. Sie muss als Hüterin der EU-Verträge über die Einhaltung des Maastrichter Vertrages,
der die staatliche Neuverschuldung auf maximal 3,0 Prozent beschränkt, ebenso wachen wie über den Stabilitätspakt, der formal auf
einen ausgeglichenen Staatshaushalt abzielt.
Schröder & Co. haben nur scheinbar einen Sieg errungen. Europa wurde Schaden zugefügt. Vorerst zunichte gemacht wurde die
Chance, den ökonomisch unsinnigen Stabilitätspakt mit seinem Korsett willkürlich festgelegter Quoten zur Debatte zu stellen, weil er
Stabilität nicht fördert, sondern zusätzlich gefährdet. In konjunkturschwachen Zeiten nötigt er den Staat zu rücksichtslosem Sparen und
lähmt dadurch die Wirtschaft. Um ausufernde Staatsdefizite zu vermeiden, ist vielmehr eine europäische Wirtschaftsregierung,
zumindest endlich eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU angesagt. Doch dies hat die Bundesregierung mit ihrem
unseligen Agieren vorerst verpatzt.