Europas Modernisierung von Rechts

Klaus Dräger Andreas Wehr

Der „Dritte Weg“ der europäischen Sozialdemokratie ist gescheitert. Auf seinen Trümmern triumphieren neue Rechtsbündnisse

Ein spektakulärer Wechsel der Mehrheitsverhältnisse hat in der EU stattgefunden. Nach dem zweiten Wahlgang zur Nationalversammlung in Frankreich werden 10 von 15 Mitgliedstaaten von Konservativen regiert. In 5 Mitgliedstaaten ist dies nur durch Bündnisse mit rechtspopulistischen Formationen möglich – in Österreich, Italien, Dänemark, Portugal und künftig in den Niederlanden. Die so sichere gewähnte Hegemonie der neuen Sozialdemokratie in Europa ist in kürzester Zeit verflogen. Noch 1999 war sie in 13 der 15 EU-Mitgliedstaaten an der Regierung. Sie stellte 9 Regierungschefs und später 9 von 20 EU-Kommissaren. Auf dem „Dritten Weg“ hat Mitte-links den Karren komplett vor die Wand gefahren.

Das erste bürgerlich-rechtspopulistische Regierungsbündnis in Österreich zwischen ÖVP und FPÖ versuchte man noch politisch zu isolieren. Seit Berlusconis Wahlsieg im Mai 2001 wird das Zusammengehen von Rechtspopulisten und bürgerlichen Konservativen mit achselzuckender Resignation hingenommen. Was vormals als eklatanter Tabubruch der europatreuen Konservativen gebrandmarkt wurde, ist heute ein Stück „europäischer Normalität“ geworden.

Der europäische Rechtspopulismus steht in scharfer Konkurrenz sowohl zur Sozialdemokratie wie zum traditionellen bürgerlichen Lager. Er wächst in vielen betroffenen europäischen Staaten potenziell nach dem Muster der „Dritten Kraft“: eine modernisierte, autoritäre Rechte löst die tradierten „linken“ wie „bürgerlich-rechten“ Lagerbindungen auf. Sie nutzt die verbreitete Politikverdrossenheit und soziale Ohnmachtsgefühle in verschiedensten sozialen Schichten der Bevölkerung. Dort dominiert die Wahrnehmung, dass sowohl die bürgerlichen Kräfte als auch die Mitte-links-Bündnisse (Sozialdemokraten, Sozialliberale, Grüne und Post-Kommunisten) mit ihrer jeweiligen Politik die eigenen Lebensumstände nicht verbessern können. Mit ihrem Drang zur „politischen Mitte“ sind sie sich zudem im Ergebnis immer ähnlicher geworden.

Die Orientierungen der alten extremen Rechten, Faschisten und Nationalsozialisten – Blut- und Boden-Ideologien, Rassentheorien, der Kult des starken Staates und des wirtschaftspolitischen Dirigismus – sind für den europäischen Rechtspopulismus nicht mehr identitätsbildend. Was die modernisierte europäische Rechte eint – von der FPÖ Jörg Haiders über die autoritär-neoliberale Forza Italia Silvio Berlusconis, die Front National Jean-Marie Le Pens, die norwegische Fremdkrietspartiet Carl Ivar Hagens, die Dansk Folkeparti von Pia Kjaersgard, die modernisierte neofaschistische Aleanza Nazionale Gianfranco Finis bis zur niederländischen Liste Pim Fortuyn – ist ihre wirtschafts- und gesellschaftspolitische Orientierung auf einen knallharten Neoliberalismus und die Schleifung des Wohlfahrtsstaats.

So ist der europäische Rechtspopulismus „gesellschaftsfähig“ geworden, weil er populäre Anknüpfungspunkte zum Mainstream-Diskurs in Europa herstellen kann. Kürzung von Renten und Sozialleistungen, Nulldefizitpolitik, vollständige Deregulierung des Arbeitsmarkts, Steuersenkungen für die Leistungsträger, Delegation sozialer Aufgaben an die Familie und lokale Gemeinschaften – all dies ist bei den Rechtspopulisten im Angebot. Attacken auf die Globalisierung und auf Europa sind eher taktisch motivierte Propaganda, um Wähler mit niedrigem Bildungsgrad in emotionale Wallung zu bringen und an sich zu binden.

Ein soziales Netz soll in Zukunft nur noch für die „hart arbeitenden Bürger“ aufrechterhalten, werden, die „sich nach den Leistungsgesetzen des Marktes und dem traditionellen Wertekanon von Pflicht, Hierarchie und Gehorsam konform verhalten“ (Christian Christen: Italiens Modernisierung von Rechts). „Leistungsunwillige“ Erwerbslose, „Sozialschmarotzer“ und die gefährliche multikulturelle Unterklasse der Trabantenstädte gehören aussortiert. Das Motto heißt: Für alle reicht es nicht!

Die Implosion der Mitte-links-Regierungen in Europa ist eng mit der Enttäuschung über zwei uneingelöste Versprechen der Sozialdemokratie verbunden: „Sicherheit im Wandel“ und „Vollbeschäftigung durch dynamisches Wirtschaftswachstum in Europa“. Der leichte Rückgang der Arbeitslosenzahlen in Europa bis Mitte 2001 war zu einem guten Teil mit einem Wachstum prekärer, schlecht geschützter Arbeitsplätze verbunden. Das soziale Netz wurde auch von den Mitte-Links-Regierungen ausgedünnt (z.B. Teilprivatisierung der Rentenversicherung). Die soziale Basissicherung wurde unterhalb der Armutsschwelle eingefroren. Ihr „aktivierender Sozialstaat“ machte Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern mit angedrohten Leistungskürzungen Beine, führte aber meist in perspektivlose, schlecht entlohnte Arbeitsangebote. Zusammen mit der Flexibilisierung der Arbeit verschärfte dies im unteren und mittleren Segment des Arbeitsmarktes die Konkurrenz unter den Beschäftigten. Zum Gefühl der mangelnden sozialen Sicherheit gesellten sich Bedrohungsängste angesichts des sozialen Verfalls in den vernachlässigten Wohngebieten.

Der verhaltene Wirtschaftsaufschwung in der EU seit 1997/98 währte nur bis März 2001. Die Vision einer New Economy zerplatzte wie eine Seifenblase. Enttäuscht ist man nicht allein von einer Politik der Deregulierung und Privatisierung auf nationaler Ebene. Es schwindet auch der Glaube daran, dass der Abbau der sozialen Sicherungssysteme auf nationalstaatlicher Ebene durch die Schaffung eines dynamischen europäischen Wirtschaftsraums gleichsam auf einer höheren Ebene kompensiert werden könnte. Die sozialdemokratischen Beteuerungen, nach der Wirtschafts- und Währungsunion folge die Beschäftigungsunion und das soziale Europa, sind zur hohlen Phrase verkommen. Traditionelle Stammwähler und die neu gewonnen Leistungsträger aus der „neuen Mitte“ setzten sich in alle Richtungen ab: Wahlenthaltung, Konservative, Rechtspopulisten.

Die in den 90er Jahren so hochgelobten „Jobwundermodelle“ der Niederlande und Dänemarks erwischte die neue Welle von Rechts besonders hart. Nicht hohe Arbeitslosenzahlen, sondern allein die Aussicht sozialen und wirtschaftlichen Abstiegs entfachte dort eine wahre Massenhysterie. Sie richtet sich gegen alle potenziellen Konkurrenten, sowohl auf dem hochflexiblen Arbeitsmarkt als auch um die geschrumpften Sozialetats: Immigranten, Arme, Arbeitslose. Sie alle wurden die neuen Feinde der in ihrer sozialen Stellung Gefährdeten. Schlimmer noch – die Sozialdemokratie goss selbst noch Öl ins Feuer, indem sie wie in Frankreich und Dänemark eine repressiv ausgerichtete innere Sicherheit und eine verschärfte Zuwanderungsbegrenzung zu ihren Wahlkampfthemen erklärte. Das ist ihr nicht gut bekommen.

Der „Dritte Weg“ der europäischen Sozialdemokratie blieb so nur eine Formation für eine Schönwetterperiode. Sein autoritärer Duktus – die Selbststilisierung als hemdsärmelige Macher, die Unternehmer und Gewerkschaften zum Konsens über einen Strukturwandel für gestärkte Wettbewerbsfähigkeit zwingen; die Jagd auf „Faulenzer“ und „Drückeberger“ in der „sozialen Hängematte“ – hat selbst die Lunte gelegt, die Konservative und Rechtspopulisten dann zünden konnten.

Übrig bleibt ein Scherbenhaufen auf der europäischen Linken. Die Grünen stagnierten bestenfalls und bleiben nach den rechten Regierungswechseln eine marginale Kraft. Die postkommunistische Regierungslinke wurde in den Orkus gespült – allen voran die französischen Kommunisten. Oppositionelle Kräfte wie die extreme Linke in Frankreich, die Sozialistische Partei der Niederlande und Rifondazione Communista in Italien konnten sich zwar behaupten oder wachsen. Allerdings fand dies unter Bedingungen statt, wo sie als linke Opposition soziale Belange gegen regierende Mitte-links-Bündnisse bündelten. Wo die Frage der Einheit der Linken und konkrete programmatische Alternativen gegen eine allgemein erwartete Bestätigung einer neuen konservativen Regierung im Vordergrund stehen, reicht das bloße Propagieren populärer linker Forderungen offensichtlich nicht aus. Der Absturz der zersplitterten trotzkistischen Linken in Frankreich von 10 auf 3 Prozent hat dies deutlich gezeigt.

Ob ehemalige Regierungslinke oder „linke Opposition von unten“ – alle postkommunistischen Formationen haben derzeit kein gesellschaftspolitisches Projekt und keine Programmatik im Angebot, die sie zu einer glaubwürdigen Alternative gegen Rechts machen könnte. Die einen setzen im Schlepptau der geschwächten Sozialdemokratie auf eine Neuauflage der Politik der alten Mitte-links-Bündnisse, nun besser garniert mit einer Rhetorik der „sozialen Gerechtigkeit“. Die anderen verharren in einem bloß anklagenden Antikapitalismus und in der Hoffnung, militante Gewerkschaftskämpfe und globalisierungskritische Bewegungen würden sie weiter nach oben ziehen. Was fehlt, ist eine Debatte über grundlegende gesellschaftspolitische Alternativen und politische Konzepte, mit der die Linke die Hegemonie der Rechten mit einer realen Machtperspektive überwinden kann. Die rechtspopulistische Welle in Europa wird nur dann gebrochen werden können, wenn die praktische Politik der Linken sich trennscharf von der Rechten unterscheidet und gestärkte Sozialstaatlichkeit als zentrale Instanz öffentlichen Handelns anerkannt wird.

Quelle:
Wochenzeitung Freitag (Ausgabe. 27 vom 28. Juni 2002), unter der Überschrift ‚Dritte Kraft statt Dritter Weg‘