Nach Lafontaines Abgang kam der Abschied von einer aktiven EU-Politik – Rot-Grün schaut zu, wie der Sozialstaatsabbau vorangetrieben wird

Andreas Wehr

Artikel von Andreas Wehr, erschienen im ND, 14.November 2002

Gerade in der Europapolitik hatten sich einst Sozialdemokraten und Grüne Großes vorgenommen. So hieß es im SPD-Wahlprogramm
1998: »Wir wollen eine europäische Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken, um in Europa mehr Wachstum und
Beschäftigung zu erreichen. Wir wollen gemeinsame und verbindliche Regelungen gegen Steuer- und Sozialdumping. Wir brauchen
dringend europäische Vereinbarungen über eine effektive Mindestbesteuerung für Unternehmen und die Beseitigung von
Steueroasen.«
Doch der Abgang von Oskar Lafontaine bedeutete auch das Ende einer aktiven und gestaltenden Europapolitik von Rot-Grün. Man ließ
die Kommission fortan in Brüssel werkeln und der Kanzler meldete sich nur – dann aber umso polternder – zu Wort, wenn die Industrie
ihn dazu drängte: So geschehen bei der Altautoverordnung, den Kfz-Vertriebsvorschriften und bei einer Richtlinie zur Übernahme von
Unternehmensanteilen, die vor allem VW bedroht hätte. An solchen Dingen störte sich der Autokanzler. Ansonsten schaute Rot-Grün zu,
wie die Liberalisierung und der Sozialstaatsabbau gerade von der EU-Kommission vorangetrieben wurden. Ob es sich dabei um den
Angriff auf das kommunale Sparkassensystem, die Öffnung des Personennahverkehrs für den Wettbewerb, die Freigabe der
Energiemärkte oder die Richtlinie für Betriebsrenten handelte, überall stimmte Rot-Grün bereitwillig Liberalisierungen zu.
Dass hinter der Fassade des »solidarischen Europas« eine beinharte neoliberale Politik betrieben wird, die mehr und mehr auch die
Rechte der Kommunen und Regionen aushöhlt, ist inzwischen selbst dem Bundesrat aufgefallen. In mehreren Entschließungen gab er
der Bundesregierung für die Verhandlungen im EU-Konvent mit auf den Weg, dass sie mit seiner Zustimmung zum Verfassungsvertrag
Ende 2003 nur dann rechnen kann, wenn auch ihre Forderungen nach Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und nach einer
Zuständigkeitsordnung zwischen EU und Mitgliedstaaten erfüllt werden. Staatliche Leistungen im Bereich der Daseinsvorsorge – etwa
in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Kultur – sollen danach aus dem europäischen Wettbewerbsrahmen ausgegliedert werden.
Im EU-Konvent hat sich Rot-Grün viel vorgenommen. Außenminister Fischer vertritt dort nun selbst die Regierung. In der
Koalitionsvereinbarung heißt es zu den Zielen: »Die Verfassung für Europa soll gewährleisten, dass Europas Strukturen verständlich
und dass die Entscheidungen nachvollziehbar sind und parlamentarisch kontrolliert werden.« Dies soll nach den Vorstellungen von
Rot- Grün vor allem durch die Stärkung des EU-Parlaments erfolgen, das zukünftig auch den Kommissionspräsidenten wählen soll.
Konflikte mit Frankreich, aber auch Großbritannien und Spanien sind damit programmiert, denn dort hält man es mehr mit der Stärkung
des Europäischen Rats, dem Gremium der Regierungen der Mitgliedstaaten. Geht es nach ihnen, soll der Rat auch den zukünftigen
Europäischen Präsidenten wählen.

Derzeit dürften indes für die neue Bundesregierung andere Dinge wichtiger sein. Da ist vor allem der Stabilitäts- und Wachstumspakt,
der reichlich Ärger verspricht. Neben Portugal wird Deutschland in diesem Jahr das zweite Euro-Land sein, das die nach dem Pakt
mögliche Defizitgrenze von 3 Prozent deutlich überschreiten wird. Damit liegt der Blaue Brief aus Brüssel nun endgültig auf dem Tisch
des Bundesfinanzministers. Ob es am Ende auch zu einer saftigen Geldstrafe kommen wird, gerechnet wird dann mit nicht weniger als
10 Milliarden Euro, hängt davon ab, ob es gelingt, die Neuverschuldung wieder deutlich zu drücken. Doch bei den angepeilten 2,5
Prozent würde dies heißen, dass die Neuverschuldung um 21 Milliarden Euro abgesenkt werden müsste. Wie der Finanzminister dies
schaffen will, ohne seine großzügigen Steuergeschenke an die Großindustrie wieder einsammeln zu müssen, bleibt sein Geheimnis.

In seiner Regierungserklärung sagte der Kanzler, dass die Regierung am Stabilitätspakt festhalte. Vielleicht sollte Schröder aber auch
mal darüber nachdenken, dass der starre Rahmen des Paktes vor allem Ausdruck einer fehlenden europäischen Wirtschafts- und
Haushaltspolitik ist. Prodi sprach nämlich vor allem von der Dummheit, mit dem Euro eine gemeinsame Währung geschaffen zu haben,
ohne zugleich auch eine europäische Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken vorzunehmen. Doch dann wäre
man ja wieder bei den Vorschlägen von Oskar Lafontaine angelangt. Und das ist ja bekanntlich das Letzte, was Schröder will.

EU-Ziele aus dem Koalitionsvertrag

Die Stärkung und der Ausbau des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells bleibt unser zentrales Ziel. Durch die Schaffung der
Voraussetzungen für ein dauerhaftes, nachhaltiges und beschäftigungsintensives Wirtschaftswachstum soll Europa in den nächsten
zehn Jahren zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Dabei muss das solidarische europäische Sozialstaatsmodell
erhalten und weiterentwickelt werden.

Durch die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion wächst die Notwendigkeit, die wirtschafts- und finanzpolitische
Koordinierung in der Europäischen Union zu verbessern. Die Bundesregierung setzt sich für eine stärkere Vereinheitlichung und
Vereinfachung der Koordinierung der europäischen Beschäftigungs-, Wachstums- und Strukturpolitik… ein.

Wir halten am europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt fest. Er bietet genügend Flexibilität, um sowohl konsolidierungs- als auch
wachstumspolitischen Erfordernissen gerecht zu werden.

Der europäische Binnenmarkt muss ausgebaut werden. Hierzu gehört die weitere Liberalisierung der Energiemärkte, so dass die freie
Wahl der Anbieter von Strom und Gas künftig für alle Kunden gewährleistet ist.

Quelle:
(ND 14.11.02)