Zur Mitteilung der EU-Kommission zur Sozial- und Beschäftigungspolitik

André Brie, 21. Januar 2002, Artikel für ‚Neues Deutschland‘

Am 15. Januar veröffentlichte die EU-Kommission ihre Mitteilung zur Sozial- und Beschäftigungspolitik für den EU-Gipfel am 15. und 16. März 2002 in Barcelona. Seit der Europäische Rat im Frühjahr 2000 in der portugiesischen Hauptstadt ein Konzept beschlossen hat, die Europäische Union mit dem Ziel der Vollbeschäftigung „zur dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und nachhaltigsten Wirtschaftsregion“ gemacht werden soll, wird im EU-Sprachgebrauch von der „Lissabonner Strategie“ gesprochen. Auch in dem neuen Dokument der Kommission werden die Ziele der „Vollbeschäftigung und stärkerer wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion“ wiederholt, obwohl wesentliche Annahmen sich bereits als illusionär und realitätsfremd erwiesen haben, so insbesondere die an SED-Parteitage erinnernde Euphorie hinsichtlich der „new economy“ oder die Voraussetzung von dreiprozentigem jährlichem Wirtschaftswachstum über die nächsten zehn Jahre (einmal ganz davon abgesehen, ob eine solche quantitative Orientierung angesichts der ernsten ökologischen Probleme überhaupt wünschenswert ist).

Es ist bezeichnend, dass im Kommissionsbericht praktisch nicht darauf verwiesen wird, dass zentrale sozial- und beschäftigungspolitische Ziele der EU-Strategie klar verfehlt werden. Unter der Überschrift „… aber einige Kernvorschläge sind steckengeblieben“ findet sich kein Wort dazu, dass die Länder der Europäischen Union der „Vollbeschäftigung“ nicht näher gekommen sind (Deutschland sich von ihr sogar weiter entfernt hat). Als „Enttäuschungen“ werden nicht die zunehmende soziale Kluft (statt der angestrebten sozialen Kohäsion) oder die offiziell 14 Millionen Arbeitslosen in der EU genannt, sondern lediglich Defizite beim „Gemeinschaftspatent“, bei der Schaffung eines europäischen Marktes für Finanzdienstleistungen, der Deregulierung des Energiemarktes und die Verzögerung des Satellitennavigationssystems „Galileo“.

Die „Perspektive der Vollbeschäftigung als vorrangiges Ziel der wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Strategie Europas“ (so ein Parlamentsbeschluss zum Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2002) war auch in den vergangenen Jahren bereits kritisch zu hinterfragen, weil der sozialen und ökologischen Qualität von Arbeitsplätzen kein Augenmerk geschenkt worden war oder Privatisierung und Deregulierung (freier europaweiter und globaler Wettbewerb) als die entscheidenden Mittel angesehen wurden. Inzwischen scheint dieses Ziel von der Kommission und den Regierungen aber vollständig auf ein propagandistisches Beiwerk reduziert zu werden. Folgerichtig werden in der erwähnten Mitteilung auch nicht beschäftigungspolitische Fortschritte (die es in Teilbereichen und einigen Staaten durchaus gibt) benannt. Als „Erfolge“ hervorgehoben werden die Einführung des Euro oder die fortgeschrittene Deregulierung der Telekommunikationsmärkte. Unter dem Stichwort „Weiterentwicklung der Beschäftigungspolitiken, mit einer besonderen Betonung der aktiven Arbeitsmarktpolitik“ taucht an erster Stelle die „Überprüfung der Steuer- und Transfersysteme“ auf. Konkret bedeutet das weiteren sozialen Druck auf Arbeitslose, verstärkte „Flexibilisierung“ der Arbeitsmärkte zu Lasten der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, steuerliche Entlastung der Unternehmen, weitere Schritte bei der Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme. Es sei nicht verschwiegen, dass auch verbesserte Kinderbetreuung, Qualifizierung und Sprachkompetenz gefördert werden sollen. Die neoliberale Grundorientierung wurde und wird jedoch noch weiter ausgeprägt. Immer stärker tritt die „Integration der Finanzmärkte“ in den Mittelpunkt der Kommissionspolitik.

Parallel zur Mitteilung für den Gipfel von Barcelona treibt die Kommission im Einklang mit den Regierungen und der Mehrheit des Europäischen Parlaments diese Politik auch auf anderen Gebieten aktiv voran. So orientiert sie in ihren Vorstellungen für die Entwicklung der europäischen Rentensysteme, die derzeit im Parlament erörtert werden, darauf, die sozialen und gesetzlichen Renten zu einer Minimumversorgung zu reduzieren und die beiden anderen Pfeiler der Altersversorgung (betriebliche und private Vorsorge) prinzipiell auszubauen. Eine lebensstandardsichernde Altersvorsorge wäre damit in Zukunft erstens primär von der privaten Vorsorge abhängig, zweitens von der Entwicklung der Finanzmärkte und Börsen, denen mit kapitalgedeckten Rentenfonds gigantische finanzielle Mittel zugeführt werden sollen. Die Beschäftigten des gerade in Konkurs gegangen US-Energiekonzerns Enron, von denen Tausende ihre Altersvorsorge verloren haben, können ein Lied von solcher sozialen Sicherung singen. Doch noch trifft die EU-Kommission auf keinen nennenswerten Widerstand.