Notizen auf einer Balkanreise, 16. – 20. November 2001
André Brie, 16. – 20. November 2001
Freitag, 16. November
Donnerstag gegen 21 Uhr war ich nach der Plenarwoche in Strassburg zu Hause. Morgens um 6 ging es schon wieder zum Flugplatz und dann über Wien nach Pristina. Am 17. werden die ersten Parlamentswahlen im Kosovo stattfinden, ein heikles Unternehmen der UN-Verwaltung und der OSZE. Wir, sieben Abgeordnete des EP, gehören zu den offiziellen Wahlbeobachtern. Die Lage hat sich in den letzten Monaten beruhigt, aber erstens hängt diese Ruhe von den Panzern und Soldaten der KFOR sowie den schwer bewaffneten UNO-Polizisten ab, zweitens wird das gewählte Parlament seine demokratische Legitimation unweigerlich nutzen, um die Lostrennung des Kosovo von Jugoslawien zu deklarieren. Die UN-Protektoratsverwaltung, ganz ohne solche demokratische Legitimation und längst in der Bevölkerung abgelehnt, wird Schwierigkeiten haben, den Status quo aufrecht zu erhalten und die Sicherheitsratsresolution zu verteidigen.
Gleich nach der Ankunft Treffen mit dem Direktor der EU-Agentur für den Kosovo, Mingarelli, einem kompetenten, engagierten und wohl auch recht erfolgreichen Mann. Er berichtet, dass die finanzielle Unterstützung der EU erfolgreich verlaufe, die Programme gut, wesentlich besser als im Jahr zuvor, ausgelastet seien. 2,5 Millionen Euro habe die Agentur zur Unterstützung der Wahlen bereitgestellt (1,3 Mill. für Medienunterstützung, 0,3 Mill. für eine Informationskampagne demokratische Werte, 0,8 Mill., um die Teilnahme der Bevölkerung an den Wahlen zu unterstützen, insbesondere von Frauen und behinderten Menschen). Die Registrierung der Wählerinnen und Wähler sei deutlich besser als bei den Kommunalwahlen 2000.
Eine Stunde später, 16:45 (unser Programm ist wie in allen diesen Fällen straff im Stundentakt organisiert), beim Vertreter des Europarats, der die Wahlbeobachtung organisiert. Die Vorbereitung der Beobachtungsmission habe am 20. Juli begonnen, sowohl im Kosovo als auch in Serbien, wo ja viele Flüchtlinge leben und ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen sollen. Dort rechne man mit etwa 50prozentiger Registrierung und habe immer noch viel Ablehnung, weil die Wahlbeteiligung als Legitimierung der UNMIK sowie der internationalen Kontrolle und des Separatismus empfunden werde. Erst seit zwei Wochen „grünes Licht“ durch die jugoslawische Regierung. 13.000 Wahlbeobachter würden morgen unterwegs sein, darunter 216 internationale. Die Kampagne sei ruhig verlaufen, kaum Zwischenfälle, Probleme vor allem im geteilten Mitrovica. Erstmalig werden alle ethnischen Gemeinschaften an den Wahlen teilnehmen (neben den Albanern und Serben, Türken, Bosnier, Sinti und Roma). Ein Drittel aller Kandidaten müssen Frauen sein. Bei den Kommunalwahlen hat dieses Verfahren dazu geführt, dass die gewählten Frauen zum größten Teil anschließend zurücktraten, deshalb jetzt die Festlegung, dass derart frei gewordene Plätze auch wieder durch Frauen besetzt werden müssen. Von den 120 Abgeordneten werden 100 nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, 20 sind ausschließlich für die Minderheiten reserviert (davon 10 für die Serben, so dass bei einem hypothetischen Stimmenanteil der einzigen serbischen Koalitions-Partei – „Rückkehr“ – von 10 Prozent sie zum einen alle 10 serbischen Plätze bekäme und 10 Sitze der 100 repräsentativ gewählten; meiner Meinung nach ein guter Minderheitenschutz). Insgesamt träten 26 Parteien und Vereinigungen an. Bewegungsfreiheit für die Serben außerhalb ihrer Enklaven sei nicht gewährleistet.
Um 18 Uhr bei Philipp Watkins, dem stellvertretenden OSZE-Chef, wird diese Einschätzung sofort unterstrichen. Auch in der Wahlkampagne habe es freie Bewegung für die Parteien außerhalb der jeweiligen Siedlungsgebiete nicht gegeben. Das beschlossene Wahlrecht habe sich bewährt und es den Minderheiten erleichtert teilzunehmen. Im gesamten Wahlkampf habe es wenig Zwischenfälle gegeben, zwei Menschen seien in dieser Zeit getötet worden, wobei ein Zusammenhang zum Wahlkampf nicht nachzuweisen sei. Anders als 2000 sei kein Kandidat ermordet worden. (Ich denke bei diesen Worten: Ja, die Situation ist stabiler als bei meinem ersten Besuch im Kosovo, aber wie charakteristisch für die Labilität der Stabilität und den Zustand dieses Landes zweieinhalb Jahre nach Errichtung des UN-Protektorats sind solche Einschätzungen. Die Drangsalierung und Diskriminierung der Albaner ist gestoppt, sonst ist nichts gelöst, im Gegenteil: Nun werden die Serben vertrieben, gefährdet, benachteiligt, und die ethnische Säuberung geht täglich weiter.) 1.250.787 Menschen sind in den Wählerlisten registriert, davon im Kosovo 1.108.787, 105.159 in Serbien und Montenegro, 36.372 außerhalb Jugoslawiens.
45 Minuten später, es ist jetzt dreiviertel sieben, gibt’s die Sicherheitseinweisung durch UNMIK (die UN-Kosovo-Mission). Erneut: „Relativ ruhige Lage“. Ein Journalist in Mitrovica ermordet, ein Bombenanschlag vor zwei Tagen in einem Ort nördlich von Mitrovica. Hauptproblem sei die Situation in Mazedonien. Bewaffnete Gruppen würden aus dem Kosovo dort hingehen und wieder zurückkommen. (Ein bemerkenswertes Eingeständnis! Im Auswärtigen Ausschuss wurde uns sowohl von Außenkommissar Patten als auch von „Mister“ GASP Solana immer wieder erzählt, dass man keine Beweise dafür habe.) Die Unterzeichnung der Verfassungsänderungen in Mazedonien am gestrigen Tage habe aber zu einer Beruhigung geführt (schon wieder dieser Begriff!). Die Abgabe von 3300 Waffen durch die UCK stelle 15 % der Gesamtbewaffnung dieser Gruppe dar! Kommentar für mich selbst: Die NATO nannte ihre Aktion zur „Entwaffnung der UCK“ in Mazedonien: „essential harvest“ (wesentliche Ernte). Das Geld für die UCK komme vor allem von der internationalen albanischen Diaspora und der „albanischen Mafia“. Die serbische Minderheit im Kosovo werde systematisch rausgedrängt (Rückgang auf 50 Prozent). Dann die konkrete Sicherheitsbelehrung: „Achten Sie immer darauf, wo der nächste KFOR-Soldat in ihrer Nähe ist.“ „Vermeiden Sie jede unübersichtliche Situation.“ „Sprechen Sie englisch, nicht albanisch, serbisch oder zum Beispiel russisch.“ „Außerhalb der Straßen kann es Minengefahr geben.“ „Wenn Sie einen albanischen Dolmetscher nach Nord-Mitrovica mitnehmen, gefährden Sie Ihr Leben und das des Dolmetschers. Vor zwei Wochen wurde ein KFOR-Fahrzeug angegriffen, nur weil ein albanischer Dolmetscher dabei war.“ „Unabhängig davon rate ich Ihnen vom Besuch in Nord-Mitrovica ab.“
Abends in unserem gut bewachten Hotel Abendbrot mit einer spanischen, einem italienischen und einem schwedischen Abgeordneten aus der konservativen und der sozialdemokratischen Fraktion. Meine Beobachtungen und Einschätzungen aus den nachmittäglichen Treffen waren offensichtlich den ihren sehr ähnlich.
Sonnabend, 17. November, der Wahltag
Morgens um sechs war Treffen in der Hotellobby. In vier Gruppen sind wir ins Land gefahren. Ich war mit dem holländischen Grünen Jost Lagendijk, einem klugen, sehr kompetenten und angenehmen Menschen, einer Mitarbeiterin des EP, einer albanischen Dolmetscherin (die später aber auch aus dem und in das Serbische übersetzte) und zwei Fahrern unterwegs – einem Albaner für die albanischen, einem serbischen für die serbischen Gebiete; in einer OSZE-Mission wechselten wir sie. Aus irgendeinem Grunde ergab es sich, dass ich den ganzen Tag die Wahlprüfungsprotokolle schreiben und ausfüllen durfte (da wir 14 Wahllokale kontrollierten, waren es dann 14 mehrseitige Berichte). Eigene Notizen konnte ich daher nicht machen, liefere sie hier aus dem Gedächtnis nach. Die Wahllokale öffneten um 7 Uhr. Wir waren in einem serbischen dabei, keine hundert Meter von einem albanischen entfernt. Alle formalen Prozeduren liefen peinlich genau nach dem OSZE-Handbuch und unter Anleitung des OSZE-Supervisors ab. Sieben serbische Männer waren pünktlich da, auch einige einheimische Wahlbeobachter (überhaupt konnten wir im Laufe des Tages überall feststellen, dass albanische und serbische, gelegentlich auch andere Bürgerrechtsorganisationen sowie die Parteien ihr Recht wahrnahmen, die Wahlen von morgens bis abends zu kontrollieren). Nur Wählerinnen und Wähler kamen nicht. Selbst die serbische Wahlkommission wählte nicht. Als wir um 19 Uhr im gleichen Wahllokal zur Stimmauszählung waren, hatten dort tatsächlich nicht mehr als 40 registrierte und etwa die gleiche Zahl nicht dort registrierter Wähler von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Die Möglichkeit, überall, also auch dort zu wählen, wo man nicht registriert ist, wurde eingeführt, weil erstens noch viele administrative Probleme ungeklärt sind, zweitens vor allem Serben offensichtlich fürchten, ihr Wahlrecht im eigenen Dorf wahrzunehmen, wo in nicht wenigen Fällen die Sprecher der serbischen Minderheit die Wahlteilnahme trotz der Belgrader Haltung strikt ablehnen. Die nicht registrierten Wahlscheine wurden dann nachts in eine Zentrale zur Überprüfung gebracht und separat ausgezählt. Vor unserem zweiten, einem albanischen Wahllokal, wie gesagt, in unmittelbarer Nähe, aber zwei Schützenpanzerwagen dazwischen, standen Menschen in einer langen Schlange. Am Abend hatte sich dann jedoch herausgestellt, dass die Wahlbeteiligung diesmal geringer war als bei den Kommunalwahlen 2000. Unsere albanische Dolmetscherin nutzte später in einem anderen serbischen Wahllokal den geringen, das heißt den nicht existenten Andrang, um ihre Stimme hier abzugeben. Man wird sich gewundert haben in diesem serbischen Ort: eine Stimme für eine der verhassten albanischen Parteien.
Unterbrochen von einem Mittagsimbiss, ging es zwölf Stunden durch Pristina, Kosovske Polje und mehrere albanische und serbische Dörfer. Die Bilder glichen sich, die Wahl war durch die OSZE hervorragend organisiert, die Bereitschaft der Serben teilzunehmen, dürfte bei 30 bis 40 Prozent gelegen haben. Als flüchtiger Beobachter hätte ich den Wechsel von einem albanischen in ein serbisches Dorf kaum wahrgenommen, außer an den lateinischen oder kyrillischen Buchstaben über den Geschäften, aber die Panzer, Schützenpanzer und Kontrollpunkte der KFOR rund um jede serbische Enklave waren unübersehbar. Kein Serbe, kein serbisches Wohngebiet oder Dorf vermag gegenwärtig ohne diese Streitmacht seines Lebens sicher zu sein. Ansonsten wurde mein Eindruck vom Frühjahr 2000 bestätigt: Noch nie in meinem Leben habe ich ein Land gesehen, in dem so viele Einfamilienhäuser neu gebaut werden, oft nur im Rohbau, oder mit einzelnen fertigen Zimmern in einem halbfertigen Haus, weil das Geld zum Weiter- und Fertigbauen fehlt, aber frappierend. Die Ruinen des Bürger- und des NATO-Krieges sind aber auch allgegenwärtig, zumal man offensichtlich nicht wieder aufbaut, sondern lieber ein neues Haus zwanzig Meter neben das zerschossene setzt. Die wirtschaftliche und soziale Situation ist nahezu unverändert trostlos (die Arbeitslosenrate liegt über fünfzig Prozent), aber der Wille der Menschen, neu anzufangen, ist offensichtlich groß.
Schon am Morgen hatten Jost und ich entschieden, die Wahlauszählung in jenem serbischen Wahllokal zu beobachten, in dem wir auch am Morgen gewesen waren. Unser Kalkül ging auf: wenige Stimmen, ausnahmslos alle für die serbische Kolation „Rückkehr“. So war der Wahltag für uns schon gegen 21 Uhr zu Ende, während in den albanischen Wahllokalen zum Teil bis nach Mitternacht gezählt wurde. Ich weiß nicht, ob von diesen Wahlen ein positiver Impuls ausgehen wird für den Kosovo, bezweifle vor allem, ob sie das Zusammenleben von Albanern und Serben fördern können. Sie waren wohl notwendig und unvermeidbar, aber die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, zu entscheiden, was nach der NATO-Invasion aus dem Kosovo werden soll, verheißt nichts Gutes.
Sonntag, 18. November
Vormittags hat man uns sinnloserweise 50 Kilometer quer durchs Land zu einer Polizeischule gefahren, in der die gemeinsame Auswertung der Wahlbeobachtungen stattfinden sollte. Fand aber nicht. Immerhin konnte ich meine Eindrücke vom Land wiederholen. Die fernen Berge sind schon schneebedeckt. Überall Baustellen, aber nahezu ausschließlich Einfamlienhäuser, viele Autowaschanlagen (was ich kaum verstehe in diesem Land mit so geringer Kaufkraft), einige hochmoderne Tankstellen (denn Autos gibt es hier mehr als genug), Militärlager der verschiedenen nationalen KFOR-Gruppen, immer wieder, und immer wieder deprimierend Ruinen, ganze Ortsteile, die zerschossen sind, aber viel buntes Leben und Markttreiben in den Städten und großen Dörfern. Ein Großteil des Einkommens der Menschen kommt von Verwandten, die in Deutschland, Frankreich und anderswo arbeiten.
Am frühen Nachmittag dann zum Flugplatz. Ich hatte mich kurzfristig bereiterklärt, an einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses nach Bukarest teilzunehmen und musste mich nun von Pristina 500 Kilometer nach Bukarest durchschlagen. Man sollte meinen, nichts leichter in Europa als das. Aber für die gegenwärtige Situation und die absehbaren Schwierigkeiten auf dem Balkan wohl charakteristisch: Man bot mir an, von Pristina nach Zürich zu fliegen, von dort nach Wien, dann nach Budapest und schließlich nach Bukarest. 14 Stunden sollte das Ganze dauern. Wir fanden dann eine andere Möglichkeit mit einer kleinen, mir unbekannten Fluggesellschaft nach Sofia, Übernachtung dort und am Morgen weiter nach Bukarest. Hätte ich gewusst, was mich erwarten würde, vielleicht hätte ich den Europarundflug über Zürich doch vorgezogen.
Auf dem Flugplatz war nichts von meiner Maschine zu lesen. Als ich mich verunsichert erkundigte: „Ach, Sie wollen auch nach Sofia? Dann aber schnell.“ Warum es so schnell gehen sollte, war mir nicht klar, denn immerhin hatte ich nach Flugplan noch mehr als eine Stunde Zeit. Ich bekam ein Stück Pappe mit der handgeschriebenen Zahl „5“, meine Bordkarte und, wie ich annahm, meine Sitznummer. Der Sicherheitscheck auf diesem von Militär wimmelnden KFOR-Flugplatz verdiente seinen Namen nicht (seit zwanzig Jahren habe ich das nicht mehr erlebt, selbst nicht auf früheren US-Inlandsflügen). In Windeseile war ich auf dem Rollfeld. Alle anderen Passagiere saßen schon im Flugzeug. Die „5“ war auch kein Sitzplatz, ich war der fünfte und letzte Passagier, und der Pilot wollte rasch nach Hause. 45 Minuten vor der planmäßigen Zeit hoben wir ab. Die kleine Maschine muss vor 1990 ein bulgarisches Regierungsflugzeug gewesen sein. Im holzgetäfelten Salon standen zwei riesige, mit hellem Leder bezogene Sessel einander gegenüber. An der anderen Seite eine ebensolche Couch, längsgestellt natürlich. Dort fand ich noch einen Platz. Mag sein, dass die Schilderung verlockend klingt, nur: Der Luxus war mehr als zehn Jahre alt, zumindest seit zehn Jahren ungepflegt. Das Leder müsste ich ehrlicherweise als ehemals helles Leder bezeichnen. In der Wand saß ein großes altes Fernsehgerät, das während des Fluges leider mit einer Videokassette in Gang gebracht wurde, die in einem Gebiet mit sehr schlechtem Empfang bespielt worden sein musste, aber dem Gerät auch nicht nur optisch, sondern auch akustisch das Letzte abverlangte. Zum Glück waren die Fluggeräusche so groß, dass die Störung sich in Grenzen hielt. Die arme Stewardess schrie uns alles zu, was auch bei anderen Flügen vom Kabinenpersonal gesagt werden muss: Anschnallen (was aber auf der Couch nicht ging), Notausgänge usw. Jedenfalls nehme ich’s an. Zu verstehen war nichts. Sie tat mir leid. Ich hatte das Gefühl von morbidem Verfall. Dass ich diesem Flugzeug, das so erkennbar ungepflegt und heruntergekommen war, ausgeliefert war, machte mich etwas unruhig. Aber es war zu spät. Und als ich mich dafür entschied und trotz des eigenartigen Gemischs von Musikfetzen und Propellerlärm fähig wurde, das Drumherum zu ignorieren und aus dem Fenster zu sehen, wurde ich mit den Bildern schroffer Gebirge nicht weit unter uns mehr als entschädigt.
In Sofia war ich nur zweimal in den späten achtziger Jahren gewesen, bei Freunden, deren Gastfreundschaft nicht zu überbieten war, die mich vielleicht auch nicht allzu sensibel auf die Probleme der bulgarischen Gesellschaft blicken ließ. Doch was ich heute bei meiner Ankunft im Parkhotel Moskwa spüre, erlebe, sehe, mag nicht charakteristisch für die heutige Situation sein (das Gegenteil kann ich aber auch nicht behaupten), doch mir war elend zu Mute. In diesem riesigen, neunzehnstöckigen Hotel werden ganze zehn oder zwanzig Gäste abgestiegen sein. Mein Zimmer ist bestimmt vierzig Quadratmeter groß. Die Möbel, Vorhänge, Lampen müssen einmal etwas wirklich Besonderes gewesen sein. Jetzt ist ihr Zustand nicht viel anders als der des Flugzeuges, mit dem ich gerade angekommen bin. Die meisten Restaurants, in die man vor fünfzehn oder zwölf Jahren nur mit Beziehungen gekommen sein wird, sind geschlossen, verrammelt und vergammelt. Das Panoramarestaurant im 19. Stock hat ab 19 Uhr geöffnet. Zweihundert Plätze an weiß gedeckten Tischen, vier, fünf Kellner in Sichtweite. Ein einziger Gast. Ich. Selten in meinem Leben war ich so einsam, niedergeschlagen. Wieder konnte ich nicht anders als meine Umgebung mit dem Wort „morbid“ zu definieren. Weiß nicht, warum mir das weh tut, zumal ich mich gut erinnere, dass ich damals auch nur über meine hochgestellten Freunde in solche Einrichtungen hineingekommen war. Im Fernsehen bekomme ich den überraschenden Wahlsieg des sozialistischen („postkommunistischen“) Präsidentschaftskandidaten mit. Eine skurrile Situation. Innerhalb von vier Monaten haben sich die Bulgaren einen ehemaligen König zum Ministerpräsidenten und einen ehemaligen Kommunisten zu dessen und ihrer aller Präsidenten gewählt. Nichts ist unmöglich.
Montag, 19. November
Nun bin ich nicht mehr einsam, auch nicht allein. Auf dem Bukarester Flugplatz werde ich förmlich empfangen und im schwarzen Auto zu meinen bereits angereisten Kolleginnen und Kollegen ins Parlament gebracht. Wir sind vier, ein Grieche, ein Italiener, „meine“ 1. Vizevorsitzende des Ausschusses, Baroness Nicholson of Winterbourne, und ich. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Rumänien. Keine Ahnung, warum ich früher nie hierher gelangt bin, außer dass es mich in den letzten zehn Jahren der Ceaucescu-Herrschaft auch nicht reizte, nach Rumänien zu fahren.
Ja, das rumänische Parlament. Caucescus größter Prachtbau. Das zweitgrößte Gebäude der Welt, das größte Europas. Bei aller Abneigung der Rumänen gegenüber Ceaucescu, der Stolz ist doch nicht zu überhören. Architektonisch nach meinem Empfinden eine Katastrophe, handwerklich eine großartige Leistung. Wunderbar, reich und protzig sind Marmor und Holz verbaut. Man darf nur nicht, nein, man muss daran denken, dass mit diesen Bauten (denn es gibt viele davon in Bukarest) und vor allem mit dieser Politik das Land zugrunde gerichtet wurde. Nun aber sehe ich mich erst einmal staunend und von den Dimensionen der Säle erschlagen um. Es wird nicht viele Beispiele für solche handwerkliche Kunstfertigkeit von Mauern, Tischlern, Steinmetzen, Stukkateuren im industriellen 20. Jahrhundert geben. Kaum vorstellbar, wie dieses arme Land diese Gebäude unterhalten, ja nur die Heizungs- und Energiekosten für diese Monumente aufbringen kann. Einige der Riesenbauten stehen seit 1989 als halbfertige Ruinen an den repräsentativen Boulevards und Plätzen der Stadt. Nicht einmal die Kräne wurden demontiert. Sie rosten und rotten vor sich hin. Die Kaffeesahne zum obligatorischen Kaffee kommt aus Deutschland. Kein Kommentar.
Heute geht es hochoffiziell und wirklich im Stundentakt von einem Treffen zum anderen: Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung des rumänischen Parlaments; Verteidigungsminister Mircea Pascu; Außenminister Mircea Geoana; Innenminister Ioan Rus; Justizministerin Rodica Stanoviu; Minister für europäische Integration Vasile Puscas; schließlich noch ein Abendessen, das der Ministerpräsident Adrian Nastase im berühmten Restaurant Caspa für uns „schmeißt“. Vom späten 19. Jahrhundert bis zum zweiten Weltkrieg war es der Treffpunkt der rumänischen Intelligenz. Die Informationen und Erklärungen an diesem Tag wiederholen sich einmal, dreimal, zehnmal. Rumänien will in die NATO und die EU, beteiligt sich aktiv und „vorbehaltlos“ an der „Antiterror“-Koalition, stellt 5 Infanteriebataillone und eine Kompanie Fallschirmjäger für die EU-Eingreiftruppe, passt sein Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechtssystem an die EU-Vorschriften an.
Beim Abendessen ist Ion Tiriac dabei, der ehemalige Manager Boris Beckers, ehrlich, aber nicht uneigennützig wirtschaftlich aktiv in seiner Heimat. Als ich ihn frage, warum er, ein Kosmopolit, sich unter so schwierigen Bedingungen in Rumänien engagiert, meint er, dass es seine Heimat sei, vor allem aber, dass man sicherlich nicht kurzfristig, aber schon mittelfristig Geld machen könne mit Investitionen in diesem Land. Die neue, sozialdemokratische Regierung lobt er. Eigentlich sei ihm die politische Richtung egal, aber nun gebe es endlich wieder Stabilität und Fortschritte.
Dienstag, 20. November
Um halb neun sind wir erneut beim Ministerpräsidenten, einem sympathisch und zupackend wirkenden Mann. 2,2 Prozent seines Haushaltes (mehr als eine Milliarde Dollar) gibt dieses bitterarme Land für das Militär aus. Man will unbedingt in die NATO. Dann schlägt er uns vor, unser Programm umzuschmeißen und an der Wiedereröffnung der 1989 zerschossenen Universitätsbibliothek teilzunehmen. Die ist mit finanzieller Unterstützung der EU hochmodern, wirklich einladend geworden. Bevor der rumänische Präsident, Ion Ilescu, und der Rektor sprechen, wird sie vom orthodoxen Erzbischof und zwei weiteren Priestern geweiht. Sie singen, beten, predigen, jede Geste ist vorbestimmt. Eine eindrucksvolle, aber fremde Welt, für mich sowieso, aber auch in diesem hightech-Umfeld (oder doch nicht?).
Eine Stunde später sind wir bei der rumänischen Kinderschutzagentur. Unsere Baroness, die auch die Berichterstatterin des Parlaments für den Beitritt Rumäniens zur EU ist, setzt sich seit langem leidenschaftlich für die Verbesserung der Situation von Waisenkindern in Rumänien ein. Ich beginne, ihr Engagement zu begreifen. Inzwischen wird relativ viel getan, aber beim späteren Besuch des Ecaterina Instituts, einem Bukarester Kinderheim, wird mir mulmig. Dass die Bedingungen zum Teil befremdlich sind – lange Glaskästen, in denen zehn, zwölf Kinder schlafen, manche heruntergewirtschaftete Etage in den Gebäuden – ist nicht das Problem. Auch wenn mein Eindruck sehr oberflächlich ist, ahne ich doch etwas von den vielen und enormen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten des Landes. Außerdem gibt es auch schöne Spielzimmer (allerdings mehrfach saßen die Kinder mit ihren Erzieherinnen gemeinsam vor dem Fernseher). Ich fühle mich bei solchen Besuchen unwohl. Menschen besichtigend. Nicht mein Fall. Aber ein kleines Mädchen wollte auf meinen Arm und küsste mich spontan. War doch anrührend.
Die Baroness beharrte aber immer wieder darauf, ein bestimmtes Gebäude zu besichtigen. Offensichtlich war es unseren Begleitern nicht recht, aber sie hatten keine Chance. Dort war alles vom Feinsten, westeuropäischer Standard. Ich muss wohl vorsichtig sein mit meiner Einschätzung, aber ich bin empört, aufgeregt, ratlos über das, was wir sahen, erfuhren. Eine US-amerikanische/kanadische Forschungsgruppe hat dort ihr Domizil. Ihr Forschungsziel ist der Nachweis, dass Kinder in Familien sich psychisch, geistig und körperlich besser und schneller entwickeln als andere Kinder. Mit Spielzeug, akustischen oder optischen Eindrücken (Fernsehen) werden die Kinder angeregt. Sie sind dazu allein in einem Raum oder in Kabinen. Mikrofone, Kameras nehmen alles auf, gleichzeitig werden die Gehirnströme gemessen. Babys ab 7 Monate wird dazu eine Kappe mit fünfzehn oder zwanzig Messstellen aufgesetzt. Angeblich stimmen Eltern oder die zuständigen staatlichen Stellen zu, der Datenschutz sei gewährleistet, alles werde nur für Forschungszwecke in den USA und Kanada genutzt, nichts von diesen individuellen Aufnahmen komme in die Öffentlichkeit, heute nicht, auch nicht in Zukunft. Ich frage mich, warum, wenn es denn so harmlos ist, sie ihre Forschung nicht an amerikanischen Kindern und Babys betreiben. Die Baroness sieht es ebenso, die anderen aus unserer Gruppe aber sind beeindruckt.
Durch die Bibliothekseröffnung sind wir im Zeitverzug. Es geht mit Blaulicht vorbei am Botanischen Garten zum Präsidentenpalast, der ursprünglich dem Prinzen der Walachei als Sitz gedient hatte. Die Informationen sind kurz, der Blick noch kürzer. Bei der Einfahrt in den Hof und beim Aussteigen kann ich einen kurzen Moment lang seine Architektur aus dem 18. Jahrhundert, für mich ein Gemisch aus Osteuropa, Osmanischem Reich und ein wenig Wien, erfassen. Pünktlich um 13 Uhr sind wir beim Präsidenten Ion Ilescu. Er macht auf mich einen angenehmen, nachdenklichen und ausgesprochen aufmerksamen Eindruck, aufmerksam auch für den Einzelnen, obwohl er sicherlich schon fünf, sechs solche Termine wie den mit uns hinter sich hat. Er spricht über die wirtschaftliche Situation und ausführlich über Kultur, Bildung und Wissenschaft: „Ökonomie ist die Basis der Gemeinschaft, Kultur ist die Frage des Dialogs und der Verschiedenheit.“ Das Bruttossozialprodukt pro Kopf beträgt 2001 70 Prozent des Wertes von 1989. „Die Menschen wollten mit Leidenschaft das Ceaucescu-Regime weg. Aber nicht die sozialen Standards, die es damals gab.“ Ilescu verteidigt vor allem die sozialen Errungenschaften im Bildungsbereich: „Das Regime nach 1945 wies auch positive Seiten auf – freie Bildung, soziale Gleichheit in der Bildung. Das muss erhalten bleiben. Ich gehörte nicht nur zur ersten Generation in meiner Familie, die die Universität absolviert hat, sondern sogar zur ersten, die überhaupt die Oberschule besuchte.“ Probleme aber gehen weiter: Gut ausgebildete rumänische IT-Leute gehen ins Ausland. „Es ist besser Produkte des Intellekts exportieren zu können als diese Menschen selbst.“
Nächster Termin: 14:15 Besuch einer IT-Schule, die bereits seit zwanzig Jahren besteht. Hier werden an einem Gynasium und Internat Schülerinnen und Schüler in Elektronik, Programmiersprachen, Comupterdesign usw., aber auch intensiv in Fremdsprachen ausgebildet. Das sind sie, von denen Ilescu gesprochen hatte, die in den USA und in Frankreich umworben sind. Sie begrüßen uns förmlich, aber doch offenkundig auch herzlich, alle in einer Schuluniform, zu der glücklicherweise aber auch ein Sweatshirt gehört. Wir werden (der Zeitverzug wird immer größer) durch die Schule gejagt. Ich bleibe aber bei Schülerinnen und Schülern hängen, die sich so freuen, mir ihre Arbeitsergebnisse vorzuführen (eine homepage für ein spanisch-französisches Schulprojekt im Baskenland; eine CD-Rom über Architektur, Museen, Theater, Geschichte Bukarests) , dass ich gar nicht anders kann als den Anschluss zu verlieren. Wir tauschen Adressen aus und ich überlege, ob ich mir nicht hier meine eigene homepage professionell gestalten lassen könnte. Trotz der Schul-Uniformen bin ich beeindruckt. Wäre ein solches IT-Gymnasium nicht auch etwas für Mecklenburg-Vorpommern?
Draußen wartet man schon auf mich. Dieser Termin hat leider nur 25 Minuten gedauert. Um drei werden wir von Unternehmern, darunter wieder Ion Tiriac, der auch der Wortführer ist, zum Essen erwartet. Das zieht sich wieder in die Länge. Die Gespräche sind interessant, aber ich wäre gern länger in der Schule gewesen. Ion Tiriac, was soll man dazu sagen, organisiert uns eine Blaulichtbegleitung. Anders hätten wir keine Chance mehr gehabt, pünktlich zum Flugplatz zu kommen. Während wir im Restaurant saßen, ist Bukarest im dichten Schneefall in eine winterliche Stadt verwandelt worden. Eine Vorahnung auf Weihnachten. Hier hätte ich sie nicht erwartet. Über Wien geht es nach Brüssel. Nach Mitternacht bin ich zu Hause. Die Alltagsarbeit kann weiter gehen.