Was ist eigentlich Europa?

Diese Frage wird mir häufig gestellt. Auch mich hat sie beschäftigt, insbesondere als ich mich entschloss, für das Europäische Parlament zu kandidieren. Und sie beschäftigt mich noch heute. Denn es gibt auf die Frage nach Europa keine einfachen Antworten.

Einfach ist lediglich die Antwort auf die Frage, woher der Name Europa kommt. Dieser stammt aus der griechischen Sage. In ihr war Europa die Tochter des phönizischen Königs Agenor und die Geliebte des Zeus, der sie in Gestalt eines Stiers nach Kreta entführte. Also hat Europa (so meine Behauptung) etwas mit Landwirtschaft, der Mutter aller Entwicklung, zu tun. Denn der Stier, auf dem Europa ritt, war nach meiner aufgeklärten Version der Sage wohl eher ein wilder als ein göttlicher gewesen. Und ohne wilden Stier würde es heute keine domestizierten Rinder geben. Somit ist der Stier ein würdiges Symbol für Europa, zumal er noch garantiert BSE-frei gewesen sein dürfte.
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Aber zurück vom Unernsten in die Ernsthaftigkeit der Wirklichkeit. Hier hat die Antwort nach Europa verschiedene Dimensionen.
Zunächst ist Europa – geografisch gesehen – ein Erdteil, und zwar der zweitkleinste nach Australien. Dabei ist seine Identität keineswegs eindeutig, denn Europa ist das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse, hängt also Asien als Halbinsel an. Europa erstreckt sich vom Atlantischen Ozean im Westen zum Ural im Osten, und vom Mittelmeer im Süden bis zum Nordmeer. Die Geologen fanden heraus, dass der eurasische Kontinent auf verschiedenen Platten ruht, die am Ural zusammenstoßen und dieses Gebirge so zur Grenze zwischen Europa und Asien machen. Nur war Europa bereits vor dieser geologischen Entdeckung präsent. Folglich gibt es neben der geografisch-geologischen Definition auch andere Definitionen, insbesondere historische, kulturelle, politische.
Das gemeinsame Fundament Europas liegt zweifellos in der Ideenwelt der Antike und des Christentums, im Mittelalter, in Renaissance und Humanismus, in Reformation und Gegenreformation, in der Aufklärung und in Europas großen Revolutionen. Europa hat eine lange Geschichte kultureller und wirtschaftlicher Errungenschaften, die bis in das Bronzezeitalter zurückgeht. Jahrhunderte lang galt Europa als Mittelpunkt der Welt. Seit dem 15. Jahrhundert bauten europäische Nationen (besonders Spanien, Portugal, Frankreich und das Vereinigte Königreich) große koloniale Imperien mit großen Besitztümern in Afrika, Amerika und Asien. Die Industrialisierung begann im 18. Jahrhundert. Nach dem 2. Weltkrieg und im Kalten Krieg wurde Europa in zwei große politisch-ökonomische Blöcke geteilt. Wir hatten einen „eisernen Vorhang“. Um 1990 brach der sozialistische Ostblock auf – und zerbrach an diesem Aufbruch.
Der größte Teil der europäischen Geschichte war eine gewalttätige Geschichte von Rivalität und Krieg der verschiedenen Mächte und Staaten. Wiederholt wurden ihre Grenzen verschoben, einige Staaten verschwanden von der europäischen Landkarte, andere bildeten sich neu. Mit dem Ende des kalten Krieges hat sich die politische Geografie Europas erneut verändert. Die einstigen Sowjetrepubliken wurden zu selbstständigen Staaten. Tschechien und die Slowakei trennten sich. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien begann zu zerfallen; nicht mehr für möglich gehaltene Kriege überzogen den Balkan. Allein in den letzten zwei Jahrhunderten gab es fast vierzig Jahre Krieg mit all dem Leid, was das Völkermorden mit sich bringt.
Wenn von Europa die Rede ist, dann sollte es vor allem um die 670 Millionen Europäer gehen, die in heute 44 Staaten (gegenüber 35 zur Zeit der Blockkonfrontation) leben und 120 verschiedene Sprachen sprechen. Europa ist zugleich der Kontinent mit der größten Siedlungsdichte. Da sind – wie im persönlichen Zusammenleben – gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme unerlässlich. Deshalb ist das wohl wichtigste Gebot europäischer Politik, die Vielfalt der nationalen und regionalen Identitäten als Grundlage der europäischen Zusammenarbeit zu achten, zu erhalten und zu fördern. Die Politik hat darauf hinzuwirken, dass europäische Identität und nationale Identität nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung erlebt werden können.
Auch wenn heute die Grenzen sehr, sehr viel durchlässiger geworden sind und auf diese Weise sowohl gesellschaftlicher wie auch ökonomischer Austausch und auch nachbarschaftlicher Kontakt, z. B. zwischen Deutschen, Österreichern und Polen, Tschechen, möglich wurde, bleibt noch viel zu tun. Insbesondere weil die Geschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem der zweite Weltkrieg und die Nachkriegsentwicklung im kollektiven Bewusstsein der Völker feste Vorurteile übereinander verankert haben. Nur durch das Wissen voneinander, durch Begegnungen miteinander, durch Erzählen auch der Lebensgeschichten, in der Auseinandersetzung mit Lebenslügen und Feindbildern sowie Verletzungen und Verletzbarkeiten, können Vorurteile überwunden und Vertrauen geschaffen werden.
Im europäischen Integrationsprozess, konkret mit der Ost-Erweiterung der Europäischen Union, entsteht auch eine neue Zentrierung, die den Ländern in der Mitte Europas eine neue Verantwortung aufbürdet. Auf diese Rolle ist keines der Länder vorbereitet, auch Deutschland nicht. Auf einen Nenner gebracht: Das Ende alter Gewissheiten erfordert neue Sicherheiten im Umgang miteinander, nicht gegeneinander.
All das und noch viel mehr geht mir durch den Kopf, wenn ich an Europa denke. Europa ist eben weit mehr als das Europa der Europäischen Union. Deshalb stört mich auch der von der EU – wenn auch nur im Sprachgebrauch – praktizierte „Alleinvertretungsanspruch“. Zumal Sprache verräterisch sein kann. So wird die EU – als sei das selbstverständlich – mit Europa gleichgesetzt. Vom europäischen Binnenmarkt ist die Rede, obwohl dieser nur der gemeinsame Markt der 15 EU-Mitgliedsländer und keineswegs der aller 44 europäischen Staaten ist. Auch das Parlament, dem ich angehöre, hat sich den Namen Europäisches Parlament gegeben. Und wir haben eine Europafahne und Europahymne. Nun könnte man das entschuldigen, da dahinter ja die große Idee von der Einigung Europas steht. Allerdings ist auch diese kritisch zu hinterfragen. So geht es – wie bei der bevorstehenden „Ost-Erweiterung“ der EU – immer um Beitritte zu einem Staatenblock, um die Übernahme seiner Spielregeln, um das Formen der Beitrittsländer nach dem westlichen Modell. Die fortschreitende Europäisierung wird von den vermeintlichen Siegern der Geschichte geprägt. Da darf es nicht verwundern, dass manche östlich von Oder und Neiße die so genannte Ost-Erweiterung der EU als eine Art von moderner Kolonialisierung empfinden. Auch weil es manchen politischen Akteuren an der erforderlichen Sensibilität fehlt. Es sollte nicht vergessen werden, dass den mittel- und osteuropäischen Ländern das größte Verdienst an der Beendigung des kalten Krieges zukommt.
Trotzdem bleibt festzustellen: Im konkreten historischen Kontext war, ist und bleibt die EU seit ihrer Geburt als Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1957 (damals waren es mit Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden sechs Mitgliedsstaaten) der Motor der europäischen Einigung. Es gibt zu dieser EU keine reale Alternative. Vielmehr gilt es sie als Chance zu begreifen und entschlossen zu nutzen. Das heißt vor allem die EU im Spannungsfeld von Globalisierung und nationalstaatlicher Autonomie politisch zu reformieren, die Rolle von ökonomischer Macht neu zu bestimmen, das soziale Europa zu stärken und das zu schaffende Europäische Haus nicht zu einer Festung Europa auszubauen.
Abschließend hoffe ich, dass meine Antwort auf die Frage, was eigentlich Europa ist, Ihnen nicht als allzu zu weit herbei geholt erscheint. Auf jedem Fall sollte man, wenn man an Europa denkt, an mehr denken, als an Brüsseler Bürokratie, an Subventionsskandale, an Milchquoten, an genormte Traktorensitze und viele andere Ärgernisse mehr. Deshalb wollte ich mit meiner Antwort dreierlei verdeutlichen: Erstens baut die Zukunft Europas auf seiner Geschichte auf. Zweitens ist die Geschichte von morgen die Politik, das Leben von heute. Drittens ist es an der Zeit, den eigentlichen Akteuren der Geschichte, den einfachen Menschen, die Rolle zukommen zu lassen, die ihnen gebührt!
Europäische Agrarpolitik im Wandel
Artikel von MdEP Christel Fiebiger, Februar 2002

Quelle:
Brüsseler Spitzen – Halbzeitbilanz