Die historische Chance nutzen – Erweiterung fair und sozial gestalten

Zu den ersten Ergebnissen der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann im Namen der PDS-Abgeordneten im Europäischen Parlament:

Zu den ersten Ergebnissen der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann im Namen der PDS-Abgeordneten im Europäischen Parlament:

Die historische Chance nutzen – Erweiterung fair und sozial gestalten

Der für 2004 beschlossene Beitritt von acht mittel- und osteuropäischen Staaten sowie Maltas und Zyperns zur Europäischen Union ist in der Tat ein historisches Ereignis für die Menschen in Europa. 57 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dreizehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist klar, dass die politische Ost-West-Teilung des europäischen Kontinents schon bald endgültig der Geschichte angehören wird und die Europäische Union, die bislang nur den westlichen Teil Europas umfasste, auch ihrem Namen wirklich gerecht wird. Die Erweiterung der EU ist eine große Chance, denn erstmals in der europäischen Geschichte besteht die begründete Hoffnung auf eine langfristige und friedliche gemeinsame Entwicklung der Staaten Europas. Vor allem aber ist die Erweiterung sowohl für die alten als auch für die neuen Mitgliedstaaten, für die Völker und für die einzelnen Bürgerinnen und Bürgern eine enorme politische, wirtschaftliche, soziale, ökologische und interkulturelle Herausforderung. Sie eröffnet nicht zuletzt demokratische Entwicklungsmöglichkeiten, deren Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

Die PDS-Gruppe im Europaparlament begrüßt, dass der Europäische Rat der Türkei eine konkrete Beitrittsperspektive eröffnet hat. Die Türkei hat mit den jüngsten Verfassungsänderungen wichtige Schritte zur Stärkung der Grund- und Bürgerrechte unternommen. Zahlreiche Probleme sind jedoch nach wie vor ungelöst, insbesondere die vollständige Gleichberechtigung der kurdischen Bevölkerung, die Unterbindung von Folter und Grundrechtsverletzungen durch Polizei und Armee, die vollständige Durchsetzung demokratischer Rechte und Strukturen sowie die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern. Die Erfüllung der Kriterien von Kopenhagen sind der Maßstab für die Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen. Wir erwarten, dass die Türkei die mit den Entscheidungen von Kopenhagen verbundene Chance für weitere Reformen nutzt, so dass die EU 2004 eine positive Bilanz ziehen kann.

Die PDS-Gruppe im Europaparlament begrüßt und unterstützt die Erweiterung der Europäischen Union. Sie ist jedoch zugleich der Auffassung, dass noch eine Reihe gravierender Probleme zu lösen sind:

1. Die Erweiterung der EU wurde bislang als vorrangig marktorientiertes Projekt konzipiert und realisiert. Weitgehend unberücksichtigt blieb bislang, dass die Transformationsprozesse in den Beitrittsländern mit schwerwiegenden sozialen Konsequenzen verbunden sind. Ebenso unberücksichtigt bleibt, dass die neoliberale Politik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union selbst zu hoher Arbeitslosigkeit und einem massiven Abbau der sozialen Sicherungssysteme geführt hat. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, endlich Initiativen zur Bewältigung der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Herausforderungen in der erweiterten Europäischen Union zu ergreifen. Ein Wachstumsprogramm für benachteiligte Gebiete wird die ökologische und soziale Angleichung in der gesamten erweiterten Gemeinschaft stärken.

2. Wir kritisieren, dass, anders als bei früheren Erweiterungen der Europäischen Union, die Gleichberechtigung der künftigen Mitgliedstaaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht vollständig gewährleistet ist. Insbesondere die Vorenthaltung der vollen Agrarzuschüsse für die nächsten Jahre wird in Ländern wie Polen und der Tschechischen Republik zu weiteren sozialen Verwerfungen führen. Auf die Tagesordnung gehört daher eine umfassende Reform der EU-Agrarpolitik, damit die historische Chance, mit der Erweiterung in Europa zu mehr Gerechtigkeit und Stabilität zu gelangen, nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird.

3. Wir kritisieren, dass das Prinzip der Solidarität bei der Erweiterung nicht genügend beachtet wurde. Bei früheren Erweiterungsrunden wurden deutlich großzügigere Übergangsbeihilfen gewährt. Lediglich 0,14 Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes sind bislang für diese Erweiterung eingeplant. Auch die Erhöhung der finanziellen Hilfen für die Beitrittskandidaten auf 40,4 Milliarden Euro ändert nichts an der sozialen Schieflage der Erweiterung. Es muss daran erinnert werden, dass von der Erweiterung in erster Linie die Wirtschaft der derzeitigen EU-Mitgliedstaaten profitiert. Allein für Deutschland werden im laufenden Jahr Exportsteigerungen von über zehn Prozent prognostiziert. Wir sind deshalb der Auffassung, dass diejenigen, die von der Erweiterung profitieren, auch einen adäquaten Anteil an deren Finanzierung zu leisten haben.

4. Wir bedauern, dass verschiedene Vorschläge für besondere Anstrengungen in den Grenzregionen noch nicht aufgegriffen wurden. Bislang wurde von den verantwortlichen Regierungen und der Europäischen Kommission viel zu wenig getan, um die notwendigen Anpassungsprozesse rechtzeitig zu unterstützen. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesbezüglich auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene umgehend aktiv zu werden, damit die heutigen Grenzregionen zusätzliche Unterstützung erhalten.

Die PDS-Gruppe im Europaparlament erwartet vor dem Hintergrund der Entscheidungen von Kopenhagen, dass der Europäische Konvent seine Arbeiten an dem europäischen Verfassungsvertrag zügig fortsetzt und Mitte nächsten Jahres zukunftsweisende Vorschläge unterbreitet, die die politische, wirtschaftliche und soziale Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union sichert.

Brüssel, den 13.12.2002