Vorentwurf des Verfassungsvertrages ist glücklicherweise nur ein Vor-Entwurf

Der gestern vorgelegte Strukturvorschlag für einen europäischen Verfassungsvertrag zielt insofern in die richtige Richtung, als aus dem komplizierten europäischen Vertragswerk ein klar gegliederter, besser verständlicher und einheitlicher Vertragstext entstehen soll. Unterstützenswert ist das Ziel, die EU-Charta der Grundrechte in den Verfassungsteil des Vertrages aufzunehmen. Zu begrüßen ist ebenso, dass die unübersichtliche Pfeilerstruktur der Europäischen Union aufgehoben und damit der EU eine eigene Rechtspersönlichkeit verliehen werden soll.

Der Text offenbart aber zugleich, wie viele offene und schwierige Fragen der Konvent bis zur Fertigstellung des Verfassungstextes noch zu klären hat. Glücklicherweise stellt das Dokument nicht mehr als einen Vor-Entwurf dar, der zweifellos in zentralen inhaltlichen Fragen noch stark verändert werden muss.

So wird Giscards Idee, einen „Kongress der Völker Europas“ zu schaffen (Artikel 19), von der Mehrheit der Konventsmitglieder nicht unterstützt. Dies haben die bisherigen Debatten eindeutig gezeigt. Europa braucht keine neuen Institutionen – schon gar nicht einen „Volkskongress“ nach chinesischem Vorbild. Die erforderliche Demokratisierung der EU bedarf vielmehr in erster Linie einer deutlichen Stärkung des Europäischen Parlaments als der einzigen demokratisch gewählten EU-Institution sowie eines ausgewogenen Gleichgewichts zwischen den bestehenden EU-Institutionen.

Keinerlei Verständnis kann ich dafür aufbringen, wie stiefväterlich der Präsident einmal mehr das von zahlreichen Konventsmitgliedern geforderte „Soziale Europa“ behandelt: Bei der Aufzählung der gemeinsamen europäischen Werte (Teil 1, Kapitel 2) fällt etwa das Stichwort „Solidarität“ völlig unter den Tisch. Offensichtlich ist dem Schöpfer des Vor-Entwurfs entgangen, dass die Solidarität zwischen den Staaten und Völkern ein Gründungsprinzip der Europäischen Union war und ist. Wenn man zudem noch feststellen muss, dass in Giscards Aufzählung der Ziele der Europäischen Union ausgerechnet die in Artikel 2 EG-Vertrag verankerten Ziele „Gleichstellung von Männern und Frauen“, „Verbesserung der Umweltqualität“, „Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität“ sowie „nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens“ überhaupt nicht genannt werden, dann fällt es schwer, hier noch an einen Zufall zu glauben.

Befremdlich ist schliesslich auch Giscards Formulierung, dass „Unionsbürger entsprechend ihrer Staatsangehörigkeit nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen“ (Erläuterungen zu Artikel 5). Ein Blick des Präsidenten in den EG-Vertrag, der in Artikel 12 unmissverständlich ein „Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ für jedermann festschreibt, hätte verhindern können, dass der Vor-Entwurf den fatalen Eindruck erweckt, dass durch den Verfassungsvertrag längst erreichte Standards des Grundrechtsschutzes in Frage gestellt werden könnten.