Giscard d’Estaing brüskiert Europäischen Konvent

Zum Vorschlag von Valery Giscard d’Estaing, Präsident des Europäischen Konvents, einen ‚Europäischen Volkskongress‘ für die Europäische Union einzurichten, erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Mitglied des Europäischen Konvents, Berlin, 23.07.2002:

In der französischen Tageszeitung „Le Monde“ vom 22. Juli kündigt Giscard d’Estaing an, er werde dem Konvent nach der
Sommerpause die Einrichtung eines neuen Forums aus nationalen und Europaabgeordneten vorschlagen. Dieser so genannte
Europäische Volkskongress solle keine Legislativbefugnisse haben, eventuell ein Mal im Jahr tagen, um sich „Berichte“ des EU-Rats-
und EU-Kommissionspräsidenten anzuhören, und Nominierungen „gewisser Funktionen“ vorzunehmen. Auch Diskussionen über
Fragen der EU-Kompetenzen oder der Erweiterung seien denkbar, heißt es weiter nebulös.

Einmal abgesehen davon, dass es für die dringend notwendige Demokratisierung der EU keiner neuen Institutionen bedarf, um sie für
die Zukunft auch effizient und handlungsfähig zu machen, wiederspiegelt der Vorschlag von Giscard d’Estaing, gelinde gesagt, schon
ein höchst merkwürdiges Demokratieverständnis. Wie man ernsthaft auf die Idee kommen kann, fast tausend Abgeordnete des
Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente aller EU-Mitgliedstaaten würden sich dazu hergeben, ein Mal jährlich als
applaudierende Legitimationskulisse Europas zu fungieren, erschließt sich mir beim besten Willen nicht.

Der Vorschlag von Giscard d’Estaing, der nicht dem Plenum des Konvents, sondern den Konventsmitgliedern via Presse in der
Sommerpause „vorgelegt“ wurde, offenbart erneut, dass der Präsident fünf Monate nach Beginn der Arbeit des Konvents offenbar noch
immer glaubt, nach der Methode „La Convention, c’est moi!“ agieren zu können. Ich bin überzeugt, die große Mehrheit der
Konventsmitglieder wird diesen Überraschungscoup, der eindeutig auf eine Entmachtung des mehrheitlich aus Abgeordneten
bestehenden Konvents abzielt, zurückweisen. Nach der Sommerpause muss ein für alle mal klargestellt werden, dass Giscard
d’Estaing nicht der Vormund des Konvents ist, der wie ein Fürst über allem thront, sondern als sein Präsident die Aufgabe hat, den
Konvent zu leiten und dessen Positionen in der Öffentlichkeit zu vertreten.