Der Konvent soll den Weg der EU in die Zukunft ebnen und ihr eine Verfassung geben
Erklärung von Sylvia-Yvonne Kaufmann zur Konstituierung des Konvents der Europäischen Union am 28. Februar 2002
Am Vorabend der Aufnahme der ost-, mittel- und südeuropäischen Staaten befindet sich die Europäische Union in einer komplexen
Vertrauenskrise. Einerseits wächst aufgrund zunehmender Demokratiedefizite die Kluft zwischen dem „fernen Europa“ und seinen
Bürgerinnen und Bürgern. Auf der anderen Seite nehmen Tendenzen in einigen Mitgliedstaaten zu, den derzeitigen Besitzstand der
Union durch unterschiedliche Renationalisierungsforderungen zurückzubauen. Der soziale Zusammenhalt der Gemeinschaft ist
ernsthaft gefährdet. Anstelle die Integration zu vertiefen und weitere Politikbereiche zu vergemeinschaften, wird auf stärkere
Regierungszusammenarbeit orientiert, um so die Handlungsfähigkeit der EU mit Blick auf ihre Erweiterung zu gewährleisten.
Luxemburgs Ministerpräsident sah sich deshalb vor wenigen Tagen zu dem Eingeständnis gezwungen, dass die Wirtschafts- und
Währungsunion „Europa“ noch nicht „irreversibel“ gemacht habe und der Euro nicht genug Kraft besitze, „uns zur Einstimmigkeit zu
zwingen“. „Es droht die Gefahr“, so Jean-Claude Juncker, „dass die Dinge in Europa aus dem Ruder laufen“.
Vor diesem Hintergrund erhält der Reform- und Verfassungskonvent eine politische Bedeutung, die nicht überschätzt werden kann. Ihm
kommt die strategische Aufgabe zu, das Integrationsfundament der Europäischen Union zukunftsfähig zu gestalten, sie für die
Erweiterung fit zu machen und dazu beizutragen, dass sich die Akzeptanz der Gemeinschaft bei Bürgerinnen und Bürgern europaweit
erhöht. Notwendig ist daher die Demokratisierung der Union an Haupt und Gliedern. Dazu gehört, dass das Europaparlament in allen
EU-Politikbereichen das Mitentscheidungsrecht und die nationalen Parlamente mehr Mitgestaltungs- und Kontrollrechte erhalten. Zur
Disposition steht das Vetorecht zugunsten von Mehrheitsentscheidungen im Rat. Weitere Politikbereiche müssen vergemeinschaftet
werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion sollte durch eine Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltunion ergänzt und neu ausgerichtet
werden, um die soziale Dimension der Gemeinschaft deutlich zu stärken. Die EU-Verträge sind zu vereinfachen und sollten in eine
Verfassung überführt werden, deren Kern die Grundrechtecharta bildet, die dadurch Rechtsverbindlichkeit erhält. Das sind die
wichtigsten Weichenstellungen in Richtung politische Union, die der Konvent im Rahmen eines breiten Dialogs mit der Zivilgesellschaft
vornehmen müsste.
Diese Aufgabe ist jedoch nur zu meistern, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Europäische Union derzeit an einem
Scheideweg steht: Entweder wird der europäische Einigungsprozess durch Integration unumkehrbar gemacht oder die Union bröselt
längerfristig auseinander und Europa läuft wieder Gefahr, dass – wie in vergangenen Jahrhunderten – gegensätzliche nationalstaatliche
Interessen die Oberhand gewinnen.