Der Gipfel von Nizza oder Salade Niçoise nach Ratsherrenart

Die Bilanz von Nizza ist mehr als ernüchternd. Mit ihrem unwürdigen Gezerre um die institutionelle Reform der EU haben die Staats- und
Regierungschefs der europäischen Einigung einen schlechten Dienst erwiesen. Angesichts der historischen Dimension sowohl der
Erweiterung der Union als auch der vor der Gemeinschaft stehenden großen politischen, ökonomischen und sozialen
Herausforderungen waren europäisches Denken sowie Mut und Entscheidungsfreude für eine tiefgreifende Reform der EU gefragt.
Doch Nizza offenbarte, dass die westeuropäischen EU-Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen letztlich nur darum
gefeilscht haben, wie sie Macht, Einfluss und Pfründe sichern können. Demokratie und Bürgernähe blieben dabei ebenso auf der
Strecke wie Transparenz und Entscheidungsfähigkeit. Zwar wurde die für die EU-Erweiterung notwendige Ausweitung von
Mehrheitsentscheidungen im Rat bei einigen Politikfeldern vorgenommen, doch die Hürden für Mehrheiten sind künftig so hoch, dass
eine EU mit 27 Mitgliedstaaten europapolitisch kaum voran kommen dürfte. Bei wichtigen Fragen wie Steuern, Außenhandel,
Strukturfonds und Asyl wollen Großbritannien, Frankreich, Spanien und Deutschland weiterhin jede Veränderung mit ihrem Veto
blockieren können. Das Duo Schröder-Fischer beharrte z. B. auf dem deutschen Vetorecht in puncto Asyl, auch weil man die Vorschläge
der Kommission zu einer Verbesserung der menschenrechtlichen Standards, insbesondere bei der Familienzusammenführung für
Flüchtlinge, der Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention und die Überprüfung der sog. Sicheren Drittstaatenregelung fürchtet. So
weit, so schlecht, doch es kam noch schlechter: Als einzig demokratisch legitimierte Institution ging das Europäische Parlament in
Nizza leer aus: seine Rechte, insbesondere das Mitentscheidungsrecht, wurden nicht ausgebaut. Das ist wahrlich kein Ruhmesblatt für
die Europäischen Ratsherren von Nizza, die in etwa nach dem Motto verfuhren: Demokratische Kontrolle ja, aber nicht bei uns!

Dass in Nizza ein Trauerspiel aufgeführt werden sollte, zeigte sich schon beim ersten Akt. So wurde die vom Konvent erarbeitete
Grundrechtecharta lediglich „feierlich proklamiert“, Rechtsverbindlichkeit und individuelle Einklagbarkeit aber auf die lange Bank
geschoben. Doch damit nicht genug. Ohne viel Aufhebens einigte man sich stattdessen in einem Punkt: dem forcierten Aufbau der
EU-Interventionstruppe. Sie soll schon 2001 einsatzfähig sein. Fest steht also, es wird modernisiert, um- und aufgerüstet, um künftig
„anderthalb Kosovo-Kriege“ als EU allein führen zu können. Der Gipfelsalat Niçoise nach Ratsherrenart wird Europa und seinen
Bürgerinnen und Bürgern noch bitter aufstoßen.