Im Ghetto der Armut

Hans Modrow

Wer sich nicht nur als „All inclusive“-Tourist in einem exotischen Land aufhält, sondern sich umsieht, wird schnell bemerken, dass nicht wenige Projekte im Bereich der Bildung, des Gesundheitswesens oder der Infrastruktur mit Unterstützung der Europäischen Union entstanden sind oder entstehen. Die EU ist der mit Abstand größte internationale Geldgeber für die Entwicklungsländer, ohne diese materielle und finanzielle Hilfe wäre die Not noch größer, als sie ohnehin ist.

Zu einer Reduzierung des Hungers in der Welt haben die Milliarden und Abermilliarden Euro indessen nur partiell beigetragen. Wie Kollege Vitaliano Gemelli von der (christdemokratischen) EVP-Fraktion unlängst in seinem Bericht vor dem Parlament konstatierte, wächst die Armut in der Welt tendenziell: Von den 6 Milliarden Menschen auf der Erde leben 2,8 Milliarden – also fast die Hälfte – von weniger als 2 US-Dollar am Tag und 1,2 Milliarden – ein Fünftel der Weltbevölkerung – sogar von weniger als 1 US-Dollar. Das Durchschnittseinkommen ist in den 20 reichsten Ländern 37 mal höher als in den ärmsten 20, und dieser Abstand hat sich in den letzten 40 Jahren verdoppelt! Während in den reichen Ländern 5 Prozent aller Kinder fehl- oder unterernährt sind, beläuft sich diese Rate in den armen Ländern auf rund 50 Prozent …

Diese schreiende Ungerechtigkeit ist weder gottgewollt noch naturbedingt; sie ist Ursache und Folge eines Ausplünderungsfeldzuges, der in der Kolonialzeit begann und der sich heute in subtilerer Form in Gestalt der Globalisierung und des Neoliberalismus fortsetzt. Der Vorsatz, den Prozentsatz der in extremer Einkommensarmut lebenden Weltbevölkerung bis zum Jahr 2015 zu halbieren, allgemeine Grundschulausbildung zu garantieren, die Säuglings- und Kindersterblichkeit um zwei Drittel zu reduzieren, ist löblich und unterstützenswert. Doch das wird so lange ein frommer Wunschtraum bleiben, wie die Länder des Nordens fortfahren, ihren Reichtum auf Kosten der Entwicklungsländer zu vergrößern, noch die letzten Piaster aus diesen Staaten für die Begleichung der Schulden herauszupressen, die eigenen Märkte gegen die Hauptprodukte aus diesen Regionen abzuschirmen und die Grenzen gegen Armutsflüchtlinge abzuschotten.

In meiner Stellungnahme im Plenum habe ich für eine grundlegende Wende in der Entwicklungspolitik plädiert und die halbherzige und widerspruchsvolle Politik der EU angeprangert. Neben Lob für die Einschätzungen meines Kollegen Gemelli habe ich auch nicht an deutlicher Kritik an seinen Schlussfolgerungen gespart. Und was passierte? Wenige Tage später erhielt ich von Herrn Gemelli einen Brief mit ein paar kurzen persönlichen Zeilen, in denen er sich für meine kritischen Anmerkungen bedankte … Auch das ein Indiz, wie sich die Atmosphäre im Bundestag, wie ich sie kennen lernte, und im Europaparlament unterscheidet.n

Hans Modrow ist Mitglied des Ausschusses für Entwicklung und Zusammenarbeit