Reise durch Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kosovo
„Der Balkan ist ein wichtiger Teil Europas. Wir sind gekommen, um uns vor Ort über die aktuelle Situation zu informieren. Unsere Fraktion stand der Politik der Milos?evic´-Regierung kritisch gegenüber. Wir sind aber auch Gegner des NATO-Krieges gegen Jugoslawien.“ So beschrieb Francis Wurtz, Vorsitzender der GUE/ NGL-Fraktion, den Auftrag der Delegation, die Ende April von Sarajevo nach Belgrad und Pristina reiste und Gespräche mit Ministern, Abgeordneten, Vertretern der UNO und der EU, Bürgermeistern, Journalisten, Gewerkschaftern und NGO führte. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert wurden, sind vielschichtig und nur langfristig lösbar. Es bedarf umfangreicher Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der EU, um Stabilität in dieser Balkanregion zu erreichen. Wichtig scheint mir, dass auch die europäischen Linken ihre Erfahrungen mit Transformationsprozessen in die dortigen Reformdebatten einbringen.
Am meisten berührt haben mich die sozialen Probleme, die sich aus Bürgerkrieg, einem Jahrzehnt gesellschaftlicher Stagnation und bornierter Nationalitätenpolitik, Sanktionen und NATO-Bombardements ergeben haben. Das aktuelle Bild ist geprägt von 50% Arbeitslosigkeit, einem Durchschnittseinkommen von 130 DM, fehlenden sozialen Sicherungssystemen, Hunderttausenden von Flüchtlingen, zerstörten Gebäuden und stillstehenden Betrieben. Internationale Aufbauhilfe wird nach den Mustern der Hilfe für Bosnien-Herzegowina geleistet: Neben humanitärer Hilfe hat die EU u.a. bisher vor allem in Infrastruktur und neue staatliche Institutionen investiert. Wohnungsbau, Schaffung der Voraussetzungen für die Rückkehr der Flüchtlinge, Ankurbelung einer sich selbst tragenden Wirtschaft stehen ganz am Anfang. Die Delegation kann bestätigen, was die Prüfung der Mittelverwendung der Europäischen Wiederaufbauagentur im Herbst 2000 ergab: Die politisch Verantwortlichen und Experten vor Ort realisieren mit Erfahrung, Sachkenntnis und Engagement umfangreiche dringend notwendige Wiederaufbauprojekte. Mit finanzieller Unterstützung der EU leisten die NGO mit großer sozialer Kompetenz und Sensibilität für die komplizierten ethnischen Fragen Bewundernswertes. Ungeachtet dessen schätzt z.B. die Weltbank ein, dass Bosnien-Herzegowina bei kontinuierlicher ausländischer Unterstützung bis 2010 2/3 des ökonomischen Vorkriegsniveaus erreichen könnte. Bereits heute zeichnet sich ab, dass die internationale Hilfe für Bosnien-Herzegowina zugunsten der Unterstützung des Kosovo und der neuen Regierung in Serbien heruntergeschraubt wird.
Ob und wie schnell es gelingt, ökonomische, soziale und politische Stabilität zu erreichen, ist wesentlich von der Bereitschaft zu regionaler Zusammenarbeit und Überwindung nationalistischer Denkmuster abhängig. Auf diesem Gebiet gibt es Defizite bei allen Beteiligten. Die Entstehung multiethnischer Gesellschaften ist zwar ein von allen Gesprächspartnern hervorgehobenes politisches Ziel. Die politische Praxis widerspiegelt jedoch einen gegensätzlichen Trend: Bis heute ist die Gleichstellung der Bürger unabhängig von ihrer Nationalität in Bosnien-Herzegowina keine Realität. Dies ist eines der Hauptthemen der aktuellen Diskussion über die Verfassungsreform und das neue Wahlgesetz. Die neue Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien bereitet ein neues Minderheitengesetz vor. Auf der anderen Seite gibt es keinerlei kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern und Tragödien verfehlter Nationalitätenpolitik der Vergangenheit. Im Kosovo sind heute 90% der Bevölkerung Albaner, 10% Serben und andere. Einer Eskalation des Hasses zwischen Serben und Albanern im Kosovo kann z.Z. nur durch die internationale militärische Präsenz Grenzen gesetzt werden. Unter Bedingungen, wo Serben im Kosovo nur unter militärischem Schutz der KFOR in Enklaven leben können, ist die Rückkehr serbischer Flüchtlinge unrealistisch und auch die wenigen internationalen Projekte auf diesem Gebiet sind schwer zu realisieren. Intoleranz und organisiertes Verbrechen haben sich im Kosovo wesentlich schneller entwickelt als die politischen, ökonomischen und sozialen Stabilisierungsprozesse. Albanerführer Ibrahim Rugova erläuterte uns, dass die Demilitarisierung der UCK zwar weitgehend realisiert wurde. Aber auch die Existenz von Gruppierungen militanter Albaner sei eine Realität. Die Kommunalwahlen im Kosovo hätten jedoch gezeigt, dass diese Gruppierungen in der Bevölkerung wenig Unterstützung fänden. Ein weiteres Problem bestehe darin, dass es in jedem Haushalt im Kosovo ebenso viel Hass gäbe wie Waffen. Wenn im Herbst im Kosovo gewählt wird, wird es zwar formal juristisch Instrumentarien geben, die eine Beteiligung aller Nationalitäten theoretisch ermöglichen (z.B. sollen Flüchtlinge an ihren gegenwärtigen Aufenthaltsorten wählen können). Offensichtlich ist jedoch, dass diese Wahl zwar für die Stabilisierung der Situation innerhalb der albanischen Bevölkerungsgruppe im Kosovo notwendig, für die Entwicklung einer multiethnischen Gesellschaft jedoch kontraproduktiv ist.
Eine der zentralen Fragen der Gespräche in Belgrad war die nach der Zukunft und der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien. Die Politiker in Belgrad halten an der Föderation fest und sind zu weitgehenden Verhandlungen über neue Strukturen und Kompetenzregelungen bereit. Der montenegrinische Präsident Djukanovic´ dagegen hatte bereits im März im Europäischen Parlament für die Unabhängigkeit Montenegros geworben. Die Wahlen in Montenegro verdeutlichten, dass es zumindest keine eindeutigen Mehrheiten für eine derartige Entwicklung gibt. Im Kosovo stehen entgegen allen UNO-Resolutionen die Zeichen auf Unabhängigkeit. „Die Zeit der Bundesrepublik Jugoslawien ist vorbei“, sagte Rugova. „Es ist besser, wenn es viele kleine Staaten gibt, die zusammenarbeiten. Das hat die Geschichte gezeigt.“ Internationale Politik muss sich diesen Realitäten stellen.