ÖPNV vor neuen Aufgaben

Kommunale Verkehrsbetriebe vor dem Aus?

Ein wesentlicher und ebenfalls höchst umstrittener Bestandteil der Liberalisierungsoffensive von Rat, Kommission und Teilen des Parlaments ist der Bereich des öffentlichen Personenverkehrs. Die Kommission hat im Juli vergangenen Jahres den Entwurf einer Verordnung vorgelegt, der ob der Bedeutung des Themas nach mehreren Anhörungen mit Experten, Betreibern und Gewerkschaften im Ausschss für Regionalpolitik, Verkehr und Fremdenverkehr des Europäischen Parlaments ausführlich erörtert wurde und sich noch in der ersten Phase der Lesung des Parlaments befindet. Voraussichtlich im Oktober wird während der Plenarsitzung in Strasbourg der Bericht des niederländischen Sozialisten Erik Meijer aus der GUE/NGL – Fraktion in erster Lesung zur Abstimmung gestellt. In allen Phasen der bisherigen Diskussion wurden sehr kontroverse Meinungen vertreten, was einen für Linke vertretbaren Kompromiss in dieser wichtigen Frage sehr kompliziert macht.

Wie in den Bereichen Post, Schienenverkehr, Telekommunikation, Gas, Wasser und anderen steht die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes und die Öffnung der bisher vorwiegend national und regional organisierten Märkte in diesen Bereichen für private in- und ausländische Firmen im Mittelpunkt. Im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs auf der Schiene, der Straße und auf Binnenschifffahrtswegen besteht die besondere Spezifik im überwiegend regionalen und lokalen Betreiben dieser Dienste, oft noch mittels kommunaler Eigenbetriebe.

Die bisherigen Regelungen des öffentlichen Personenverkehrs unterliegen zumeist der demokratischen Kontrolle der lokalen und regionalen gewählten Vertretungen, welche die Entscheidungen über Umfang, Art und Weise, qualitative Anforderungen usw. treffen. Auf der Grundlage dieser Beschlüsse werden dann die Aufträge zumeist ohne öffentliche Ausschreibung an lokale und regionale Firmen vergeben.

Bisher gibt es weniger als 10 große Firmen in der Europäischen Union, die in mehreren Ländern tätig sind. Hinzu kommt, dass bei der Vielzahl der Betreiber in den zahlreichen Regionen der EU sich natürlich eine große Vielfalt an unterschiedlichen Formen und Traditionen herausgebildet hat, und auch eine ebenso große Vielfalt an sozialen, tarifvertraglichen, umweltpolitischen, Sicherheits- und Ausbildungsanforderungen bestehen.

Nicht zu vergessen ist auch die sichere, risikofreie finanzielle Grundlage, die die Aufträge der öffentlichen Hand für alle Unternehmen bieten und deshalb besonders lukrativ sind.

Die Kommission schlägt nun vor, generell eine Ausschreibungspflicht für alle zu vergebenden Aufträge einzuführen und dafür einheitliche, EU-weite Rahmenbedingungen festzulegen. Damit soll künftig ein Wettbewerb zwischen kleinen, zumeist lokal agierenden Firmen und den wenigen großen, internationalen Anbietern um die lukrativsten Aufträge der öffentlichen Hand geführt werden können. Der sich dann abzeichnende ungleiche Kampf dürfte demjenigen zwischen David und Goliath nicht unähnlich sein, auch wenn natürlich die Marktnähe und -kenntnis der regionalen und lokalen Betreiber David einen kleinen Vorteil verschaffen sollte. Aber schon die Kommunen stehen vor der großen Herausforderung, selbst die Ausschreibung organisieren zu müssen und sich dabei mit erfahrenen, international agierenden und vermögenden Betreibern im Zweifelsfall auch juristisch auseinandersetzen zu müssen. Das Ergebnis wäre in solch einem Fall sicherlich vorauszusehen, da in der Regel der erfahrenere Anwalt den Sieg davonträgt.

Unsere GUE/NGL-Fraktion setzt sich dafür ein, dass die Kommunen und sonstige regionale Entscheidungsträger selbst bestimmen und entscheiden können müssen, ob sie bestimmte Aufträge des öffentlichen Personenverkehrs direkt vergeben oder ein Ausschreibungsverfahren anwenden wollen. Die gewählten örtlichen Vertretungen dürfen nach unserer Meinung nicht ihrer politischen Gestaltungsmöglichkeiten in dieser wichtigen Frage beraubt werden.

In der Diskussion im Parlament wurde mehrfach, darunter auch vom Berichterstatter betont, dass die Kommission nur die allgemeinen Grundsätze für den öffentlichen Personenverkehr regeln sollte, alle Fragen des möglichen Eigenbetriebs, der Zeitdauer von Konzessionen, des Umfangs von Ausgleichszahlungen, der Einbeziehung von Subunternehmen, der Festlegung von arbeits-, sozialrechtlichen und Sicherheitsstandards müssen gemäß der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in den Kommunen entschieden werden.

Bereits heute ist – wie in anderen Bereichen der öffentlichen Tätigkeit, die dem Wettbewerb freigegeben werden, auch – offensichtlich, dass der viel beschworene Wettbewerb vor allem auf sozialem Gebiet bei den Löhnen und sonstigen sozialen Bedingungen geführt wird. Der Unterschied in der Entlohnung zwischen öffentlichen und privaten Betrieben ist erheblich und geht bis zu 20 bis 30 Prozent. Arbeitsbedingungen, Urlaubszeiten und sonstige soziale Regelungen sind häufig die wichtigsten Aspekte der billigeren Preise von privaten Betreibern.

Deshalb fordert die PDS die einheitliche Anwendung von tarifvertraglichen Regelungen, um soziale Mindestnormen zu garantieren. Da die lokalen und regionalen Entscheidungsträger die Auswahl der Betreiber öffentlicher Dienstleitungen treffen, muss es auch in ihrer Hand liegen, auf die Einhaltung derartiger Mindestanforderungen zu achten. Das setzt allerdings voraus, dass ihnen aus Brüssel ein derartiger Entscheidungsspielraum eingeräumt wird.

Bei der Debatte um die juristischen Grundlagen für den Vorschlag der Kommission wurde zu Recht bezweifelt, dass – wie die Kommission ansetzt – der Personenverkehr als gewöhnliche Ware betrachtet werden und mit dieser Begründung den Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes unterworfen werden kann. Der juristische Bezug ist deshalb so wichtig, da die Frage der Daseinsvorsorge nach dem Subsidiaritätsprinzip geregelt ist und den jeweils zuständigen nationalen Behörden die Entscheidungsbefugnis überträgt. An dieser Frage entzündet sich folglich die Diskussion über die Rechtskonformität des vorgeschlagenen Weges zur Marktöffnung des Personenverkehrs, da hiervon auch unmittelbar die Zulässigkeit von Beihilfen für die Betreiber abhängt. Die Problematik der Beihilfen wird gegenwärtig auf Antrag des deutschen Bundesverwaltungsgerichts vom Europäischen Gerichtshof am Beispiel der Beihilfepraxis in Deutschland rechtlich geprüft.

Dokument der Kommission

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Anforderungen des öffentliches Dienstes und der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge für den Personenverkehr auf der Schiene, der Straße und auf Binnenschifffahrtswegen – KOM (2000) 7 – C5-0326/2000-2000 /0212(COD)

Berichtsentwurf im Ausschuss für Regionalpolitik, Verkehr und Fremdenverkehr des EP:

Berichterstatter: Erik Meijer; Dokumentennummer PE 286.664