Eintritt durch die Hintertür
Ein schönes Familienbild stand am Anfang des als historisch angepriesenen Gipfels in Nizza: Auf den Stufen der „Acropolis“, dem Tagungsort des Europäischen Rates, hatten sich die 15 Staats- und Regierungschefs der EU mit ihren künftigen Kollegen aus Mittelosteuropa, den baltischen Staaten sowie der Türkei, Malta und Zypern versammelt. Dieses eine Mal durften die armen Verwandten aus dem anderen Teil des Kontinents durch die Vordertür ins Rampenlicht treten, ansonsten blieb ihnen die Hintertür vorbehalten.
Als „Erweiterungsgipfel“ sollte der Gipfel in die Geschichte eingehen, war vor Tisch zu hören. Die Union sollte fit gemacht werden für die Aufnahme von mindestens einem Dutzend Staaten bis zum Jahr 2010. Eine Strategie für die europäische Integration im 21. Jahrhundert erwarteten Optimisten. Sie wurden eben so enttäuscht wie die Kandidatenländer, deren Probleme auf dem Olymp der Reichen und Mächtigen nur eine marginale Rolle spielten. Die 15 Staatschefs gossen Wasser in den Wein der Europäischen Kommission, die noch einen Monat zuvor in einem Strategiepapier den Abschluss der Verhandlungen mit den ersten Beitrittskandidaten für das Jahr 2002 angepeilt hatte, so dass 2003 die ersten Aufnahmen erfolgen könnten und eine Beteiligung an den Wahlen zum Europaparlament 2004 möglich wäre. Wie es jetzt aussieht, wird der erste Beitritt – als Favorit wird Polen gehandelt – bestenfalls 2004 erfolgen können. Doch das ist keine Verpflichtung, sondern nur eine Option. Die EU will sich hier wie auch in anderen Fragen ein Hintertürchen offen halten. Indem man die Kandidaten weiter im Ungewissen lässt, kann man sie am besten unter Druck setzen. Dass damit Enttäuschung und Vorbehalten in der Bevölkerung der Beitrittsländer wachsen, nimmt man billigend in Kauf.
Die EU der 15 war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie der Osterweiterung, die eine wirkliche historische Herausforderung bedeutet, die gebührende Aufmerksamkeit schenken konnte und wollte. Das Familienbild am Anfang des Gipfel war der erste und letzte Eindruck von Harmonie – in den folgenden Tagen und Nächten herrschte im hermetisch abgeriegelten Tagungsbunker ein knallharter Machtpoker um die Durchsetzung nationaler Interessen. Wie der Erlkönig „erreicht der Vater den Hof mit Müh‘ und Not, doch das Kind in seinen Armen war tot“. Auf dem kleinstdenkbaren Nenner einigte sich der „Reformgipfel“ nach peinlichem Feilschen auf einen Vertrag, der fast alles beim Alten belässt. Die Großen wie Deutschland und Frankreich festigen ihre Position, die Kleineren erhalten einige Bonuspunkte, die künftigen Mitglieder müssen nehmen, was sie kriegen. Das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments ist nicht ausgeweitet worden, das demokratische Defizit in der Union ist nicht ansatzweise angebaut worden.
Das Ergebnis von Nizza wäre möglicherweise noch magerer ausgefallen, wenn nicht gerade die kleineren Länder den Aufstand geprobt hätten. Auf ihr gewachsenes Selbstbewusstsein mussten letztlich die Großmächte Rücksicht nehmen, wenn sie nicht das Scheitern des Gipfels riskieren wollten. Dänemark mit seinem Nein zum Euro hatte erst unlängst gezeigt, dass man nicht gewillt ist, nach der deutsch-französischen Pfeife zu tanzen. Dieses Selbstbewusstsein könnte und sollte für die Beitrittskandidaten eine Ermutigung sein, ihre Probleme, Ansprüche und Interessen stärker zur Geltung zu bringen und nicht demütig vor der Hintertür zu stehen.
Das Positivste, was man über den Gipfel von Nizza sagen kann, ist, dass er die Tür zur Osterweiterung nicht zugeschlagen hat. Sie wird – mit zeitlicher Verzögerung – kommen, doch es wird kein Schritt in Richtung auf Integration gleichberechtigter, souveräner Staaten sein, sondern sie wird als Ausdehnung der Herrschaftszonen des Kapitals konzipiert und gestaltet. Mit einem solchen Herangehen werden die komplizierten Prozesse, die aus der Erweiterung der EU erwachsen, politisch nicht beherrschbar sein. Die Erweiterungslogik muss vom hegemonialen Kopf auf die demokratischen Füße gestellt werden. Hierin liegt die Herausforderung für die Linken im Europäischen Parlament und in den nationalen Parlamenten, für die progressiven Parteien und Bewegungen in ganz Europa.n
Hans Modrow ist Koordinator für Fragen der EU-Erweiterung in der Fraktion der GUE / NGL im Europäischen Parlament