Zum Gespräch des Gemischten parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei mit dem Bürgermeister von Diyarbakir Feridun Celik am 15. März 2001 in Strassburg berichtet die PDS-Europaabgeordnete Feleknas Uca:
Auf Einladung des gemischten Parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei hat der Bürgermeister von Diyarbakir Feridun Celik am 15.
März 2001 in Strassburg über die soziale, wirtschaftliche und politische Lage im Südosten der Türkei gesprochen.
Feridun Celik unterstrich besonders das Flüchtlingsproblem der großen Städte. Während des 15 jährigen Krieges sind mehr als 3000
Dörfer zerstört und tausende Menschen vertrieben worden. Sie flohen in die nächstgelegenen größeren Städte, wo sie heute in
Elendsvierteln leben. Durch den Anstieg der Bevölkerung sind die Städte mit großen Problemen konfrontiert: infrastrukturelle, soziale,
ökologische und wirtschaftliche. Die Suizidrate ist z.B. in den größeren Städte besonders hoch, es gibt Probleme bei der Regelung des
Trinkwassersystems und der Kanalisation. „Mit viel Mut und gutem Willen bin ich überzeugt, dass wir diese Probleme lösen können“,
sagte der Bürgermeister. Dies setzt unter anderem voraus, dass das zentralistisch organisierte Gebietskörperschaftssystem reformiert
wird. Die Bürgermeister sind vollkommen von der Zentralregierung abhängig. Will ein Bürgermeister im Südosten z.B. ins Ausland
reisen, muss er vorher die Genehmigung des Gouverneurs einholen.
Feridun Celik verwies auch auf die Menschenrechtslage in der Türkei. Nach der türkischen Verfassung gibt es keine Rede- und
Meinungsfreiheit, kurdische Radio- und Fernsehsender sind verboten, viele Intellektuelle sind im Gefängnis. In der Türkei verbirgt das
Recht der Opposition eine große Gefahr, denn damit wird der Vorwurf des Separatismus gleichgesetzt. Dies ist nicht wahr, denn viele
wünschen sich die Anerkennung der unterschiedlichen Identitäten ohne die territoriale Integrität der Türkei in Frage zu stellen. Die
Lösung der Probleme kann nur eine demokratische sein. Um weitere Konflikte im inneren des Landes zu vermeiden, muss die
territoriale Einheit gewahrt bleiben und die Menschenrechte müssen geachtet werden. Die Todesstrafe muss abgeschafft werden, der
Ausnahmezustand muss aufgehoben werden, die zerstörten Dörfer müssen wieder aufgebaut und zugänglich gemacht werden. „Dazu
brauchen wir die wirtschaftliche Unterstützung der EU. Ich appelliere an die Europäische Union, in unsere Region zu investieren“, sagte
Feridun Celik.
Bei der Diskussion ergriff Hannes Swoboda (SPE) das Wort, der die HADEP Bürgermeister im Südosten als Ansprechpartner für
Änderungen in der Türkei sieht. Das Europäische Parlament hat schon öfters die schwache konstitutionelle Rolle der Bürgermeister in
der Türkei kritisiert und ganz besonders die Diskriminierung des Südostens bei der Verteilung der Gelder durch die türkische
Regierung. Swoboda fragte, ob die türkische Regierung ein Rückkehrprogramm der Flüchtlinge vorgelegt hat und nach der Wichtigkeit
der kulturellen Anerkennung für die Kurden.
Feridun Celik sprach vom Koy-Kent Projekt der türkischen Regierung, wonach mehrere kleinere Dörfer zu einem großen
zusammengefasst werden sollen. Er befürchtet mit dem Projekt der Regierung ein Zunehmen von sozialen Spannungen. Viele
Rückkehrer haben keine Ausbildung, in den Dörfern haben sie zumeist Landwirtschaft betrieben. „Ich bin dafür, dass die Dörfer wieder
aufgebaut werden, aber so wie sie ursprünglich waren. Europa muss der Türkei helfen, wir brauchen die Solidarität der Europäer“,
sagte Celik. Was die kulturelle Identität betrifft, so Feridun, werden die Kurden nicht anerkannt. Der ehemalige türkische Staatspräsident
Demirel sprach 1991 in einer Rede von der Anerkennung der kulturellen Unterscheide in der Türkei. Aber das waren bloße
Lippenbekenntnisse, die niemals umgesetzt wurden. Es gibt im Bildungssystem keinen Unterricht auf kurdisch. Das seltsame in der
Türkei ist, dass die Bevölkerung das kulturelle Problem schon gelöst hat, während die Politik dieses Problemfeld gar nicht lösen will.
Es fehlt der politische Wille unter den Politikern, dieses Problem anzugehen.
Sarah Ludford (ELDR) fragte, warum es den Mangel der Wasserversorgung gibt, obwohl gerade der Südosten sehr wasserreich ist. Der
Bürgermeister von Diyarbakir antwortete, dass es im Südosten das GAP Projekt der türkischen Regierung gibt. Damit plant die
Regierung den Bau eines riesigen Stausees. Doch das Bewässerungsprogramm läuft nicht auf vollen Touren. Wir bräuchten eine
Agrarreform, damit dieses Projekt von Nutzen sein könnte. Die Wasserquellen können nicht genutzt werden, da kein
Infrastrukturprogramm durchgeführt wird.
Andrew Duff (ELDR) sagte, dass der nationale Plan der türkischen Regierung zur Beitrittspartnerschaft bald veröffentlicht wird. Er wollte
vom Bürgermeister wissen, was die Kurden vom Nationalen Plan erwarten. Feridun Celik erwiderte, dass die Kurden die Anerkennung
ihrer eigenen Identität fordern. In anderen Worten, sie wollen die Erziehung in ihrer eigener Sprache und eigene Medien. In Spanien z.B.
sind drei Sprachen offiziell anerkannt, die auch in den Schulen gelehrt und gelernt werden. Dieses System stärkt Spanien und die EU
muss solche Systeme verstärkt unterstützen.
Ozan Ceyhun (SPE) fragte nach dem Verbleib der beiden verschwundenen HADEP Funktionäre aus Silopi. Der Bürgermeister sagte,
dass niemand weiß wie die Situation ist. Der Innenminister hat erst kürzlich eine Erklärung abgegeben, wobei er betonte, dass die
verschwundenen Hadep Funktionäre aus Silopi wahrscheinlich noch am Leben sind.
Katiforis (SPE) intervenierte, dass laut den türkischen Zeitungen die beiden HADEP Mitglieder in den Händen der PKK seien. Des
weiteren wollte Katiforis wissen, ob es viele Menschen gibt, die an der Armutsgrenze leben.
Der Bürgermeister antwortete, dass die Familienangehörigen der beiden verschwundenen Männer diese Spekulationen der Presse
abgelehnt haben. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen für das Verschwinden der beiden Hadep Funktionäre gefunden und zur
Rechenschaft gezogen werden. Was die wirtschaftliche Armut betrifft, gibt es in Diyarbakir soziale Spannungen. Besonders die
Flüchtlinge leben an der Armutsgrenze, andere hingegen sind reich. Soziale Konflikte zwischen Arm und Reich sind daher
vorprogrammiert.
Feleknas Uca (GUE/NGL) fragte nach der finanziellen Hilfe für die Flüchtlinge und nach dem Newrozfest, das am 21. März gefeiert wird.
Feridun Celik erzählte, dass die Einwohnerzahl in Diyarbakir von 380.000 auf 1.000.000.000 durch den Flüchtlingsstrom gestiegen ist.
Die Bürgermeister in den größeren Städten sind überfordert und die meisten haben keine Budgets. Diyarbakir hat z.B. 10 Millionen
Dollar Schulden. „Die Zuwanderung wurde zu einer echten Katastrophe und wir haben keine finanzielle Hilfe bekommen. Bei Notfällen
können wir helfen und Überlebenshilfe leisten“, sagte Celik.
Im letzten Jahr wurde das Newrozfest zum ersten Mal von den türkischen Behörden genehmigt. Mehr als 300.000 Menschen haben das
Neujahrsfest der Kurden in Diyarbakir gefeiert. Es war eine Friedenbotschaft für die ganze Welt. Dieses Jahr wird das Newrozfest auch
unter dem Motto: Frieden und Brüderlichkeit gefeiert.
Frau Sommer (PPE) sagte, dass die EU der Türkei viele Fördermittel gebe und dass das Europäische Parlament leider nicht auf die
regionale Verteilung der Gelder einwirken kann, denn dies liegt im Einflussbereich der türkischen Regierung. Der türkische Staat muss
die Gelder richtig einsetzten.
Hannes Swodobda warf dem entgegen, dass die Türkei nicht willkürlich über die Gelder bestimmen darf. Die Europäische Kommission
soll aufgefordert werden im Südosten zu kontrollieren und die Europäischen Programme zu überwachen.
Feridun Celik sagte, dass das soziale Gefälle zwischen Ost und Westtürkei verringert werden muss. Dazu braucht der Südosten viele
Investitionen. Eine Stiftung in Schweden hat Geld gesammelt für die Stadt Diyarbakir, aber der Bürgermeister hat das Geld nie
bekommen. Die Türkei wäre der größte Nutznießer, wenn sich die Situation verbessern würde. Die Türkei braucht eine echte
demokratische Struktur.
Cohn Bendit (Grüne und Co-Vorsitzender des Ausschusses EU-Türkei) hat vorgeschlagen, eine Sitzung des gemischten
parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei in Diyarbakir abzuhalten. Cohn-Bendit ist skeptisch, dass die Türkei in fünf Jahren der
Europäischen Union beitreten werde. Wird die Türkei die Kriterien von Kopenhagen erfüllen, so kann sie Mitglied der Europäischen
Union werden. Es gibt keine Diskriminierung der Türkei und auch keine Sonderbehandlung. Mit allen Kandidatenländer hat die
Europäische Union erst dann verhandelt, wenn die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt wurden. Dasselbe muss für die Türkei
gelten. Wir fordern eine Vertretung der Europäischen Kommission in Diyarbakir. Diese soll die europäischen Programme überwachen
und kontrollieren.